Autor Thema: [Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)  (Read 1525922 times)

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3705 am: 01.09.2022 08:12 »
Sowas gab es nicht.

Es gab jedoch das Rundschreiben 210614_D3 des BMI vom 14. Juni 2021:

"Angesichts der ausstehenden Anpassung des Bundesbesoldungsgesetzes an die Maßstäbe des BVerfG ab dem Jahr 2021 verzichtet der Bund gegenüber allen Besoldungs- und Versorgungsberechtigten des Bundes auf das Erfordernis einer haushaltsjahrnahen Geltendmachung wie auch auf die Erhebung der Einrede der Verjährung ab diesem Jahr. Widersprüche gegen die Höhe der Besoldung oder Versorgung sind also ab dem Jahr 2021 nicht mehr erforderlich.[...]"

Doch Papier ist geduldig und damit der Dienstherr bemerkt, dass man mit der Höhe seiner Alimentation nicht einverstanden, sollten mehr und mehr Beamten und Beamtinnen Widerspruch einlegen.

In Hamburg haben wir die Erfahrung gemacht, dass der Besoldungsgeber eine ähnliche Zusage gemacht hat und dann viele Jahre später argumentieren wollte, dass seine damalige Zusage nur für das damals aktuelle Besoldungsgesetz gegolten haben soll - seit der nächsten Anpassung also nicht mehr.

Daher halte ich es mittlerweile für fahrlässig, den Besoldungsgebern bei solchen Aussagen zu trauen. Ziemlich schlimm eigentlich, dass dieses Vertrauen nicht mehr da sein kann.

Es ist leider genauso, wie Du schreibst und Dogmatikus gerade ebenso hervorhebt. Der Senat hat 2012 den Eindruck vermittelt, als bräuchte es keiner Widersprüche, bis es zu einer abschließenden Gerichtsentscheidung kommen würde. Nachdem das VG Hamburg im September 2020 seine Vorlagebeschlüsse gefasst und das ebenso in Hamburg eklatante Maß der Unteralimentation für den Zeitraum 2012 bis 2019 festgestellt hat, hat der Senat hervorgehoben, die damalige Zusage habe sich nur auf das zu jener Zeit geltende Besoldungsgesetz bezogen, sodass es keine weiteren Zusagen für alle die gegeben hätte, die keinen Widerspruch eingelegt hätten. Darüber hinaus erfolgte dann 2021 die Anweisung, die vorliegegenden Widersprüche als sachlich unbegründet zu bescheiden und damit die Hamburger Widerspruchsführer zur Klageerhebung zu zwingen, sofern sie ihre Ansprüche aufrechterhalten wollten. Im aktuellen Gesetzgebungsverfahren gibt der Senat nun zu, dass die Mindestalimentation derzeit nicht erreicht werde - und vertagt ein Gesetzgebungsverfahren zur Behebung des verfassungswidrigen Zustands auf die Zukunft.

Wer seinem Dienstherrn hinsichtlich seiner Besoldung vertraut und sich zur Aufrechterhaltung seiner Ansprüche nicht mit den entsprechenden Rechtsbehelfen absichert - dies besser eher einmal zu viel als zu wenig -, der wird ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit dereinst so kennenlernen, wie er ihn bereits kennte: als widerkehrend willentlichen und wissentlichen Verfassungsbrecher, der davon nicht in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft lassen konnte.

Malkav

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3706 am: 01.09.2022 09:05 »
Hinsichtlich der Rückwirkung dürfte es in SH auch spannend werden, welche Rechtsqualität die Gerichte den jährlichen Erlassen des hiesigen Finanzministeriums zum Themenkomplex Sonderzahlung/Weihnachtsgeld seit 2008 zumessen:

https://transparenz.schleswig-holstein.de/dataset/c3905f1b-b442-4dfb-aa86-b3a3d41c8d7c/resource/0079fc96-12e9-420d-a77b-08b95c4957ba/download/erlass-sonderzahlung-20196277731231957290091.pdf

"Für den Fall einer wider Erwarten erfolgenden rechtskräftigen höchstrichterlichen Verurteilung des Landes sollte nach Auffassung der Landesregierung der Gleichbehandlungsgrundsatz auch für diejenigen Kräfte, die bisher keinen Antrag [auf Gewährung der Sonderzahlung der Sonderzahlung in alter Höhe] gestellt haben, gelten. Zum Umsetzung würde ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren auf den Weg gebracht werden."

Politisch dürfte sich keine zukünfitgte Regierungspartei rausreden können, da seit 2008 CDU/SPD/Grüne/FDP und SSW jeweils Teil einer Regierungskoalition waren, welche diese Erlasspraxis jährlich fortgeführt hat. Trotzdem gehe ich jede Wette ein, dass aus dem FM eine Aussage wie: "Besoldungsgesetzgeber ist ausschließlich der Landtag, welcher aufgrund der aktuellen Haushaltslage, seiner gesamtstaatlichen Verantwortung und den Verpflichtungen zur Einhaltung der Schuldenbremse dem angekündigten und vorgelegten Gesetzesentwurf der Landesregierung zur rückwirkenden Zahlung der Jahressonderszahlung nebst Zinsen leider [,leider, leider und vollkommen ohne Absprachen in Hinterzimmern] die Zustimmung verweigerte." kommen wird.  >:(

Entweder nimmt das Verwaltungsgericht die jeweiligen Landesregierungen beim Wort und legen den Erlass als Verzicht auf eine haushaltsnahe Geltendmachung aus, oder ... ja was eigentlich? Mal wieder hätte der-/diejenige Pech gehabt, welcher seinem Dienstherren weiter vertraut, als man gucken kann.

Von einer Amtsangemessenen Alimentation will ich gar nicht erst anfagen nach dem hiesigen Quatsch mit der Einführung des Beamten-Hartz IV inkl. Abschaffung des Abstandsgebotes.

HansGeorg

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3707 am: 01.09.2022 09:41 »
In SH weiß ich aus eigener Recherche und Erfahrung: Es gibt eine Weisung, jemanden der einen Widerspruch gegen nicht verfassungsgemäße Alimentation einlegen will, mit dem Verweis auf den jährlichen Erlass abzuspeisen. Obwohl dieser wissentlich nichts damit zu tun hat und nur für die Sonderzahlung gilt.

Finanzer

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3708 am: 01.09.2022 09:50 »
Welchen Grund sollte man eigentlich haben, nicht jährlich Widerspruch einzulegen, um absolut sicherzugehen, dass man am Ende nicht mit einer juristischen Wendung um die Nachzahlung gebracht wird? Sparen von 3,35 € für das Porto? Scheint mir eine schlechte Kosten-Nutzen-Analyse zu sein.

Ich habe ebenfalls auf meinen ersten Widerspruch einen Schrieb bekommen, ich solle doch bitte in den Folgejahren auf einen Widerspruch verzichten, da das eine große Arbeitsbelastung für die Besoldungsstelle sei und man von sich aus auf die jährliche Geltendmachung verzichte.

Man sieht ja aber tlw. in anderen Bundesländern, wie solche Aussagen dann auf einmal nichts mehr wert sind. Die hohe Arbeitsbelastung der Sachbearbeiter tut mir natürlich Leid. Hoffentlich legen die auch Widerspruch ein, dann werden sie wenigstens für ihre Belastung irgendwann angemessen alimentiert und würden dann irgendwann auch weniger Widersprüche bearbeiten müssen. :)

Die Frage stelle ich mir auch jedes mal. Bisher konnte mir niemand eine gute Antwort geben.
Im Bekannten und Kollegenkreis ab und zu ein bisschen rumgeheule, das man ja noch nicht BAL oder RAL sei, das wars aber.

smiteme

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3709 am: 01.09.2022 17:35 »
Wie ist denn das in NRW mit der alimenation?

Ist diese denn nun mit der Anpassung der Familienzuschläge Verfassungskonform?

Hat hier jemand die Berechnung verstanden und könnte sie mir erklären? Ich habe mal versucht auf die regionalen Zuschläge zu kommen,,, bin aber daran gescheitert  :'(

Ich würde gerne wissen wie man bei der Mietstufe 1 mit zwei Kindern auf 227,55 Euro kommt.

Weiss einer warum der Fam. Zuschlag für die ersten beiden Kinder mit einem "Mietspiegel" verknüpft würde, aber ab dem dritten Kind diese Verknüpfung nicht gemacht wurde?

Bilde ich mir das nur ein, oder wären hier Familien mit ein bzw. Zwei Kindern benachteiligt?

Wie ist hier so die Meinung dazu?


« Last Edit: 01.09.2022 17:49 von smiteme »

emdy

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3710 am: 01.09.2022 18:12 »
Die Meinung ist, dass kinderlose Arbeitsdrohnen brutal benachteiligt werden und NRW bestenfalls den Beschluss 2 BvL 6/17 zur Alimentation kinderreicher Beamten umsetzt, nicht aber den hier diskutierten Beschluss 2 BvL 4/18, der sich mit der Amtsangemessenheit der Besoldung befasst. Studien zur Armutsgefährdung zeigen regelmäßig, dass insbesondere Einpersonenhaushalte davon betroffen sind.

Das alles um weiterhin weite Teile der Beamtenschaft um eine verfassungskonforme Besoldung zu bringen und so Haushaltsmittel einzusparen. Es sei auch noch mal auf die fehlende Ruhegehaltsfähigkeit der Bezüge hingewiesen. So werden auch Empfänger der Zuschläge um ihre verfassungsmäßigen Ansprüche gebracht.

Dass das Ganze schwer bis gar nicht nachvollziehbar ist, zeigt auf, dass die sogenannte Prozeduralisierung des Gesetzes unzureichend vollzogen ist, was für sich genommen bereits verfassungswidrig ist.

Rentenonkel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3711 am: 01.09.2022 20:22 »
Wie ist denn das in NRW mit der alimenation?

Ist diese denn nun mit der Anpassung der Familienzuschläge Verfassungskonform?

Hat hier jemand die Berechnung verstanden und könnte sie mir erklären? Ich habe mal versucht auf die regionalen Zuschläge zu kommen,,, bin aber daran gescheitert  :'(

Ich würde gerne wissen wie man bei der Mietstufe 1 mit zwei Kindern auf 227,55 Euro kommt.

Weiss einer warum der Fam. Zuschlag für die ersten beiden Kinder mit einem "Mietspiegel" verknüpft würde, aber ab dem dritten Kind diese Verknüpfung nicht gemacht wurde?

Bilde ich mir das nur ein, oder wären hier Familien mit ein bzw. Zwei Kindern benachteiligt?

Wie ist hier so die Meinung dazu?

Ich versuche es mal, nicht ganz so juristisch genau zu erklären: Grundsätzlich ist der Dienstherr dazu verpflichtet, seine Beamten amtsangemessen zu besolden. Zu der amtsangemessenen Besoldung gehört nicht nur die Alimentation des Beamten selbst sondern auch seiner Familienangehörigen. Dabei geht der Gesetzgeber grundsätzlich von einem 4 Personen Haushalt aus. Das bedeutet, dass es dem Beamten ohne wesentliche Zuschläge möglich sein muss, eine 4 köpfige Familie zu ernähren.

Dabei muss auch der kleinste Beamte mindestens 15 Prozent mehr haben als ein ALG II Empfänger. Das BVerfG hat nunmehr festgestellt, dass dieser kleinste Beamte massiv unteralimentiert ist und somit sogar weniger hat als ein ALG II Bezieher. In der Begründung des Gesetzgebers wurde argumentiert, dass der Beamte neben der Besoldung auch noch Wohngeld beantragen könnte. Der Verweis auf andere Sozialleistungsträger ist allerdings aus Sicht des BVerfG mit Ausnahme des Kindergeldes unzulässig. Das Gericht hat gesagt, dass es dem Gesetzgeber unbenommen sei, eine nach dem Wohnort differenzierte Alimentation zu gewähren. Er müsse dann jedoch diese unterschiedliche Besoldung gut begründen und auch das 115 % Ziel immer mindestens einhalten.

Der Mietzuschuss richtet sich wiederum an der Mietstufe des Wohnortes und der Anzahl der Familienmitglieder. Daher versucht man quasi, mit dem regionalen Ergänzungszuschlag einen Mietzuschuss für Beamte einzuführen und so eine Alimentation zu erreichen, die möglichst centgenau gerade noch die 115 % ALG II Grenze knackt und somit nicht per se offensichtlich verfassungswidrig zu sein scheint. Die 227,55 Euro ist also die Differenz zwischen der bisherigen (Netto) Besoldung unserer kleinsten Beamten zu 115 % des ALG II Niveaus einer vierköpfige Familie in einem Wohnort der Mietstufe 1.

Ab dem dritten Kind gibt es ja schon ohnehin einen höheren Familienzuschlag, in dem ohne Berücksichtigung des Wohnortes der komplette Bedarf des Kindes gedeckt werden soll. Ob das für Kinder in allen Mietstufen richtig berechnet wurde, darf tatsächlich kritisch beäugt werden.

Der Besoldungsgesetzgeber verkennt hier aus meiner Sicht die Tragweite des Urteils. Nach meinem Verständnis des Urteils muss der kleinste Beamte lediglich theoretisch in der Lage sein, eine vierköpfige Familie zu ernähren und trotzdem mindestens 15 % mehr Einkommen haben. Ob er alleinstehend ist oder tatsächlich 2 Kinder hat, ist bei der Bemessung der Besoldung unerheblich. Wenn die Familienzuschläge bei einer 4 köpfigen Familie so groß sind, dass damit ganze Laufbahngruppen übersprungen werden können, ist nicht mehr das Amt als Ausgangspunkt der Berechnung zu sehen sondern andere Komponenten.

Somit halte ich persönlich diese Regelung für verfassungswidrig, weil kinderlose Beamte nach wir vor nicht dem Amt angemessen alimentiert werden.

Es bleibt spannend und wir werden wohl alle mindestens noch das Urteil zur A Besoldung in Bremen abwarten müssen, um zu wissen, ob diese Regelung gerade noch so verfassungsgemäß ist.

NordWest

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3712 am: 01.09.2022 20:44 »
Der Besoldungsgesetzgeber verkennt hier aus meiner Sicht die Tragweite des Urteils. Nach meinem Verständnis des Urteils muss der kleinste Beamte lediglich theoretisch in der Lage sein, eine vierköpfige Familie zu ernähren und trotzdem mindestens 15 % mehr Einkommen haben. Ob er alleinstehend ist oder tatsächlich 2 Kinder hat, ist bei der Bemessung der Besoldung unerheblich. Wenn die Familienzuschläge bei einer 4 köpfigen Familie so groß sind, dass damit ganze Laufbahngruppen übersprungen werden können, ist nicht mehr das Amt als Ausgangspunkt der Berechnung zu sehen sondern andere Komponenten.

Ich habe das Urteil genauso verstanden wie Du. Die Besoldungsgeber haben leider zielsicher die Schwachstelle identifiziert und genutzt: Indem der Familienzuschlag in die obige theoretisch Betrachtung mit einbezogen wird, wird der theoretische Ansatz (egal ob tatsächlich Kinder oder nicht) wieder zu einem konkreten Ansatz und damit ausgehebelt.

Das BVerfG hält erhöhte Familienzuschläge grundsätzlich aber auch für ein legitmes Mittel - nur die Grenzen dessen sowie die konkrete Mindestbesoldung von Singles wurde leider nicht beschrieben. Ganz zu schweigen von Pensionären/Versorgungsempfängern, mit denen bislang wohl von allen verbeamteten Gruppen am meisten Schindluder getrieben worden ist. Nicht einmal die Einmalzahlung haben sie dieses Jahr erhalten.

smiteme

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3713 am: 01.09.2022 21:30 »
OK, d.h. das ist noch nicht das "Ende vom Lied".

Ich finde es Recht komisch / inkonsequent die ersten zwei Kinder nach dem Ort zu beurteilen und danach nicht mehr (Stichwort Benachteiligung).

Auch wenn man sich das neue Gesetz ansieht (4 Personen Haushalt). Es werden viele Dinge berücksichtigt (H4 Satz, Heizkosten, Mietstufen, Teilhabe, etc.)

Weshalb ich gerne Mal die komplette Rechnung gesehen hätte. Warum?

Wenn man davon ausgeht dass alle Komponenten bei einem 4 Personen Haushalt gleich sind und "nur" ein Unterschied in der Mietstufe (beim regionalen Ergänzungszuschlag) ist, bin ich über die Differenz zwischen Mietstufe 1 und 7 so verblüfft.
Differenz = 869,08 euro beim regionalen Ergänzungszuschlag

Wenn man hingegen die Differenz aus dem Wohngeldgesetz vergleicht (auch Stufe 1 mit Stufe 7) erhält man eine Differenz von 511 Euro beim Wohngeldgesetz.

Da Frage ich mich, wo kommt die Differenz (358,06 Euro) her und wo ist sie verschwunden. Evtl. sehe ich auch nicht den Balken vor meinem Kopf.

Hat einer evtl eine Idee?

Rentenonkel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3714 am: 01.09.2022 21:53 »
Die Gesetzesbegründung ist wie folgt (dazu kommt noch Heizung und Teilhabe, die Details erspare ich uns), nachzulesen Drucksache Landtag NRW 17/16324

Die grundsicherungsrechtlichen Bedarfe für Unterkunft nach § 22 Absatz 1 Satz 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch werden entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigt, indem die anzusetzenden Kosten der Unterkunft aus dem Wohngeldrecht abgeleitet und nach dem um 10 Prozent erhöhten Höchstbetrag der Mietenstufe des Wohngeldgesetzes berücksichtigt werden, der die Gemeinde, in der die Beamtin, der Beamte, die Richterin oder der Richter mit Hauptwohnsitz gemeldet ist, zugeordnet ist (vgl. BVerfG v. 4. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 u.a.,Rn. 75). Die jeweils zugrunde gelegten Höchstbeträge ergeben sich aus der ab dem 1. Januar 2022 geltenden Fassung der Anlage 1 des Wohngeldgesetzes.   Das Bundesverfassungsgericht betont in seinem Beschluss, der Gesetzgeber sei bei der Bemessung der Alimentation nicht gehalten, die Ermittlung der Bedarfe sowie die Besoldung an den regionalen Höchstwerten auszurichten. Vielmehr stehe es dem Gesetzgeber frei, den maßgeblichen Bedarf individuell oder gruppenbezogen zu erfassen und Besoldungsbestandteile an die regionalen Lebensverhältnisse am Wohn- oder Dienstort anzuknüpfen, etwa durch (Wieder-)Einführung eines an örtlichen Wohnkosten orientierten (Orts-)Zuschlags. Mit den Mietenstufen des Wohngeldgesetzes stehe ein leicht zu handhabendes Kriterium bereit (BVerfG v. 4. Mai 2020 – 2 BvL 4/18, Rn. 61).   Von dieser Möglichkeit wird mit der Neustrukturierung der Familienzuschläge durch dieses Gesetz Gebrauch gemacht. Ab dem 1. Dezember 2022 bemessen sich die Familienzuschläge unter Berücksichtigung der Besoldungsanpassung für ein und zwei Kinder unter anderem nach der Mietenstufe der Gemeinde des Hauptwohnsitzes der Besoldungsempfängerin oder des Besoldungsempfängers. Für den davorliegenden Zeitraum vom 1. Januar bis 30. November 2022 wird den Familien mit einem oder zwei im Familienzuschlag zu berücksichtigenden Kindern ein entsprechender regionaler Ergänzungszuschlag gewährt.   

 Für die Bemessung des grundsicherungsrechtlichen Gesamtbedarfes ergeben sich in Abhängigkeit von der Mietenstufe damit folgende monatliche Bedarfe für Unterkunft:   
Monatliche Bedarfe für Unterkunft nach Mietenstufen in Euro Mietenstufe I II III IV V VI VII

Vierköpfige Familie
642,40
724,90
809,60
907,50
999,90
1.094,50
1.204,50

Dreiköpfige Familie
551,10
620,40
694,10
778,80
855,80
938,30
 1.030,70

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3715 am: 01.09.2022 22:02 »
Der Besoldungsgesetzgeber verkennt hier aus meiner Sicht die Tragweite des Urteils. Nach meinem Verständnis des Urteils muss der kleinste Beamte lediglich theoretisch in der Lage sein, eine vierköpfige Familie zu ernähren und trotzdem mindestens 15 % mehr Einkommen haben. Ob er alleinstehend ist oder tatsächlich 2 Kinder hat, ist bei der Bemessung der Besoldung unerheblich. Wenn die Familienzuschläge bei einer 4 köpfigen Familie so groß sind, dass damit ganze Laufbahngruppen übersprungen werden können, ist nicht mehr das Amt als Ausgangspunkt der Berechnung zu sehen sondern andere Komponenten.

Ich habe das Urteil genauso verstanden wie Du. Die Besoldungsgeber haben leider zielsicher die Schwachstelle identifiziert und genutzt: Indem der Familienzuschlag in die obige theoretisch Betrachtung mit einbezogen wird, wird der theoretische Ansatz (egal ob tatsächlich Kinder oder nicht) wieder zu einem konkreten Ansatz und damit ausgehebelt.

Das BVerfG hält erhöhte Familienzuschläge grundsätzlich aber auch für ein legitmes Mittel - nur die Grenzen dessen sowie die konkrete Mindestbesoldung von Singles wurde leider nicht beschrieben. Ganz zu schweigen von Pensionären/Versorgungsempfängern, mit denen bislang wohl von allen verbeamteten Gruppen am meisten Schindluder getrieben worden ist. Nicht einmal die Einmalzahlung haben sie dieses Jahr erhalten.

Deine und Rentenonkels Darstellungen finde ich sehr gelungen, weil verständlich formuliert, ohne inhaltlich zu verkürzen.

Zwei Ergänzungen:

1. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden - das ist den Besoldungsgesetzgebern aber tatsächlich nicht bewusst, weil man dort die aktuelle Entscheidung nicht präzise genug gelesen hat -, dass sämtliche in den letzten zwei Jahren verabschiedete gesetzliche Regelungen, die exorbitante Erhöhungen familienbezogener Besoldungskomponenten vorgenommen haben, verfassungswidrig sind. Denn mit der Kategorie der "Mindestbesoldung" hat es ein indiziellen Vergleichsparameter eingeführt, der wiederum materiell mit der Mindestalimentation verbunden ist. Als Folge sind ausnahmslos alle entsprechenden gesetzlichen Regelungen verfassungswidrig, da nicht hinreichend prozeduralisiert. Soll heißen: Die Begründung der exorbitanten Erhöhungen familienbezogener Besoldungskomponenten ist jeweils nicht sachgerecht erfolgt, was zur Folge hat, dass die entsprechenden Gesetze allesamt verfassungswidrig sind. Das gilt ebenso für die gesetzliche Regelung in Nordrhein-Westfalen.

2. Von daher gibt es die von den Besoldungsgesetzgebern identifizierte "Schwachstelle" in der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht. Vielmehr befindet sich die Schwachstelle in der jeweiligen Gesetzesbegründung der Besoldungsgesetzgeber. Das wurde im Mai im entsprechenden ZBR-Beitrag am Berliner Beispiel exemplifiziert und wird demnächst in einem weiteren ZBR-Beitrag noch weitergehend präzisiert, in dem gezeigt werden wird, wie präzise das Bundesverfassungsgericht in seiner aktuellen Entscheidung den vierten Parameter der ersten Prüfungsstufe bereits sachlich ausgeformt hat, was vor der aktuellen Entscheidung nicht der Fall gewesen ist.

Auf den Punkt gebracht: Es ist dem Besoldungsgesetzgeber verwehrt, deutlich höhere Familienzuschläge als bislang einzuführen, um damit das Ziel, die Mindestalimentation geradeso zu übersteigen, zu erreichen. Denn als Folge kommt es zu einer Verletzung systeminterner Abstände, die aber zwingend vom Gesetzgeber zu berücksichtigen sind. All das ist übrigens recht umfassend im aktuellen niedersächsischen Gesetzgebungsverfahren innerhalb des Anhörungsverfahrens dem Landtag dargelegt worden und liegt ihm nach meinem Kenntnisstand bis ins Detail berechnet und entsprechend umfangreich begründet - nicht zuletzt umfassend an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - vor. Schauen wir also mal, wie der niedersächsische Gesetzgeber darauf reagiert.

@ smiteme

Das Bundesverfassungsgericht führt in der aktuellen Entscheidung in der Rn. 61 u.a. aus:

"Eine an Wohnsitz oder Dienstort anknüpfende Abstufung ist mit dem Alimentationsprinzip vereinbar, sofern sie sich vor Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen lässt (vgl. BVerfGE 107, 218 <238, 243 ff.>; 117, 330 <350 f.>). Mit den Mietenstufen des Wohngeldgesetzes, denen alle Kommunen entsprechend den örtlichen Verhältnissen des Mietwohnungsmarktes zugeordnet sind, stünde ein leicht zu handhabendes Kriterium bereit."

Da zwischen dem Grundsicherungsempfängern zustehenden Wohngeld und der Besoldung eines Beamten ein qualitativer Unterschied besteht, stände es dem Besoldungsgesetzgeber frei, in Ortszuschlägen höhere monetäre Unterschiede einzupflegen, als es das Wohngeldgesetz hinsichtlich von Wohngeldbeziehern vorsieht. Der Besoldungsgesetzgeber müsste ein entsprechendes Vorgehen jedoch sachlich hinreichend begründen und dabei allerdings ebenso den ersten Satz der eben zitierten Direktive beachten.

Da der nordrhein-westfälische Gesetzgeber jedoch keinen Ortszuschlag gewährt, sondern einen an den Familienstatus gebundenen regionalen Ergänzungszuschlag, hätte er darüber hinaus das beachten müssen, was ich eingangs an Rentenonkel und NordWest geschrieben habe. Das hat der Gesetzgeber aber ebenfalls wie alle anderen auch nicht hinreichend getan. Als Folge ist auch diese Regelung nicht hinreichend prozeduralisiert und entsprechend verfassungswidrig.
« Last Edit: 01.09.2022 22:08 von SwenTanortsch »

Koi

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3716 am: 01.09.2022 22:41 »
Gibt es diese Materialien aus Niedersachsen irgendwo einzusehen?

smiteme

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #3717 am: 02.09.2022 00:14 »
OK, ich habe es (eventuell) halbwegs verstandenen, hoffe ich  ???

Dennoch verstehe ich nicht warum die niedrigen Mietstufen überproportional weniger erhalten als höhere Mietstufen (siehe meine Differenzdarstellung im vorherigen Beitrag). Hier scheint es mir (ohne es belegen zu können), dass hier das das Land das Ziel verfolgt, möglichst günstig aus der Nummer rauszukommen. Zumal für mich nicht nachvollziehbar ist warum Kinder, die überall ähnliche kosten verursachen nach regionalen Punkten ins Verhältnis gesetzt werden und manche nicht.

Könnte denn jemand von euch die Zahlen für den regionalen Ergänzungsschlag nachrechnen / nachvollziehen?

Wenn man Mal überlegt wer in Mietstufe 1 oder 2 wohnt, verfehlt die aktuelle Regelung das Ziel. Ich konnte mir damals keine Wohnung für mich und meine Familie im Köln/Bonn Leisten (damals A06) bin dann in eine günstige Region gezogen und habe die Fahrt in Kauf genommen... Warum wurde nicht der Dienstort als Mietstufe genommen (rhetorische Frage)

Kann man hier nicht eine Sammelklage (so wie bei VW im Dieselskandal) einreichen?

Bzw. Wer überprüft die neuen Regelungen? Passiert das automatisch oder muss man klagen?

SwenTanortsch

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« Antwort #3718 am: 02.09.2022 07:11 »
OK, ich habe es (eventuell) halbwegs verstandenen, hoffe ich  ???

Dennoch verstehe ich nicht warum die niedrigen Mietstufen überproportional weniger erhalten als höhere Mietstufen (siehe meine Differenzdarstellung im vorherigen Beitrag). Hier scheint es mir (ohne es belegen zu können), dass hier das das Land das Ziel verfolgt, möglichst günstig aus der Nummer rauszukommen. Zumal für mich nicht nachvollziehbar ist warum Kinder, die überall ähnliche kosten verursachen nach regionalen Punkten ins Verhältnis gesetzt werden und manche nicht.

Könnte denn jemand von euch die Zahlen für den regionalen Ergänzungsschlag nachrechnen / nachvollziehen?

Wenn man Mal überlegt wer in Mietstufe 1 oder 2 wohnt, verfehlt die aktuelle Regelung das Ziel. Ich konnte mir damals keine Wohnung für mich und meine Familie im Köln/Bonn Leisten (damals A06) bin dann in eine günstige Region gezogen und habe die Fahrt in Kauf genommen... Warum wurde nicht der Dienstort als Mietstufe genommen (rhetorische Frage)

Kann man hier nicht eine Sammelklage (so wie bei VW im Dieselskandal) einreichen?

Bzw. Wer überprüft die neuen Regelungen? Passiert das automatisch oder muss man klagen?

Dass Du die überproportional höheren Ergänzungsbeträge nicht verstehst, liegt nicht an Dir, sondern am Besoldungsgesetzgeber, der keine hinreichende Begründung für diese Maßnahme liefert, worin sich u.a. die hier ungenügende Prozeduralisierung der gesetzlichen Regelung zeigt. Mit der Regelung wird genau das Ziel verfolgt, dass Du ansprichst, verfassungswidrig gewaltig hohe Personalkosten einzusparen, die den nordrhein-westfälischen Beamten verfassungsrechtlich zustehen. All das ist dem Besoldungsgesetzgeber auch bekannt, da die, die die Entwürfe entwickeln, keine Idioten sind, die des Lesens juristischer Texte nicht fähig wären. Wie auch in anderen Besoldungsrechtskreisen liegt hier offensichtlich ebenso ein wissentlicher und willentlicher Verfassungsbruch vor.

Zugleich wäre es im Gesetzgebungsverfahren am Gesetzgeber gelegen, die entsprechenden Berechnungen, die Du Dir wünschst, vorzunehmen, um eben zu einer hinreichenden Prozeduralisierung zu gelangen. Da das Ergebnis gewesen wäre, dass die Regelung nicht sachgerecht ist, hat er auch diese Berechnungen unterlassen. Als Folge der gesetzlichen Regelung beschreibst Du am eigenen Beispiel, was Sache ist: Du bist weiterhin gezwungen, Deine Lebenszeit damit zu verbringen, von einem weiter entfernten Wohn- zu Deinem Dienstort zu gondeln, weil Du Dir eine Unterkunft an letzterem nach wie vor finanziell nicht leisten kannst. Als Folge leidet die Dir grundgesetzlich zustehende Lebensqualität und auf Dauer ebenso die Qualität Deiner dienstlichen Verrichtungen. Darin zeigt sich der sachliche Unsinn der nicht nur verfassungswidrigen, sondern so betrachtet auch eher dümmlich fortgesetzten gesetzlichen Regelung, die - auf's Ganze gesehen - der exekutiven Gewalt seit Jahr und Tag schweren Schaden zufügt.

"Sammelklagen" sind hinsichtlich besoldungsrechtlicher Fragen nicht möglich. Jeder Beamte ist - sofern sich zwischen den Klage finanzierenden Gewerkschaften und Verbänden auf der einen Seite und dem Gesetzgeber (respektive der Landesregierung) auf der anderen nicht auf ein Musterverfahren geeignigt wird, als dessen Folge die Rechtsprechung im Sinne aller von den Streitparteien am Ende anerkannt wird - gezwungen, sein Recht selbst einzuklagen.

Die Überprüfung erfolgt von judikativer Seite, sofern Klage erhoben wird. Auch (und gerade) deshalb ist der Besoldungsgesetzgeber gezwungen, seine Gesetzgebung hinreichend zu begründen, um nicht grundrechtsgleiches Recht zu verletzen.

@ Koi

Wie schon vor ein paar Tagen geschrieben, hat die Landtagspräsidentin zugesichert, die Materialien des Beteiligungsverfahrens nach der Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses vom 07.09. auf der Seite des Landtags zu veröffentlichen. Mal schauen, wie lange das dauern wird.

Wenn Du Dir schon heute selbst ein Bild machen willst - das gilt übrigens für alle niedersächsischen Beamten -, würde ich einfach mal bei Deinen Abgeordneten nachfragen, so wie ich das vor ein paar Tagen angeregt habe: https://www.abgeordnetenwatch.de/niedersachsen Denn wenn die Abgeordneten keinen Druck von unten verspüren, werden sie sich auch eher keine Gedanken machen. Ohne Initiativen von unten wird sich nichts ändern. Und nach der Landtagswahl wird thematisch von politischer Seite eher noch größere Ruhe im Karton herrschen.

smiteme

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« Antwort #3719 am: 02.09.2022 08:58 »
Kann man denn irgendwo nachschauen, ob schon jemand gegen die neue NRW Regelungen geklagt hat (rechtliche Schritte eingeleitet hat)?