Autor Thema: [Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)  (Read 1487347 times)

Rentenonkel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2805 am: 15.12.2021 13:57 »


Dessen juristische Ursache liegt weitgehend darin begründet, dass das Bundesverfassungsgericht dem Besoldungsgesetzgeber verfassungsrechtlich gestattet, die Besoldung im Hinblick auf seine Verpflichtung, nicht nur den Beamten, sondern auch dessen Familie lebenslang amtsangemessen zu alimentieren, zu differenzieren. Dafür hat es Direktiven erschaffen, die es erlauben, das Maß der noch rechtmäßigen Besoldungsdifferenzierung abzuwägen. Dieses Maß ist die vierköpfige Alleinverdienerfamilie, das also nicht normativ (vom Gesetzgeber) geändert werden könnte, sondern allenfalls direktiv (durch das Bundesverfassungsgericht). Nun leuchtet mir in Deiner Argumentation nicht ein, wieso das Bundesverfassungsgericht das allerdings tun sollte und inwiefern das dann zu einer Systemumkehr führen sollte, da ja in dem, was Du als Beispiele ins Feld führst, gar keine Veränderungen der beamtenrechtlichen Gesetzeslage vorlägen.

Der langen Rede kurzer Sinn: Was genau ist Dein Ziel? Denn "die Grundbesoldung nur noch für bis zu 2 Personen [...] und die Alimentation der Kinder durch die neue Kindergrundsicherung, den neuen Kinderfreibetrag bei der Lohnsteuer, das neue Familiensplitting und eine Anpassung der Familienbezüge für Kind 1 und 2" müsste bedeuten, dass nun die staatlichen Transferleistungen so stark ausgeweitet werden würde, dass nun in Deutschland weitgehend nicht mehr die Familien die Versorgung ihrer Kinder gewährleisten müssten, sondern das er eine Art bedingungsloses Grundeinkommen für Kinder schaffen würde, wodurch dann allerdings keine Familienzuschläge für die ersten beiden Kinder mehr nötig wären. Ich sehe aber nicht, dass das das Ziel der neuen Regierung ist und dass das finanziell irgendwie geschultert werden könnte.

Wenn nun aber die staatlichen Transferleistungen für Familien maßvoll erhöht werden würden - so wie das die neue Regierung offensichtlich vorhat -, dann bedeutete das im Umkehrschluss, dass nicht das Grundgehalt von Beamten verringert werden könnte, sondern dass zunächst einmal die Familienzuschläge deutlich verringert werden könnten und wohl auch müssten (da weiterhin die vierköpfige Alleinverdienerfamilie die direktive Vergleichsgrundlage zur Bemessung der Mindestalimentation bliebe), da ja der Besoldungsgesetzgeber weiterhin zu beachten hätte, "daß bei der Familie mit einem oder zwei Kindern der Kindesunterhalt ganz überwiegend aus den allgemeinen, d. h. 'familienneutralen' und insoweit auch ausreichenden  [...] Gehaltsbestandteilen bestritten werden kann und die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile ergänzend hinzutreten", weil in diesem Fall weiterhin "keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen [bestehen], wenn dieser Betrag [der kinderbezogenen Gehaltsbestandteile] in seiner Höhe erheblich unter den Beträgen bleibt, die von der Rechtsordnung als Regelsätze für Kindesunterhalt als angemessen erachtet und veranschlagt werden" (BVerfG, Beschl. d. Zweiten Senats v. 30.03.1977 - 2 BvR 1039/75 -, v. Rn. 65).

Der langen Rede kurzer Sinn: Dein Einwand beinhaltet weitgehend nicht die normative Perspektive (also die Gesetzgebung), sondern praktisch durchgehend die direktive (also die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts). Diese direktive Perspektive wird durch die von Dir genannte neu geplante Gesetzgebung der Ampelregierung nicht verändert, da die Neuplanung staatlicher Transferleistungen nicht so grundlegend sein dürfte, dass sich das Bundesverfassungsgericht gezwungen sehen sollte, vom Modell der vierköpfigen Alleinverdienerfamilie auf eines der zweiköpfigen Alleinverdienerfamilie umzusatteln. Das dürfte erst dann der Fall sein oder der Fall werden, wenn der Staat - wie oben dargestellt - die familiären Unterhaltslasten für Kinder vollständig übernehmen würde (denn dann wäre diesbezüglich beamtenrechtlich ebenfalls die entsprechende Alimentationsverpflichtung des Diesntherrn durch die allgemeine Transferpolitik des Staates erfüllt), was aber offensichtlich nicht geplant ist. Die von Dir ins Feld geführten staatlichen Transferleistungen, die dazu führen werden, dass ausnahmslos alle Familien in Deutschland (zumindest de jure) von ihr profitieren, indem entsprechend de jure deren Unterhaltslast sinkt, wird zunächst einmal dazu führen müssen, dass die Familienzuschläge abgesenkt werden können (und entsprechend sogar in dem Fall sogar abgesenkt werden müssen, wie man sich in der gewährten Nettoalimentation weitgehend in der Nähe der Mindestalimentation bewegt), da sie ansonsten in ihrer Höhe nicht erheblich unter den Beträgen bleiben, die von der Rechtsordnung als Regelsätze für Kindesunterhalt als angemessen erachtet und veranschlagt werden.

An einer Stelle bin ich ausnahmsweise anderer Meinung: Die Entscheidung, ob es einem Beamten zugemutet werden kann, auch Bestandteile seiner Grundbesoldung zur Deckung des Unterhaltsanspruches Familienangehörigen heranzuziehen, ist aus meiner Sicht eine normative Entscheidung. Das BVerfG geht in seiner Rechtsprechung zu Gunsten der Dienstherren davon aus, dass der Maßstab eine 4K Familie ist. Gegenteiliges wurde seitens der Dienstherren auch bisher nicht behauptet. Es wäre allerdings nach meiner bescheidenen Meinung seitens des Gesetzgebers möglich, diesen Systemwechsel herbei zu führen.

Da diese Diskussion allerdings zu nichts führt, da wir übereinstimmend davon ausgehen, dass auch weiterhin die 4K Alleinverdienerfamilie der Maßstab der Überprüfung durch das BVerfG sein wird, möchte ich die Gedankenspiele darüber an dieser Stelle beenden. Sie werden aller Voraussicht nach sowieso keine Realität. Das habe ich übrigens auch schon in meinem Post davor versucht.  ;)

Der zweite, davon völlig unabhängige und von dem ersten zu trennenden Gedanke ist der, dass, wie du sehr schön beschrieben hast, durch die neue Transferpolitik für alle Familien mit Kindern in Deutschland die eigene Unterhaltslast gegenüber den Kindern gesenkt werden soll. 

Bisher bin ich davon ausgegangen, dass ein Kern der Rechtsprechung der ist, dass der kleinste Beamte mit seiner (Netto-)besoldung nicht amtsangemessen alimentiert wird, da er sogar weniger hat, als ein Grundsicherungsempfänger. Wenn jetzt auch ohne eine Änderung der Landesgesetzgeber durch ein Bundesgesetz bzw. eine bundesweite, neue Transferpolitik diese Nettobesoldung spürbar steigen würde, müsste das "neue" Netto vom BVerfG bei einer erneuten Prüfung berücksichtigt werden und die Differenz (das Delta) zwischen neuer Nettoalimentation und Mindestalimentation würde sinken.

Das würde dann nach meinem Verständnis in letzter Konsequenz bedeuten, dass die Bruttobesoldung für die Zukunft nicht mehr in dem Maße angehoben werden müsste, wie sie noch in dem Urteil angedeutet und für die Vergangenheit berechnet wurde, sondern deutlich moderater, um zukünftig einen verfassungsgemäßen Zustand zu erreichen. Möglicherweise werden die Gesetzgeber auch versuchen, das "neue" Delta nur und alleine durch Anhebung der Familienzuschläge für Kind 1 und 2 auszugleichen. Inwieweit das tatsächlich dann möglich ist, hast Du tatsächlich schon mehrfach und ausführlich beschrieben, aber erst einmal könnte ich mir vorstellen, dass die jeweilige Landesregierung es über diesen Weg zumindest versuchen wird. Eine kampflose, pauschale Erhöhung der Besoldungen aller Beamten erscheint mir zunehmend unwahrscheinlicher.

Etwas weiter gedacht könnten (oder müssten) dann sogar die Familienzuschläge für kinderreiche Familien ab Kind 3 wieder abgesenkt werden.

Ich betrachte mit Sorge, dass viele Beamte hoffnungsschwanger schon Bestellungen für Ihr neues Auto auf den Weg gebracht haben, welches sie mit der dicken Nachzahlung und der künftigen Erhöhung der Besoldung von 15 - 20 % bezahlen möchten, obwohl noch gar nicht eindeutig klar ist, wer, ob und in welcher Höhe Beamte von dem Urteil profitieren.  ;)

Deswegen gebe ich bei aller berechtigten Hoffnung und dem Rückenwind aus Karlsruhe zu bedenken, dass die zu erwartenden Anpassungen vielleicht doch nicht in dem für so viele und von so vielen erhofften Umfang erfolgen könnten. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich das BVerfG auch zukünftig noch mit der Alimentation der Beamten beschäftigen muss und es bis zu einer amtsangemessenen Besoldung noch weiterer Urteile bedarf.

SwenTanortsch

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« Antwort #2806 am: 15.12.2021 16:04 »
Worin wir vollständig einer Meinung sind, ist, dass sowohl (I.) eine andere Besteuerung als auch (II.) das Anheben der Transferleistungen für Unterhaltslasten von Kindern sowie (III.) eine generelle Veränderung der sog. Hartz IV-Gesetzgebung ebenso Veränderungen in der Bemessung der Mindestalimentation mit sich bringen können.

I. Gesamtgesellschaftlich vorgenommene steuerliche Entlastungen führten dazu, dass auch eine Beamter weniger Steuern zahlen muss, sodass entsprechend auch die Bruttobesoldung sinken kann, um so zu einem identischen Alimentationsniveau zu gelangen. Dabei ist allerdings zu beachten, dass Grundsicherungsempfänger keine Steuern zahlen, da das Existenzminimum steuerfrei gestellt ist. Von daher würde sich das bei der Bemessung der Mindestalimentation zu Grund zu legende Grundsicherungsniveau nicht ändern bzw. dürfte der Existenzminimumbetrag tendenziell durch die dann mit hoher Wahrscheinlichkeit höheren Steuerfreibeträge eher steigen (ansonsten blieben Grundsicherungsempfänger von der gesamtgesellschaftlichen Entlastung ausgenommen), woraus folgt, dass am Ende die zu gewährende Nettoalimentation identisch bleiben bzw. von der Tendenz eher steigen müsste. Eine gesamtgesellschaftlich entsprechend vollzogene steuerliche Veränderung hätte von daher mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen substanziell negativen Einfluss auf die Höhe der als absolute Untergrenze zu beachtenden Mindestalimentation.

II. Das Anheben der Transferleistungen für Unterhaltslasten von Kindern müsste en detail betrachtet werden. Denn hier gilt erst einmal dasselbe wie das gerade unter der Nr. I Gesagte. Sofern von den Transferleistungen der Grundsicherung unterworfene Familien nicht unmittelbar betroffen sein sollten, änderte sich nichts an der Bemessung des Grundsicherungsniveau und der Mindestalimentation. Sofern eine staatliche Leistung analog dem Kindergeld gesamtgesellschaftlich - also für alle Kinder, die nicht der Grundsicherung unterworfen sind, einheitlich - eingeführt oder die Kindergeldsätze erhöht werden, dann müsste das alimentativ beachtet werden, analog der direktiven Tatsache, dass nach der steuererlichen Bemessung der Bruttobesoldung zur Berechnung der Mindestalimentation das Kindergeld von der Nettobesoldung abzuziehen ist. Jedoch würde dann gleichfalls wieder gelten, was ich zuletzt mehrfach hervorgehoben habe: Die höhere Transferleistung für Kinder müsste am Ende im Hinblick auf die Unterhaltslasten von Kindern beachtet werden, wenn der Besoldungsgesetzgeber die Familienzuschläge bemisst. Die Familienzuschläge können dann also ggf. geringer ausfallen, was - je näher die gewährte Nettoalimentation an die absolute Untergrenze der Mindestalimentation heranreicht - tendenziell eher dazu führen sollte, dass nichtfamilienbezogene Gehaltsbestandteile nun im Vergleich höher ausfallen sollten. Auch in diesem Fall dürften kaum einschneidende Verringerungen der nichtfamilienbezogenen Bruttobestandteile der Besoldung die Folge eine solchen Entscheidung sein.

III. 1) Ein genereller Umbau des heutigen "Hartz IV"-Systems, den die Ampelkoalition eventuellen in Teilen plant, hat nun wiederum unmittelbaren Einfluss auf die Mindestalimentation. Denn sofern in Deutschland die grundsicherungsrechtlichen Transferleistungen, die einer von dem Sozialsystem abhängigen vierköpfigen Familie zuerkannt werden, sinken sollten, würde das ebenfalls anteilig für die Mindestalimentation gelten. Andererseits soll die geplante Reform offensichtlich nach dem Willen mindestens der SPD und der Grünen eher zum Gegenteil führen, nämlich insbesondere die Transferleistungen von Kindern, die der Grundsicherung unterworfen sind, erhöhen. Sofern sich diese Erhöhung ausschließlich auf die Transferleistung von der Grundsicherung unterworfenen Kindern bezöge, hätte das die unmittelbare Folge, dass dann gleichfalls auch die Mindestalimentation steigen würde, weil das Gesamtvolumen der Leistungen von der Grundsicherung unterworfenen Familien steigen würde, wobei mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit mittelbar ein Teil wiederum in eine kinderbezogene Besoldungsdifferenzierung einbezogen werden könnte. Allerdings sollte auf's Ganze gesehen auch hier eher davon ausgegangen werden, dass das zu einem nicht geringen Teil ebenfalls zu einer Erhöhung von Besoldungsbestandteilen führen müsste, die nicht der kinderbezogenen Differenzierung unterworfen sind. 2) Erst eine generell völlig neue Systematik der Grundsicherung, die als Systemwechsel zu bewerten wäre und also zu einem Ergebnis führte, das wir heute noch nicht kennten, könnte eine weitergehende Neubewertung der Sachlage zur Folge haben. Da wir eine solche Planung aber nicht kennen und da eine solche umfassende Planung nicht von einem Tag auf den anderen käme, würde ich solche Überlegungen genauso wie Du erst einmal nicht anstellen, da sie über das Reich des Spekulativen nicht hinausreichen dürften.

Der langen Rede kurzer Sinn: Innerhalb der heutigen Rechtslage lässt sich zeigen, dass die Nettoalimentation in Teilen der Republik um deutlich mehr als 25 % zu gering bemessen ist; nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht im letzten Jahr für das Land Berlin im Zeitraum zwischen 2009 bis 2015 einen noch deutlich höheren Prozentwert angezeigt. Jene gezeigt gewaltige Unteralimentation ist im Bund und allen Ländern bis 2020 offensichtlich in Teilen verringert worden, jedoch durch die von den Ländern nur im geringen Maß vorgenommene Besoldungserhöhungen in diesem Jahr (sie liegt zumeist bei 1,4 %), die nicht tabellenwirksame Einmalzahlung im nächsten Jahr und die im Hinblick auf die hohe Inflationsrate mindestens bislang nicht ausreichende Besoldungserhöhung Ende des nächsten Jahres wird mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit das Ergebnis sein, dass der positive Trend nun erst einmal wieder gebrochen ist. Das führt nur umso mehr dazu, dass davon auszugehen ist, dass die Besoldung - und darin insbesondere die Grundgehaltssätze - zukünftig (also ab 2023) deutlich steigen muss, um die Alimentation wieder in den amtsangemessenen Bereich zu führen. Schauen wir uns mal Baden-Württemberg an, weil es ganz oben in der Tabelle steht:

Jahr          Besoldungserhöhung          Inflationsrate (Deutschland)
2019               3,2 %                                1,4 %
2020               3,2 %                                0,5 %
2021               1,4 %                                2,9 %

Index            108,0                                 104,9

Die Schätzung der Inflationsrate für 2021 findet sich hier: https://www.inflationsrate.com/#2020-2

Für 2020 war in Baden-Württemberg davon auszugehen, dass die Alimentation um deutlich mehr als 25 % zu gering bemessen worden ist; 2021 sollte sich dieser Wert also bereits wieder deutlich erhöht haben. Für Rheinland-Pfalz hat das VGH die Unteralimentation für das Jahr 2020 unlängst auf 24,3 % beziffert; auch dieser Wert dürfte in diesem Jahr bereits wieder höher liegen (https://www.vbe-hessen.de/aktuelles/aktuelle-news/artikel/gericht-gibt-dbb-hessen-recht-besoldung-von-beamte/). Diese gewaltigen Lücken sind erst einmal zu korrigieren - und dann schauen wir uns an, ob sich zukünftig eine andere Besoldungsgesetzgebung entwickeln sollte, die das heutige Niveau extremer Unteralimentation flugs in einen Born amtsangemessener Alimentation verwandelte - ich für meinen Teil habe doch eher leichte Zweifel, dass dieses Ansinnen im Rahmen unserer Verfassung gelingen mag. Aber vielleicht verstehe ich auch zu wenig von der Materie (Pardon, Rentenonkel, für den am Ende leicht ironischen Duktus, wenn ich mich richtig verstehe, bezieht er sich eher nicht auf Dich).

Rentenonkel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2807 am: 15.12.2021 17:34 »
Vielen Dank für Deine erneute, sehr ausführliche Antwort.

Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass du über sehr detaillierte Kenntnisse verfügst und nicht müde wirst, hier zu allen Fragen Stellung zu beziehen. Mein Wissenstands war bisher in dem Bereich eher gering und dank diesem Forum habe ich mich erst intensiv damit beschäftigt.

In Fragen des Sozialrechts und Steuerrechts sieht das bei mir allerdings etwas anders aus. Dort bin ich deutlich rechtssicherer unterwegs. Daher möchte ich noch meine Gedanken zu Deinen Antworten ausführen, damit zumindest mein Gedankengang nachvollzogen werden kann.

I. Der Gesetzgeber hat mit der Einführung der Grundsicherung eine soziales Mindesteinkommen zur Deckung des Existenzminimums eingeführt. Dieses soziale Existenzminimum darf nicht besteuert werden. Gleichzeitig hat er allerdings die Freibeträge für die Kinder bei Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen bisher nicht oder nur unwesentlich steuerlich berücksichtigt. Der Bundesfinanzhof hat schon vor geraumer Zeit und auch mehrfach entschieden, dass das Existenzminimum nicht besteuert werden darf. Trotzdem kommt es vor, dass ein Alleinverdiener mit vier Kindern (egal ob Beamter oder nicht) von einem Bruttogehalt in Höhe des Hartz IV Niveaus Lohnsteuern zahlt, um dann in die Situation zu geraten, dass er ergänzend Kinderzuschlag oder ähnliches beantragen muss, um wieder auf sein Existenzminimum aufzustocken. Diese Besteuerung geriet zunehmend auch in den Fokus der zuständigen Finanzgerichte. Das steuerliche Existenzminimum, dass nicht besteuert werden darf, hinkt deutlich hinter dem sozialen Regelsatz hinterher. Wenn der Gesetzgeber allerdings ein Existenzminimum im Bereich der Sozialgesetzgebung einführt, darf das steuerliche Existenzminimum nicht dahinter zurück stehen. Daher steht für den Gesetzgeber zu befürchten, dass ohne eine steuerliche Reform demnächst auch hier höchstrichterliche Rechtsprechung drohen, die diese Ungleichbehandlung kippen würden.

Die voraussichtliche steuerliche Änderung dient daher auch der Steuergerechtigkeit und der Vermeidung einer höchstrichterlichen Klatsche. Die Regelsätze werden durch die Neuregelung aller Voraussicht nach nicht tangiert. Die Steuerfreibeträge für die Kinder werden (soweit es bisher durchgesickert ist) wohl nicht angehoben. Es wird nur die bisherige Praxis aufgehoben, die durch die Steuerfreibeträge entstandene Lohnsteuer mit dem Kindergeld zu verrechnen. Stattdessen werden die Steuerfreibeträge nur um die Höhe des Kindergeldes gesenkt, um so eine verfassungsgemäße Besteuerung zu garantieren. Das Existenzminimum muss steuerfrei bleiben. 

Da das Kindergeld auf die Grundsicherung angerechnet wird, würde auch eine Erhöhung des Kindergeldes nicht zu einer Erhöhung des Grundsicherungssatzes führen ... höheres Kindergeld bedeutet lediglich eine Entlastung der örtlichen Kommune, da die weniger Aufstockung zahlen müsste. Üblicherweise wird durch die Erhöhung des Kindergeldes auch der steuerliche Freibetrag angehoben, was nach der Reform noch mehr Netto vom Brutto und damit tendenziell auch noch ein kleineres Delta bedeuten würde.

Soweit ich es daher verstehe, führt die steuerliche Änderung dazu, dass berufstätige Familien mehr Netto erhalten und so zusätzliche Transferleistungen in Form von Grundsicherung, Wohngeld, Kinderzuschlag usw. wegfallen oder zumindest geringer ausfallen würden.

Die Grundsicherungsempfänger gingen daher bei dieser Reform tatsächlich leer aus.

II. Da tatsächlich geplant ist, das Kindergeld nur moderat anzuheben und das "Mehr" in der Geldbörse durch spürbare, steuerliche Entlastung zu realisieren, bleiben sowohl das Grundsicherungsniveau als auch die Mindestalimentation nahezu identisch. Gleichwohl bliebe bei einer 4K Familie mit 2 Kindern von der Besoldung deutlich mehr Netto übrig als vorher und auch im Gegensatz zu einem ledigen Beamten, da für die Besteuerung das Einkommen durch 4 zu teilen wäre. Daher könnten Familienzuschläge geringer ausfallen oder besser: geringer angehoben werden als bisher notwendig. Wenn eine typische 4 K Familie tatsächlich durch die Steuerreform rund 250 EUR netto mehr hätte, wären aus meiner Sicht für eine Erhöhung notwendiger, nichtfamilienbezogener Gehaltsbestandteile weniger Raum als vorher. Ich möchte meinen Gedankengang mal kurz anhand eines Rechenbeispiels aus dem Urteil (Randnummer 154) verdeutlichen:

                                       2013                                       2014                           2015
Grundsicherung              28.292,76 €                           28.821,72 €                29.261,76 €
Mindestalimentation        32.536,67 €                           33.144,98 €                33.651,02 €
Nettoalimentation           23.189,35 €                            23.688,32 €               24.340,09 €
Fehlbetrag
(absolut und in % der
Mindestalimentation)
                                      9.347,32 €
                                      rd. 29 %
                                                                                  9.456,66 €
                                                                                  rd. 29 %
                                                                                                                      9.310,93 €
                                                                                                                      rd. 28 %

Wenn jetzt nach der Steuerreform die Grundsicherung und die Mindestalimenation gleich blieben, das Jahresnetto des Beamten allerdings um 2880 EUR steigen würde und das Kindergeld um weitere 240 EUR, wäre das Delta nicht mehr 9310,93 EUR sondern (wenn ich richtig gerechnet habe) lediglich 6190,93 EUR. Das ist natürlich immer noch erschreckend viel und zeigt deutlichen Handlungsbedarf auf, allerdings wäre das zumindest schon einmal deutlich weniger als bisher.

III. Wie gesagt: Soweit ich das Familiensplitting verstehe ist nicht die Anhebung des Kindergeldes oder anderer Transferleistungen die Stellschraube, an der gedreht werden soll, sondern das Steuerrecht. Für Bezieher von sozialen Transferleistungen gibt es schon eine Grundsicherung für Kinder. Dieser wird mit ALG II an den Kopf der Bedarfsgemeinschaft ausgezahlt. Eine Reform bezieht sich daher auf diejenigen, die derzeit noch keine Grundsicherung erhalten.

Daher gehe ich davon aus, dass mit der geplanten Steuerreform zwar das Grundsicherungsniveau annähernd stabil bleibt, die zu erwartenden Nettobezüge für Familien mit Kindern (und zwar nicht nur für Beamte) spürbar steigen werden und die Gegenfinanzierung in weiten Teilen durch geringere Grundsicherungsleistungen, Wohngeld und Kinderzuschlag erfolgen werden.

So komme ich zum Schluss, dass auch nach der möglichen Reform immer noch ein Delta überbleiben wird, welches allerdings geringer ausfallen wird, als in dem Urteil des BVerfG berechnet wurde.

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2808 am: 15.12.2021 19:25 »
Die Materie ist mitsamt ihren Folgen schwierig, wie Du ja schlüssig darlegst. Insofern kann ich wenig dazu sagen, da ich mich in der Materie deutlich schlechter als Du auskennen werde und mich auch von daher nicht in Spekulationen verlieren möchte. Im Hinblick auf die Gegenwart des Jahres 2021 und die Vergangenheit, ab der je Widerspruch eingelegt worden ist, werden die von Dir gezeigten Veränderungen keine Auswirkungen haben, da die Alimentation die jeweils geltende Rechtslage zu beachten hat. Wie es zukünftig weitergehen wird, sollte sich zeigen. Dabei verkürzen wir alle - meine Person mit eingeschlossen - die Betrachtung vielfach auf die Mindestalimentation, ohne das ausreichend zu beachten, was lotsch heute mittag in seinem Beitrag hervorgehoben hat: nämlich die qualitätssichernde Funktion einer attraktiven Alimentation, die für das Bundesverfassungsgericht eine über die Konsequenzen der eigenen Rechtsprechung für das jeweilige verbeamte Rechtssubjekt hinaus nicht minder wichtige Funktion hat (dazu hatte ich vor ein paar Tagen ein paar Worte geschrieben).

Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht nicht zuletzt in der aktuellen Entscheidung wiederkehrend hervorgehoben, dass diese im Justizwesen des Landes Berlin hinsichtlich von Richtern und Staatsanwälten nicht mehr gegeben ist: Dabei führt es zunächst die grundsätzliche Bedeutung der qualitätssichernden Funktion aus (ebd., Rn. 81), um dann als Gradmesser für die fachliche Qualifikation der eingestellten Richter und Staatsanwälte insbesondere die Ergebnisse in der Ersten und Zweiten Staatsprüfung ins Feld zu führen, wie sie auf der zweiten Prüfungsstufe zu betrachten sind (ebd., Rn. 88). Diesem Kriterium ist die Alimentation im Betrachtungszeitraum nicht gerecht geworden (ebd., Rn. 169 ff.), was nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts nicht nur im Hinblick auf die Mindestalimentation als absolute Alimentationsuntergrenze zu beachten wäre (hier spielt das jeweilige Individualrecht eine Rolle), sondern eben insbesondere im Hinblick auf die nicht mehr hinreichend gegebene Qualitätssicherung zum Schaden des Gemeinwesens, wie es das ab der Rn. 174 konkretisiert: "Das Statistische Bundesamt hat im Ausgangsverfahren eine Auskunft zum Vergleich der Besoldung von Richtern und Staatsanwälten in Berlin mit den Gehältern erteilt, die mit vergleichbarem Qualifikationsniveau in der Privatwirtschaft erzielt worden sind. Danach hatten im Jahr 2006 86 % der vergleichbaren Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft einen höheren Verdienst als ein Berufsanfänger der Besoldungsgruppe R 1; im Jahr 2010 waren es 92 %. Selbst wenn man die Besoldung der Endstufe zugrunde legt, die nach mehr als 20 Berufsjahren erreicht wird, verfügten im Jahr 2006 40 % der vergleichbaren Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft über ein höheres Einkommen; im Jahr 2010 war der Anteil auf 51 % gestiegen. In der Vergleichsgruppe der Angestellten mit juristischen Berufen verdienten 85 % (2006) beziehungsweise 93 % (2010) mehr als ein Berufsanfänger im Bereich der Justiz. In 55 % (2006) beziehungsweise 65 % (2010) der Fälle lag das Einkommen auch über den Bezügen in der Endstufe der Besoldungsgruppe R 1." (ebd., Rn. 174)

Was lässt das Bundesverfassungsgericht damit durchscheinen? Bereits die bei ihm eingegangenen Vorlagebeschlüsse, die es also erst noch zu betrachten haben wird, kommen nicht selten für die Besoldungsordnung A zu noch deutlich erschütternderen Zahlen, was zeigt, dass eine sich an der Mindestalimentation orientierende Betrachtung der Nettoalimentation in der untersten Besoldungsgruppe ggf. gerade noch hinreichend sein sollte, um Individualrechten zu genügen, dass eine solche Betrachtung aber vielfach nur bedingt ausreichen sollte, um die qualitätssichernde Funktion der Alimentation für die Funktionsfähigkeit des Öffentlichen Dienstes zu gewährleisten - und dieses Thema dürfte das Bundesverfassungsgericht in den nächsten Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit mit Blick auf die zunehmende Konkurrenz zwischen Privatwirtschaft und öffentlichem Dienst um die rarer werdenden Fachkräfte noch weiter umtreiben. Und das nur umso mehr, je öfter die Besoldungsgesetzgeber an der Mindestalimentation ausgerichtete "mathematisierende" Bemessungsverfahren praktizieren werden, wie das unlängst Berlin, der Bund, Thüringen, Sachsen, Schleswig-Holstein und Hessen getan haben bzw. unlängst tun.

Was will ich damit sagen? Die von Dir ins Feld geführten Moment führen ggf. dazu, dass die Grundgehaltssätze zukünftig nicht in dem Maße steigen müssen, wie das bislang der Fall sein müsste, um eine amtsangemessene Alimentation individualrechtlich zu gewährleisten; da aber das Alimentationsniveau im Verlauf der letzten über 100 Jahre weitgehend nur eine Richtung kannte und kennt, nämlich die nach unten und die Massivität der Alimentationsabsenkung mittlerweile offensichtlich ein Maß erreicht hat, dass es dem Bundesverfassungsgericht wie auch vielfach den Vorlagegerichten nicht mehr wahrscheinlich erscheinen lässt, dass noch eine hinreichende Qualitätssicherung gegeben ist, dürfte es - wenn die Besoldungsgesetzgeber auch diesbezüglich keine substanziellen Konsequenzen aus der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung ziehen - eventuell auch diesbezüglich deren weiten Entscheidungsspielraum weiter einschränken. Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht im Frühjahr mit seiner entsprechenden Entscheidung zum Klimagesetz zum ersten Mal die Zukunft als eine unter gleichheitsgerechten Gesichtpunkten zu beachtende Kategorie oder Rechtsfigur in seine Rechtsprechung mit eingebunden (BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 24. März 2021- 1 BvR 2656/18 -,  LS 2e und 4). Da aber eine solche auf die Zukunft ausgerichtete Rechtsfigur zu ihrer Gewährleistung substanziell und hinreichend einen funktionsfähigen öffentlichen Dienst braucht (und ihn also nicht ausschließlich zur Bewältigung der anstehenden Gegenwart), müssen die Besoldungsgesetzgeber damit rechnen, dass die qualitätssichernde Funktion der Alimentation demnächst stärker gruppenrechtlich betrachtet werden könnte. Denn sofern der wiederkehrende Appell an die Besoldungsgesetzgeber, die stärker individualrechtlich begründete Verletzung des Alimentationsprinzips zu beenden, weiterhin ungehört verhallt, wäre eine entsprechend weiter ausgeschärfte gruppenrechtliche Begründung des Alimentationsprinzips unter Hinzuziehung der qualitätssichernden Funktion ein weiterer Dorn in deren Fleische. Denn nun träten neben den Art. 33 Abs. 5 GG noch ganz andere Kaliber des Grundgesetzes dem Besoldungsgesetzgeber gegenüber, an die er sicherlich nicht direktiv und unter der Maßgabe seiner prozeduralen Begründungspflichten so erinnert werden wollte, wie es das Bundesverfassungsgericht unlängst in seiner Entscheidung über das Klimagesetz getan hat. Die pwc-Studie "Fachkräftemangel im Öffentlichen Dienst", die von einem entsprechenden Mangel von über 800.000 fehlenden Fachkräften im öffentlichen Dienst des Jahres 2030 ausgeht, wird man in Karlsruhe sicherlich ebenfalls eingehend studiert haben (https://www.pwc.de/de/branchen-und-markte/oeffentlicher-sektor/fachkraeftemangel-im-oeffentlichen-dienst.html). Ob sich die Besoldungsgesetzgeber diesem Studium gleichfalls so befleißigt haben, dürfte nicht selten etwas bezweifelt werden. Denn aus einem primär gruppenrechtlichen (und nicht zuerst individualrechtlichen) Fokus betrachtet, dürfte die Orientierung an einer Mindestalimentation sicherlich eher nicht ausreichen, um die qualitätssichernde Funktion zu gewährleisten - mit der Folge, dass die absolut unterste Grenze einer amtsangemessenen Alimentation nicht das Maß aller Dinge in der Gesetzgebung der Parlamente sein dürfte. Auch dieses Feld bleibt bislang also offen - ob dem so bleibt, wird sich vielleicht ja schon in der kommenden Entscheidung andeuten...
« Last Edit: 15.12.2021 19:33 von SwenTanortsch »

HansGeorg

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« Antwort #2809 am: 15.12.2021 20:05 »
Was ich hier so lese ist wirklich sehr sehr sehr gut und hat mir viel für mein Verständnis in der Sache gebracht. Je mehr ich aber lese, desto mehr zweifle ich auch daran ob ich bis zu meiner Pension (25 Jahre) es noch erleben werde, dass die Besoldung tatsächlich erheblich (zu unseren Gunsten) umstrukturiert wird. Die Frage ist vielleicht, was kann ein einzelner da machen (außer Klagen)? Gibt es Musterbriefe in verständlicher aber auch wirkungsvoller  fachlicher Komplexität, die ich ausgewählten Abgeordneten oder auch der Presse in meinem Namen zukommen lassen kann?

SwenTanortsch

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« Antwort #2810 am: 15.12.2021 23:05 »
Was ich hier so lese ist wirklich sehr sehr sehr gut und hat mir viel für mein Verständnis in der Sache gebracht. Je mehr ich aber lese, desto mehr zweifle ich auch daran ob ich bis zu meiner Pension (25 Jahre) es noch erleben werde, dass die Besoldung tatsächlich erheblich (zu unseren Gunsten) umstrukturiert wird. Die Frage ist vielleicht, was kann ein einzelner da machen (außer Klagen)? Gibt es Musterbriefe in verständlicher aber auch wirkungsvoller  fachlicher Komplexität, die ich ausgewählten Abgeordneten oder auch der Presse in meinem Namen zukommen lassen kann?

Die Briefidee ist schlüssig, jedoch steht der einzelne Abgeordnete in der Regel unter dem Fraktionszwang. Die Briefe und Mails im Hinblick auf die Anpassung der Bundesbesoldung haben in diesem Jahr einige Abgeordnete erreicht, verschiedene haben geantwortet, jedoch ohne dass das irgendetwas gebracht hätte. Zuvor waren in Berlin ausnahmslos alle Abgeordneten über den verfasungwidrigen Gehalt des Gesetzentwurfs informiert worden, was die einstimmige Entscheidung nicht verhindert hat. Auch in Thüringen dürfte es kaum einen Abgeordneten gegeben haben, der nach dem Battis-Gutachten und der Stellungnahme des wissenschaftlichen Diensts den verwirrten Aussagen der Finanziminsterin noch irgendeinen Glauben geschenkt hätte. Die FDP hat als Oppositionspartei in Hessen gerade erst den verfassungswidrigen Gehalt des Gesetzentwurfs kritisiert, um ihm dann umgehend zuzustimmen. Mit den Aufzählen dieser Beispiele, die sich noch deutlich verlängern ließen, will ich nicht sagen, dass das persönliche Gespräche oder eine entsprechende briefliche Aufklärung nicht sinnvoll und angebracht wären. Jedoch ist das aus der Vergangenheit zu befriedigende Defizit und noch viel stärker die zukünftig aufzubringende Alimentationslast so gewaltig, dass die Parole aller Parteien zu sein scheint: "Augen zu und durch". In Anbetracht der Juristendichte unter Abgeordneten sollte heute - spätestens vor einer anstehenden Verabschiedung - kaum noch einer von ihnen nicht wissen, wie die Lage ist.

Es wird von daher weiterhin an den Gerichte liegen und an uns, die wir wie ich auch allesamt höchstwahrscheinlich wenig Lust auf eine Klage verspüren. Eventuell schiebt das Land Thüringen nun das Verfahren auch bundesweit gewaltig an, weil man jetzt den tbb und die Beamtenschaft faktisch dazu zwingt, in hoher Zahl Klagen einzureichen, die allesamt sachlich erfolgreich sein werden, jedoch dabei zu einer massiven Mehrbelastung sowohl der Verwaltungsgerichtsbarkeit als auch des Bundesverfassungsgerichts führen werden, da jede Klage eine individualrechtliche Basis hat.

Bei mir wird's noch rund zehn Jahre bis zur Pension dauern und wir Niedersachsen warten weiterhin seit 2005 auf eine Entscheidung, also in wenigen Tagen im achtzehnten Jahr (Happy Birthday, die niedersächsische Verfassungswidrigkeit wird bald volljährig!). Ich gehe aber davon aus, dass Du nicht genauso lange wie ich und dass ich noch maximal zwei bis drei Jahre werde warten müssen. Vielleicht schon die anstehende Berliner Entscheidung wird weitere konkretisierende Direktiven bringen - und zwar umso wahrscheinlicher, je grotesker und willkürlicher die Besoldungsgesetzgeber nun im Hinblick auf die anstehenden Anpassungsgesetze handeln sollten. Und nach der Berliner Entscheidung werden dann nach und nach die niedersächsischen, Bremer, Hamburger, Hessischen, Saarländischen, sächsischen, Sachsen-Anhaltinischen und Schleswig-Holsteinischen Vorlagebeschlüsse zu entscheiden sein - und es besteht darüber hinaus wohl begründeter Anlass zur Vermutung, dass zu jenen bald auch noch Vorlagebeschlüsse aus den weiteren Ländern hinzukommen werden. Es wird also bei gegebener Fortsetzung der willkürlichen Gesetzgebung auf Dauer fast zwangsläufig dazu kommen, dass das Bundesverfassungsgericht  eine Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG ausspricht, wodurch die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Grundlage der bundesverfassungsgerichtlichen Direktiven rechtskräftige Entscheidungen vollziehen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat seit 2012 den Entscheidungsspielraum der Besoldungsgesetzgeber zunehmend deutlich eingeschränkt, ohne dass jene daraus bislang auch nur in Ansätzen die nötigen Schlüsse gezogen hätten, irgendwann im Verlauf der nächsten zwei, drei Jahre dürfte sie von daher die Vollstreckungsanordnung treffen, so könnte ich mir das vorstellen, wie sie das Bundesverfassungsgericht bereits 1998 hinsichtlich von Beamten mit kinderreicher Familie vollzogen hat, nachdem die Besoldungsgesetzgeber fortgesetzt seit spätestens 1990 die von ihnen zu beachtenden Direktiven missachtet hatten. Danach könnten dann zunächst einmal die (jährlichen) Nachzahlungsansprüche untergerichtlich geklärt werden, was je nach der entsprechenden bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsformel den fortgesetzten Verfassungsbruch für die Dienstherrn unattraktiv machen könnte.

Der Spuk wird irgendwann enden - und es ist zu vermuten, dass er umso früher enden wird, desto willkürlicher die Besoldungsgesetzgeber in den nächsten Wochen handeln werden. Und dass sie nun erst einmal praktisch alle gar nicht (öffentlich) ins Handeln kommen - anders als sonst nach Tarifabschlüssen -, dürfte zeigen, dass alle irgendwie darauf warten, dass nun die anderen endlich zu handeln anfangen. Mehr als zwei Wochen nach dem Tarifabschluss hat sich öffentlich praktisch in noch keinem Land irgendetwas Substanzielles getan:

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2021/

Das war in den Jahren zuvor grundsätzlich anders:

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2019/

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2017/

« Last Edit: 15.12.2021 23:15 von SwenTanortsch »

Prüfer SH

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2811 am: 16.12.2021 06:26 »
Was ich hier so lese ist wirklich sehr sehr sehr gut und hat mir viel für mein Verständnis in der Sache gebracht. Je mehr ich aber lese, desto mehr zweifle ich auch daran ob ich bis zu meiner Pension (25 Jahre) es noch erleben werde, dass die Besoldung tatsächlich erheblich (zu unseren Gunsten) umstrukturiert wird. Die Frage ist vielleicht, was kann ein einzelner da machen (außer Klagen)? Gibt es Musterbriefe in verständlicher aber auch wirkungsvoller  fachlicher Komplexität, die ich ausgewählten Abgeordneten oder auch der Presse in meinem Namen zukommen lassen kann?

Die Briefidee ist schlüssig, jedoch steht der einzelne Abgeordnete in der Regel unter dem Fraktionszwang. Die Briefe und Mails im Hinblick auf die Anpassung der Bundesbesoldung haben in diesem Jahr einige Abgeordnete erreicht, verschiedene haben geantwortet, jedoch ohne dass das irgendetwas gebracht hätte. Zuvor waren in Berlin ausnahmslos alle Abgeordneten über den verfasungwidrigen Gehalt des Gesetzentwurfs informiert worden, was die einstimmige Entscheidung nicht verhindert hat. Auch in Thüringen dürfte es kaum einen Abgeordneten gegeben haben, der nach dem Battis-Gutachten und der Stellungnahme des wissenschaftlichen Diensts den verwirrten Aussagen der Finanziminsterin noch irgendeinen Glauben geschenkt hätte. Die FDP hat als Oppositionspartei in Hessen gerade erst den verfassungswidrigen Gehalt des Gesetzentwurfs kritisiert, um ihm dann umgehend zuzustimmen. Mit den Aufzählen dieser Beispiele, die sich noch deutlich verlängern ließen, will ich nicht sagen, dass das persönliche Gespräche oder eine entsprechende briefliche Aufklärung nicht sinnvoll und angebracht wären. Jedoch ist das aus der Vergangenheit zu befriedigende Defizit und noch viel stärker die zukünftig aufzubringende Alimentationslast so gewaltig, dass die Parole aller Parteien zu sein scheint: "Augen zu und durch". In Anbetracht der Juristendichte unter Abgeordneten sollte heute - spätestens vor einer anstehenden Verabschiedung - kaum noch einer von ihnen nicht wissen, wie die Lage ist.

Es wird von daher weiterhin an den Gerichte liegen und an uns, die wir wie ich auch allesamt höchstwahrscheinlich wenig Lust auf eine Klage verspüren. Eventuell schiebt das Land Thüringen nun das Verfahren auch bundesweit gewaltig an, weil man jetzt den tbb und die Beamtenschaft faktisch dazu zwingt, in hoher Zahl Klagen einzureichen, die allesamt sachlich erfolgreich sein werden, jedoch dabei zu einer massiven Mehrbelastung sowohl der Verwaltungsgerichtsbarkeit als auch des Bundesverfassungsgerichts führen werden, da jede Klage eine individualrechtliche Basis hat.

Bei mir wird's noch rund zehn Jahre bis zur Pension dauern und wir Niedersachsen warten weiterhin seit 2005 auf eine Entscheidung, also in wenigen Tagen im achtzehnten Jahr (Happy Birthday, die niedersächsische Verfassungswidrigkeit wird bald volljährig!). Ich gehe aber davon aus, dass Du nicht genauso lange wie ich und dass ich noch maximal zwei bis drei Jahre werde warten müssen. Vielleicht schon die anstehende Berliner Entscheidung wird weitere konkretisierende Direktiven bringen - und zwar umso wahrscheinlicher, je grotesker und willkürlicher die Besoldungsgesetzgeber nun im Hinblick auf die anstehenden Anpassungsgesetze handeln sollten. Und nach der Berliner Entscheidung werden dann nach und nach die niedersächsischen, Bremer, Hamburger, Hessischen, Saarländischen, sächsischen, Sachsen-Anhaltinischen und Schleswig-Holsteinischen Vorlagebeschlüsse zu entscheiden sein - und es besteht darüber hinaus wohl begründeter Anlass zur Vermutung, dass zu jenen bald auch noch Vorlagebeschlüsse aus den weiteren Ländern hinzukommen werden. Es wird also bei gegebener Fortsetzung der willkürlichen Gesetzgebung auf Dauer fast zwangsläufig dazu kommen, dass das Bundesverfassungsgericht  eine Vollstreckungsanordnung nach § 35 BVerfGG ausspricht, wodurch die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Grundlage der bundesverfassungsgerichtlichen Direktiven rechtskräftige Entscheidungen vollziehen könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat seit 2012 den Entscheidungsspielraum der Besoldungsgesetzgeber zunehmend deutlich eingeschränkt, ohne dass jene daraus bislang auch nur in Ansätzen die nötigen Schlüsse gezogen hätten, irgendwann im Verlauf der nächsten zwei, drei Jahre dürfte sie von daher die Vollstreckungsanordnung treffen, so könnte ich mir das vorstellen, wie sie das Bundesverfassungsgericht bereits 1998 hinsichtlich von Beamten mit kinderreicher Familie vollzogen hat, nachdem die Besoldungsgesetzgeber fortgesetzt seit spätestens 1990 die von ihnen zu beachtenden Direktiven missachtet hatten. Danach könnten dann zunächst einmal die (jährlichen) Nachzahlungsansprüche untergerichtlich geklärt werden, was je nach der entsprechenden bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidungsformel den fortgesetzten Verfassungsbruch für die Dienstherrn unattraktiv machen könnte.

Der Spuk wird irgendwann enden - und es ist zu vermuten, dass er umso früher enden wird, desto willkürlicher die Besoldungsgesetzgeber in den nächsten Wochen handeln werden. Und dass sie nun erst einmal praktisch alle gar nicht (öffentlich) ins Handeln kommen - anders als sonst nach Tarifabschlüssen -, dürfte zeigen, dass alle irgendwie darauf warten, dass nun die anderen endlich zu handeln anfangen. Mehr als zwei Wochen nach dem Tarifabschluss hat sich öffentlich praktisch in noch keinem Land irgendetwas Substanzielles getan:

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2021/

Das war in den Jahren zuvor grundsätzlich anders:

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2019/

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2017/




Und auch die Presse interessiert sich dafür nicht?
Irgendwie muss man ja auf sich aufmerksam machen..

HansGeorg

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2812 am: 16.12.2021 06:48 »
In SH haben die es noch nicht einmal geschafft einen Gesetzesentwurf zur Übernahme des Tarifabschlusses in die letzte Landtagssitzung des Jahres zu bringen. Ich meine der kam ja auch völlig unerwartet (ironie).

Was die Presse betrifft würde ich das auch gerne forcieren, nur glaube ich, dass ohne einen entsprechenden Einstieg sich da keiner rantrauen wird. Es wird etwas geben müssen, mit dem man entsprechende Kontakte kompakt aber Fachlich auf Stand bringen kann. Denn der allgemeine Duktus in den Medien ist ja nicht gerade pro Beamtenbesoldung.

Prüfer SH

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2813 am: 16.12.2021 08:02 »
In SH haben die es noch nicht einmal geschafft einen Gesetzesentwurf zur Übernahme des Tarifabschlusses in die letzte Landtagssitzung des Jahres zu bringen. Ich meine der kam ja auch völlig unerwartet (ironie).

Was die Presse betrifft würde ich das auch gerne forcieren, nur glaube ich, dass ohne einen entsprechenden Einstieg sich da keiner rantrauen wird. Es wird etwas geben müssen, mit dem man entsprechende Kontakte kompakt aber Fachlich auf Stand bringen kann. Denn der allgemeine Duktus in den Medien ist ja nicht gerade pro Beamtenbesoldung.

Wirklich schwach, aber tatsächlich nicht anders zu erwarten, leider.
Mit gestrigem Datum kam ein aktualisierter Erlass hinsichtlich der Neufestsetzung von Sonderzahlungen. Dort wird wieder ein mal zugesichert, dass keine weiteren Widersprüche notwendig sind - und, soweit das Land höchstrichterlich verurteilt wird (Zitat: "Für den Fall einer wider Erwarten erfolgenden rechtskräftigen höchstrichterlichen Verurteilung des Landes") auch für diejenigen Kräfte gelten, die bislang keinen Antrag gestellt haben. Die scheinen sich in diesem Punkt ziemlich sicher zu sein.

Weiter wurde mitgeteilt, dass es, in Bezug auf das von uns behandelte Urteil (2 BvL 6/17), eine Anpassung der Bezüge aller Beamten / Beamtinnen mit drei und mehr Kindern erfolgen wird. Der Gesetzentwurf wurde mittlerweile dem Landtag zur weiteren Beratung vorgelegt (Drs. 19/3428). Mal sehen, wie lange dieses Gesetz, so es denn durchgewunken wird - und davon ist auszugehen - Bestand haben wird.

Manchmal glaube ich auch, dass sich selbst die Gewerkschaften nur oberflächlich mit der Thematik befasst haben. Denn ansonsten hätten diese doch viel mehr auf die Verfassungswidrigkeit der gesamten Alimentation - und nicht nur für kinderreiche Beamte / Beamtinnen hinweisen müssen?

Schade finde ich auch, dass seitens der Gewerkschaften keine Bemühungen in Sachen "juristischer Beratung" angestrebt werden (natürlich nur über entsprechend spezialisierte Anwälte).

So wie es beispielsweise im Rahmen der rechtswidrigen Beitragserhöhungen der privaten Krankenversicherungen geschehen ist - übrigens im Auftrag des Bezirksverbandes Rheinland. Dieser hat eine spezialisierte Kanzlei mit der Erstellung eines Gutachtens hierzu beauftragt.

Meiner Meinung nach müssen wir irgendwie die Presse zwecks investigativer Berichterstattung ins Boot holen.
Je mehr Druck erzeugt werden kann, desto besser.

Pascal121

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2814 am: 16.12.2021 09:45 »
...Für Rheinland-Pfalz hat das VGH die Unteralimentation für das Jahr 2020 unlängst auf 24,3 % beziffert; auch dieser Wert dürfte in diesem Jahr bereits wieder höher liegen (https://www.vbe-hessen.de/aktuelles/aktuelle-news/artikel/gericht-gibt-dbb-hessen-recht-besoldung-von-beamte/). ...

Rheinland-Pfalz schreiben, Hessen verlinken? ^^
Oder habe ich das nicht richtig gelesen? Da ich in RLP bin, achte ich da eigentlich immer drauf, nicht dass mir Geld / Ansprüche verloren gehen, sobald ich mal verbeamtet bin :) ...

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2815 am: 16.12.2021 10:57 »
...Für Rheinland-Pfalz hat das VGH die Unteralimentation für das Jahr 2020 unlängst auf 24,3 % beziffert; auch dieser Wert dürfte in diesem Jahr bereits wieder höher liegen (https://www.vbe-hessen.de/aktuelles/aktuelle-news/artikel/gericht-gibt-dbb-hessen-recht-besoldung-von-beamte/). ...

Rheinland-Pfalz schreiben, Hessen verlinken? ^^
Oder habe ich das nicht richtig gelesen? Da ich in RLP bin, achte ich da eigentlich immer drauf, nicht dass mir Geld / Ansprüche verloren gehen, sobald ich mal verbeamtet bin :) ...

... das stimmt, ich habe mich da vertippt, vielleicht weil ich selbst mal rheinland-pfälzischer Landesbeamter gewesen bin: In Rheinland-Pfalz ist die Unteralimentation 2020 offensichtlich nicht ganz so stark ausgefallen wie in Hessen - allerdings liegt auch dort die Alimentation der unteren Besoldungsgruppen noch unterhalb des Grundsicherungsniveaus, wird also die Mindestalimentation um mehr als 15 % unterschritten.

Rentenonkel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2816 am: 16.12.2021 11:23 »
Der Spuk wird irgendwann enden - und es ist zu vermuten, dass er umso früher enden wird, desto willkürlicher die Besoldungsgesetzgeber in den nächsten Wochen handeln werden. Und dass sie nun erst einmal praktisch alle gar nicht (öffentlich) ins Handeln kommen - anders als sonst nach Tarifabschlüssen -, dürfte zeigen, dass alle irgendwie darauf warten, dass nun die anderen endlich zu handeln anfangen. Mehr als zwei Wochen nach dem Tarifabschluss hat sich öffentlich praktisch in noch keinem Land irgendetwas Substanzielles getan:

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2021/

Das war in den Jahren zuvor grundsätzlich anders:

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2019/

https://oeffentlicher-dienst.info/beamte/land/tr/2017/

Der Grund des Nichthandelns dürfte aus meiner Sicht ein anderer sein. Der Finanzminister NRW Lienenkämper hat in der Anhörung des Haushaltsausschusses zum Haushalt 2022 auf die Frage der Auswirkungen des Urteils 2 BvL 4/18 auf die Besoldung und damit auf den Haushalt sinngemäß wie folgt geantwortet.

Die Auswertung des Urteils ist noch nicht abgeschlossen. Er geht jedoch davon aus, dass ein Gesetzesentwurf im Frühjahr vor der Landtagswahl eingebracht wird. Soweit man zum Ergebnis kommen sollte, dass Besoldungen nachzuzahlen wären, rechne man nicht mit nennenswerten Nachzahlungen für die Zeit bis 31.12.2021, da die meisten Ansprüche dann schon verjährt sein werden. Die ggf. laufenden Erhöhungen sollen dagegen grundsätzlich aus dem laufenden Haushalt gedeckt werden. Zu der Höhe könnte man derzeit aber noch nichts genaues sagen.

Es drängt sich mir eher der Verdacht auf, dass nicht nur das Land NRW auf Zeit spielt, um möglichst viele Ansprüche verjähren zu lassen, sondern das diese Verfahrensweise überparteilicher und länderübergreifender Konsens ist.

Daher würde ich jedem mitlesenden Beamten derzeit nur raten, noch dieses Jahr (und ggf. auch in den Folgejahren) zur Wahrung seiner Ansprüche einen entsprechenden Antrag bzw. Widerspruch beim Dienstherrn einzulegen. Entsprechende Muster sind hier schon mehrfach verlinkt worden; auch die Gewerkschaften und der DBB stellen entsprechende Muster zur Verfügung.

Prüfer SH

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2817 am: 16.12.2021 11:47 »
Hat sich zufällig schon mal jemand mit dem Gesetzentwurf aus Schleswig-Holstein befasst?

http://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/drucks/03400/drucksache-19-03428.pdf

Meiner Meinung nach wimmelt es dort von groben Fehlern. Insbesondere die Begründungen ab Seite 40 empfinde ich als völlig realitätsfern. Das tut schon beim Lesen weh.

Kleines Beispiel:

[...] Diese Differenzierung ist auch deshalb geboten, um kaum mehr zu vermittelnde Verwerfungen innerhalb des Besoldungssystems insgesamt, aber auch im Verhältnis zu den Tarifbeschäftigten zu vermeiden. Denn außerhalb des beamtenrechtlichen Besoldungsrechts spielt die jeweilige Familiensituation für die Bezahlung überhaupt keine Rolle. Wie weiter oben unter Ziffer 1 ausgeführt, ist der nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts notwendige Korrekturbedarf bei der Alimentation von Beamtinnen und Beamten mit Familie und Kindern erheblich, obwohl schon nach gegenwärtigem Recht über die Familienzuschläge Gehaltskomponenten beträchtlichen Umfangs gewährt werden, die es wie gesagt außerhalb des Beamten-rechts nicht gibt. Ein Ausgleich des Fehlbetrags in der Alimentation nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts muss zwangsläufig zu Spannungen inner-halb der Beamtenschaft insgesamt als auch insbesondere im Verhältnis zu den Tarif-beschäftigten führen, weil die Höhe der Zuschläge, deren einziges Anknüpfungsmerkmal das Vorhandensein von Kindern ist, schwerlich zu vermitteln ist. Denn außerhalb des Beamtenrechts wird die persönliche Entscheidung für Kinder und die da-mit einhergehenden finanziellen Belastungen dem Bereich der Privatsphäre zugeordnet. [...]

Das kann doch kaum ernst gemeint sein? Für Beamte gelten nun mal andere Regeln als für normale Arbeitnehmer, welche nicht durch ein besonderes Dienst- und Treueverhältnis dem Staat gegenüber verpflichtet sind. Auch das wurde hier ja bereits erläutert. Diese Anmerkung für die Begründung mit heranzuziehen finde ich abenteuerlich.

Darüber hinaus geht es permanent nur um Kosten, Kosten, Kosten.
Dieser Durchfall von "Gesetz" dürfte doch in Rekordzeit wieder einkassiert werden, oder wie seht Ihr das?

Bastel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2818 am: 16.12.2021 11:53 »
Eventuell sollten die einfach mal anfangen ihre TBler anständig zu bezahlen. Dann gibt es auch keine Spannungen.

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2819 am: 16.12.2021 12:05 »
Hat sich zufällig schon mal jemand mit dem Gesetzentwurf aus Schleswig-Holstein befasst?

http://www.landtag.ltsh.de/infothek/wahl19/drucks/03400/drucksache-19-03428.pdf

Meiner Meinung nach wimmelt es dort von groben Fehlern. Insbesondere die Begründungen ab Seite 40 empfinde ich als völlig realitätsfern. Das tut schon beim Lesen weh.

Kleines Beispiel:

[...] Diese Differenzierung ist auch deshalb geboten, um kaum mehr zu vermittelnde Verwerfungen innerhalb des Besoldungssystems insgesamt, aber auch im Verhältnis zu den Tarifbeschäftigten zu vermeiden. Denn außerhalb des beamtenrechtlichen Besoldungsrechts spielt die jeweilige Familiensituation für die Bezahlung überhaupt keine Rolle. Wie weiter oben unter Ziffer 1 ausgeführt, ist der nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts notwendige Korrekturbedarf bei der Alimentation von Beamtinnen und Beamten mit Familie und Kindern erheblich, obwohl schon nach gegenwärtigem Recht über die Familienzuschläge Gehaltskomponenten beträchtlichen Umfangs gewährt werden, die es wie gesagt außerhalb des Beamten-rechts nicht gibt. Ein Ausgleich des Fehlbetrags in der Alimentation nach den Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts muss zwangsläufig zu Spannungen inner-halb der Beamtenschaft insgesamt als auch insbesondere im Verhältnis zu den Tarif-beschäftigten führen, weil die Höhe der Zuschläge, deren einziges Anknüpfungsmerkmal das Vorhandensein von Kindern ist, schwerlich zu vermitteln ist. Denn außerhalb des Beamtenrechts wird die persönliche Entscheidung für Kinder und die da-mit einhergehenden finanziellen Belastungen dem Bereich der Privatsphäre zugeordnet. [...]

Das kann doch kaum ernst gemeint sein? Für Beamte gelten nun mal andere Regeln als für normale Arbeitnehmer, welche nicht durch ein besonderes Dienst- und Treueverhältnis dem Staat gegenüber verpflichtet sind. Auch das wurde hier ja bereits erläutert. Diese Anmerkung für die Begründung mit heranzuziehen finde ich abenteuerlich.

Darüber hinaus geht es permanent nur um Kosten, Kosten, Kosten.
Dieser Durchfall von "Gesetz" dürfte doch in Rekordzeit wieder einkassiert werden, oder wie seht Ihr das?

Der Gesetzentwurf war der tiefere Anlass, weshalb ich in den letzten Tagen recht lange Ausführungen zum "Familienmodell" geschrieben habe. Wie schon gesagt, der Gesetzenwurf kommt seinen Prozeduralisierungspflichten im Hinblick auf den angestrebten Systemwechsel nicht nach und ist darüber hinaus - genauso, wie Du das schreibst - auch in vielfach weiterer Hinsicht fehlerhaft. All das kann keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht haben, was auch den Beamten im Finanzministerium sowie den verantwortlichen Politikern bewusst sein muss. Da wir diese groteske Form eines Gesetzgebungsverfahrens aber zuvor schon in Berlin, im Bund, in Thüringen und in Hessen erlebt haben und sie weiterhin derzeit entsprechend in Sachsen erleben, wäre es fast schon verwunderlich, wenn man in Schleswig-Holstein anders handelte - wobei eben Schleswig-Holstein nun den "Systemwechsel" probt, und zwar kurze Zeit, nachdem ihm vom OVG Schlewsig-Holstein das seit spätestens 2007 evident sachwidrige Handeln vor Augen geführt worden ist.

Es wäre mittlerweile fast schon erstaunlich, wenn nun eines der anderen Länder versuchen wollte, die Direktiven des Bundesverfassungsgericht sachgerecht in eine Gesetzesvorlage zu überführen.