Neue kuriose Urteile:
VG Gießen, 19.05.2023 - 5 L 855/23 (Richterbesoldung in Hessen)
https://www.rv.hessenrecht.hessen.de/bshe/document/LARE230004633
Es ist fraglich, ob Art. 19 EUV sowie Art. 47 EU-GR-Charta dahin auszulegen sind, dass ihnen die im Mitgliedstaat des vorlegenden Gerichts bestehenden Regelungen der Richterbesoldung im Gesetz zur weiteren Anpassung der Besoldung und Versorgung im Jahr 2023 sowie im Jahr 2024 des Bundeslandes Hessen (Drucksache des Hessischen Landtages 20/9499) dann entgegenstehen werden, wenn das Bundesland Hessen nicht innerhalb einer vom EuGH zu bestimmenden Frist nach der Zustellung der Entscheidung des EuGH eine europäischen Standards entsprechende Richterbesoldung in Geltung gesetzt haben wird.
In einem Asyl-Verfahren wird dem EuGH jetzt die Richterbesoldung vorgelegt?
Die Entscheidung ist tatsächlich auf den ersten Blick kurios - auf den zweiten dann schon weniger, wenn man sich zunächst einmal eingelesen hat und eben beachtet, dass hier dem EuGH ein Eilantrag vorgelegt wird, sodass die Begründung zwangsläufig auf diesen zugeschnitten ist, was hinsichtlich der Lesegewohnheit mit Blick auf Vorlagebeschlüsse über besoldungsrechtliche Fragen zunächst gewöhnungsbedürftig ist. Die Klage und ihre Begründung gliedert sich in zwei Stränge:
1. Beim Antragssteller handelt es sich um einen russischen Staasbürger, der Ende Dezember 2022 in die Bundesrepublik eingereist und hier einen Asylantrag gestellt hat. Im Asylverfahren ist deutlich geworden, dass er über Kroatien nach Deutschland eingereist ist, was sich insbesondere über einen Abgleich von Fingerabdrücken ergeben hat. Die kroatischen Behörden erklärten im Januar 2023 im Rahmen eines Übernahmeersuchens ihre Zuständigkeit im Rahmen des Dublin-Verfahrens; der Antragssteller hat zugegeben in Kroatien gewesen zu sein und hat hervorgehoben, dass er dort unmenschlich behandelt worden sei und deshalb in Deutschland bleiben wolle. Sein Asylantrag ist daraufhin im März 2023 als unzulässig abgewiesen worden; die Begründung des Antragsstellers wurde als sachlich nicht stichhaltig zurückgewiesen. Zuständig sei hingegen als Folge der Dublin-Regelung Kroatien. Als Folge wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot in der Bundesrepublik und die Abschiebung angeordnet; diese kann seitdem jederzeit vollzogen werden. Im April 2023 hat der Antragssteller beim VG Klage und einen Eilantrag gegen diese Bescheidung gestellt.
2. Das VG hebt nun hervor, dass es einen Verwaltungsakt zu prüfen habe. Dabei könne nur eine sachgerechte Prüfung den wirksamen Rechtsschutz und das Recht des Antragsstellers auf einen wirksamen Rechtsbehelf sowie auf ein unparteiisches Gericht garantieren, das sich jeweils aus Rechtsakten der EU ergibt. Denn nur so könne ein unionsweit einheitlicher Raum des gemeinsamen Rechts tatsächlich verwirklicht werden und könnten alle Mitgliedstaaten loyal zusammenarbeiten.
Während es also im ersten Strang der Entscheidung um die Frage geht, ob der Antragssteller einem Aufenthaltsverbot in Deutschland und damit zwangsläufig der Abschiebung unterliegt, geht es in ihrem zweiten Strang darum, ob das angerufene Gericht eine hinreichenden Rechtsschutz und damit verbunden einen wirksamen Rechtsbehelf sowie die eigene Unparteilichkeit garantieren könne, womit nun die in den Leitsätzen und im Tenor aufgeworfenen Fragen an den EuGH ihren Sinn entfalten. Denn sofern das nicht der Fall wäre, könnte das VG den Rechtsschutz ggf. nicht hinreichend garantieren, da es dazu ggf. nicht hinreichend unabhängig wäre. Entsprechend führt das Gericht hinsichtlich der festgestellten Zulässigkeit der Vorlage aus (Hervorhebung durch mich): "Gemeinsam ist diesen europarechtlichen Vorgaben eine wirksame Sicherung der Unabhängigkeit der mitgliedstaatlichen Richterinnen und Richter, wobei nach gefestigter Rechtsprechung des EuGH gerade
eine der Bedeutung der richterlichen Funktion entsprechende Vergütung eine wesentliche Garantie für eine wirksame richterliche Unabhängigkeit darstellt (EuGH, Urteil vom 07.02.2019 – C-49/18; ferner s. EuGH, Urteil vom 27.02.2018 – C-64/16)."
Entsprechend geht es nun im Kern um die vom VG dem EuGH vorgelegte Frage, ob der zu garantierende Rechtschutz, das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und die richterliche Unparteilichkeit hinreichend gegeben seien, sofern das Bundesland Hessen mit dem aktuellen Besoldungsgesetz in den Jahren 2023 und 2024 "nicht innerhalb einer vom EuGH zu bestimmenden Frist nach der Zustellung der Entscheidung des EuGH eine europäischen Standards entsprechende Richterbesoldung in Geltung gebracht haben wird". Das VG sieht nun die richterliche Unabhängigkeit, die als Folge des Grundsatzes des wirksamen gerichtlichen Schutzes der Rechte aus dem Unionsrecht garantiert sein müsse, als durch die im Sinne des Art. 33 Abs. 5 nicht amtsangemessene Alimentation als nicht hinreichend garantiert an, was es entsprechend begründet, um seine Vorlage so dem EuGH zur Entscheidung vorzulegen. Da der Antragssteller von der - ggf. nicht sachgerechten - Abschiebung bedroht ist, aber auch die Rechtswirksamkeit weiterer gerichtlicher Asyl-Entscheidungen ggf. nicht garantiert werden könne, wird die Entscheidung des VG als Eilantrag formuliert. Zugleich stellt die Vorlage wiederkehrend auf eine amtsangemessene Grundbesoldung ab und führt entsprechend bspw. aus:
"Im Bundesland Hessen beträgt das monatliche Einstiegsgrundgehalt von Richterinnen und Richtern in der Besoldungsgruppe R 1 brutto 4.663,29 Euro (ab dem 01.08.2023: brutto 4.751,43 Euro und ab dem 01.01.2024: brutto 4.893,97 Euro). Das monatliche Endgrundgehalt, das nach 18 Dienstjahren erreicht werden kann, liegt zwischen brutto 6.897,22 Euro am 01.04.2023 und brutto 7.455,56 Euro am 01.01.2024; in der Besoldungsgruppe des Beförderungsamtes R 2 liegt das monatliche Grundgehalt zwischen brutto 5.965,55 Euro und im monatlichen Endgrundgehalt bei brutto 8.136,84 Euro. Hinzu kann jeweils ein Familienzuschlag kommen, der je nach Familienstand und Kinderanzahl erhöht worden ist. Daran wird jedoch kritisiert, dass durch einen übermäßigen Familienzuschlag die Einstiegsgehälter nicht mehr konkurrenzfähig seien. Denn Berufsanfänger seien oft nicht verheiratet und hätten auch nicht typischerweise Kinder. Es wird ausdrücklich herausgestellt, dass die Besoldung dann für Unverheiratete oder Kinderlose nicht mehr akzeptabel sei (hierzu s. Stuttmann, NVwZ-Beilage 2020, 83, 88). Das vorlegende Gericht merkt hierzu an, dass das Verheiratet-Sein und das Kinder-Haben als solches keinen maßgeblichen Einfluss auf das diskriminierungsfrei zu gewährende Arbeitsentgelt (Art. 3 Abs. 1 c RL 2000/78/EG) haben darf. Denn die Verknüpfung der Besoldung, die die berufliche Hingabe und Leistungsbereitschaft der Richterinnen und Richter würdigen soll, mit den Merkmalen „Ehe“ und „Elternstellung“, die beide einen privaten – wenngleich häufig gewählten – Lebensentwurf darstellen, steht möglicherweise in der Nähe zu einem Verstoß gegen die in Art. 1 RL 2000/78/EG genannten verpönten Diskriminierungsmerkmale, wobei das zugleich herausgestellt wird, dass der besondere Schutz von Ehe und Familie durch Privilegien im Steuer- und Sozialversicherungsrecht – insbesondere im Krankenversicherungs- und Beihilferecht – zu verwirklichen und dort gerechtfertigt und geboten ist. Dieser Schutz von Ehe und Familie ist aber nicht aber mit den Mitteln einer nur ein Lebensmodell einseitig unterstützenden Vergütungsbemessung sicherzustellen. Denn zu vergüten ist allein die dienstliche Hingabe, nicht aber die private Familiensituation."
Zugleich hebt die Vorlage hervor, dass das Land Hessen weiterhin eine gezielt nicht amtsangemessene Alimentation gewährt, wie es das eben in der aktuellen Gesetzesbegründung selbst formuliert hat. Entsprechend führt das VG aus:
"Das Bundesland Hessen hat die Besoldungshöhe im Gesetz zur weiteren Anpassung der Besoldung und Versorgung im Jahr 2023 sowie im Jahr 2024 (Drucksache des Hessischen Landtages 20/9499) festgelegt. Aus der Begründung zu diesem Gesetz ist aber zu entnehmen, dass der Gesetzgeber bewusst hinter den Vorgaben zurückbleibt, die nach dem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht mindestens einzuhalten sind. In der Gesetzesbegründung heißt es wörtlich:
'Dieses Gesetz zielt deshalb nicht darauf ab, die Schließung der vom VGH [Verwaltungsgerichtshof] für Hessen festgestellten Alimentationslücke hinsichtlich des Abstandes der Netto- zur Mindestalimentation für eine vierköpfige Familie von zwei Erwachsenen und zwei Kindern mit nur einem Familieneinkommen bis zum Jahr 2024 bereits vollständig zu erreichen, sondern es sollen im Rahmen der bestehenden finanziellen Möglichkeiten auf Grundlage der für die Bemessung der ausreichenden Alimentation erforderlichen und bereits gesicherten Datengrundlage erste Maßnahmen zur Behebung des bestehenden Alimentationsdefizits ergriffen werden.' (Seite 2 der Gesetzesbegründung, online einsehbar unter:
http://starweb.hessen.de/cache/DRS/20/9/09499.pdf)."
Nun gut, im Kern stellt das VG klar, dass es seiner Meinung nach erst dann hinreichend sachgerecht über den ersten Strang des Verfahrens entscheiden könne, sofern das EuGH feststellen würde, dass die richterliche Unabhängigkeit und damit verbunden der hinreichende Rechtsschutz sowie ein wirksamer Rechtsbehelf von einer deutlichen Unteralimentation der von ihr betroffenen Richter nicht maßgeblich beeinträchtigt werden würden. Damit dürfte nun mit dem EuGH ein weiterer Akteur die Besoldungsbühne betreten, womit mindestens weitere Facetten an diesem an Komplexität nicht armen Thema sichtbar werden dürften.