Es ist ja nicht das erste Mal, dass Abgeordnete oder Minister vorsätzlich das Recht brechen. Da finden sich jedes Jahr Skandale. Und zwar quer durch die Parteienlandschaft. Auch dir, SwenT, sollte das nicht entgangen sein. Die gestrige Entscheidung in Berlin ist aber mal wieder ein Tiefschlag. Insbesondere weil sie einstimmig geschah.
Der Unterschied ist nur, dass die Sache mit der Berliner Besoldung medial erstmal wenig Aufmerksamkeit generieren wird. Anders als z.B. das Maut-Desaster. Möglicherweise freut sich die Mehrheit der Deutschen sogar, wenn Beamte erstmal nicht das bekommen, was Ihnen durch das Recht zusteht. Da laufen ja seit vielen Jahren schräge Kampagnen... Ich nenne nur mal die unsägliche Debatte über Pensionen und Renten.
Mit der Wahl einer der üblichen Parteien tue ich mich übrigens genauso schwer...
Du hast natürlich Recht, Unterbezahlt, dass dort, wo Politik ist, politische Skandale ebenfalls ihren Platz haben. Aber zugleich ist es so, wie Du schreibst, hier ist zum einen die Einstimmigkeit gegeben, und zum anderen - deutlich schwerwiegender - die Entscheidung vom 04. Mai 2020, die ja anhand zwar der Berliner Richterbesoldung, aber am Ende mit Blick auf die Mindestalimentation auch die Berliner A-Besoldung zum Thema hatte. Dieser Entscheidung liegt nun erst ein Dreivierteljahr zurück. Wenn es nun ein anderes Land oder der Bund gewesen wäre, wäre das rechtsstaatlich betrachtet formal nichts anderes gewesen - aber hier ist es dasselbe Land das formell und materiell praktisch ungebrochen fortfährt, und zwar nachdem vor drei Jahren auch schon das Bundesverwaltungsgericht vielfache Defizite auf den Tisch gebracht hatte. Das Land Berlin wäre jetzt im Sinne unserer bundesdeutschen Verfasungsrealität so eindeutig formell und materiell in einer deutlichen Bringschuld gewesen - und die hat es nicht einmal in Ansätzen erfüllt: und dadurch verändert das Land Berlin die deutsche Verfasungsrealität.
Das ist der für mich zentrale Punkt in der Angelegenheit, weshalb ich am Ende Andreas Voßkuhle zitiert habe, also dass Unrecht erst dann herrsche, „wenn Recht systematisch missachtet oder sein Geltungsanspruch generell in Abrede gestellt“ werden würden, und dass also gerichtliche Entscheidungen auch dann befolgt werden müssten, wenn man sie für unzweckmäßig oder falsch hielte. Das Gesetz ist nicht an ein, zwei Punkten falsch - es ist in vielfacher Hinsicht im Sinne des Willkürbegriffs des Bundesverfassungsgerichts willkürlich: Es erkennt also spätestens in der Bemessung des Grundsicherungsniveaus und der Nettoalimentation praktisch durchgehend nicht mehr die umfassende Judikatur des Bundesverfasungsgerichts und damit nicht mehr die Geltung unserer Verfassung an.
Durch den Gesetzesbeschluss ist es nun also kein exekutives Problem mehr (wie z.B. der sog. Scheuerskandal), auch kein gesellschaftlich-ökonomisches (wie z.B. der sog. Diesel- oder Abgasskandal), sondern ein legislatives: Unrecht wird so zu Recht, und zwar systematisch und vorsätzlich und in den genannten Bereichen praktisch durchgehend. Deshalb habe ich da meine gut 50 Seiten geschrieben: Natürlich geht es mir auch um die Besoldungs- oder Alimentationshöhe - aber vor allem ging es mir darum, dass Unrecht nicht Recht werden darf, weshalb ich den genannten umfangreichen Nachweis tätig (und an einer markanten Stelle versteckt und ohne Textbeleg Orwell das Wort erteile). Das war eigentlich meine Hauptmotivation: als Beamter, der ich mich an meinen Eid gebunden fühle (was nichts mit Berlin, aber viel mit unserer rechtsstaatlichen Gesellschaftsordnung zu tun hat), und als Staatsbürger, der noch die Sätze: "Geh doch rüber" oder "Sie wollen doch eine andere Republik" gut im Ohr habe von Teilen derer, die das schon früher so formulierten, und jetzt übertragen von jenen, denen ich mich von der politischen Vorstellungswelt eher zuordnen würde, sowie am Ende als Geschichts- und Pädagogiklehrer, der vielfach auch Politik unterrichtet und sich also fragt, was soll ich denn meinen Schülerinnen und Schülern von unserem Staatswesen erzählen: Staatsbürgerkunde, verlogene wie in einem zum Glück von seinen Bürgern demontierten und dann untergegangenen Staat - oder die Wahrheit, die ich ihnen vielfach mit Blick auf exekutive Verfehlungen und der Verbändelung von Legislative und Exekutive seit jeher präsentieren konnte, um sie mehr und mehr in unsere gesellschaftliche Realität einzuführen. Aber wie ist ihnen zu vermitteln, dass das Gesetz nicht mehr das Recht ist und dass die horizontale Gewaltenteilung ein schöner Gedanke auf dem Papier ist, weil nun die Exekutive gleich den Job der Judikative gleich mit übernimmt? In eine solche Welt will ich sie nicht entlassen: Denn das hat kein Kind und kein Jugendlicher verdient - wenn wir unseren Kindern schon eine vielfach geschrottete Umwelt und Ökologie hinterlassen, dann sollten wir ihnen zumindest noch den Rechtsstaat bewahren, so viel Intelligenz sollte selbst in meiner Generation noch vorhanden sein, und zwar selbst bei Leuten, deren moralischer Kompass offensichtlich der Kreiselkompass ist und den die - wie die Berliner Großparteien - offensichtlich mit Flaschendrehen verwechseln...
Pardon für diese etwas längeren moralischen Ergüsse, aber ich merke gerade, dass ich offensichtlich doch noch angefasster bin von den gestrigen Ereignissen, als ich das mir selbst gestern eingestehen wollte... Der Verfassungspatriot in mir zerrt an seinen Ketten...