Als Gegenstand des Beratungsgeheimnisses unterfallen neben der Beratung ebenfalls die Abstimmung sowie alle Vorgänge, die sich inhaltlich auf die Entscheidung beziehen. Allein deshalb wäre ein solcher "Fortschrittsbalken" sachlich nicht gestattet.
Zur Ergänzung:
§ 30 Abs. (2) Ein Richter kann seine in der Beratung vertretene abweichende Meinung zu der Entscheidung oder zu deren Begründung in einem Sondervotum niederlegen; das Sondervotum ist der Entscheidung anzuschließen. Die Senate können in ihren Entscheidungen das Stimmenverhältnis mitteilen. Das Nähere regelt die Geschäftsordnung.
Das wäre m.E. übrigens der zentrale Grund, der gegen einen "Fortschrittbalken" sprechen würde. Denn das seit 1971 mögliche Sondervotum gibt zunächst einmal eine indirekte Einblicksmöglichkeit in die Votenberatung, welche erste (die Einblickmöglichkeit) aus freien Stücken erfolgte, da es das Recht auf ein, aber nicht die Pflicht zu einem Sondervotum gibt. Die Planung eines Sondervotums kann de facto tatsächlich erst nach der Abstimmung über die Entscheidung erfolgen, weil erst dann faktisch klar ist, dass sich der Richter, der am Ende ein Sondervotum erstellen wird, mit seinen Argumenten nicht gegen die Senatsmehrheit durchsetzen konnte. Da dieses Ergebnis aber
während der Beratung offen ist, ein zu dieser Zeit geplegter "Fortschrittsbalken" jedoch dann nach Abschluss des Verfahrens ggf. begründete Vermutungen zuließe, dass es zu sich hinziehenden Beratungen über die abschließende Entscheidung gekommen sei, wäre es nun am Ende
vermutlich erkennbar, welche(r) Richter für die sich hinziehende Beratung verantwortlich gewesen wäre(n) - nämlich spätestens, wenn nun ein oder mehrere Richter ein Sondervotum erstellten und also die Öffentlichkeit nun über den "Fortschrittsbalken" erkennen könnte (oder das vermeinte), wer nun die Verzögerung "zu verantworten" hätte. Spätestens dann, wenn die Entscheidung politisch kontrovers aufgenommen werden würde (und das noch vor der Entscheidungsveröffentlichung absehbar wäre), würden es Richter offensichtlich als nicht sinnvoll ansehen, ein Sondervotum zu erstellen. Darin zeigt sich, dass das Beratungsgeheimnis und die richterliche Unabhängigkeit eng miteinander verbunden sind.
Dabei haben die Sondervoten eine ebenfalls wichtige Funktion in der Rechtsbildung, weil der jeweilige Richter, der ein solches Votum erstellt, nun seine Argumente noch einmal hervorhebt, die in der Entscheidung keine sich durchsetzende Bedeutung erfahren haben und deshalb i.d.R. in der Entscheidungsbegründung nicht vorkommen. Da nun aber diese Argumente von späteren Klägern oder auch der Literatur aufgenommen und weiter abgewogen werden können, liegt in Sondervotum wiederkehrend der Nukleus für später ggf. andere Entscheidungen des Senats, der dann eben zukünftig mit weiteren Argumenten konfrontiert werden kann, die sich als Folge der Rechtsbildung entwickeln können.
Ein typisches Beispiel für eine solche Entscheidung, die also unter sich wandelnden gesellschaftlichen Entwicklungen zukünftig ggf. dann anders ausfallen könnte, ist die Ende letzten Jahres erfolgte zur Wahlrechtsreform Bundeswahlgesetz 2020, BVerfG, Urteil des Zweiten Senats vom 29. November 2023 - 2 BvF 1/21
https://www.bverfg.de/e/fs20231129_2bvf000121.html -; hier finden wir ein politisch und gesellschaftlich kontroverses Thema vor, die Entscheidung erging im Senat mit fünf zu drei Stimmen, das Sondervotum der drei Richter, die sich mit ihrer Sicht auf die Dinge nicht haben durchsetzen können, gibt eine Fülle an bedenkenswerten Argumenten, die in der Literatur zukünftig umfassend debattiert werden wird; davon dürfen wir ausgehen. Das Sondervotum der drei unterlegenen Richter hat hier also eine wichtige - ggf. ebenfalls zukünftig rechtsbildende - Qualität.
@ Knecht
Die Komplexität unserer "verrechtlichten" Welt kommt natürlich den Juristen entgegen, deren Bedeutungsgehalt entsprechend zunimmt. Sie hat aber eigentlich noch viel mehr damit zu tun, dass eine technisch zunehmend komplexere Welt zwangsläufig eine zunehmende Regulierung finden muss, um so das Individuum sowohl gegenüber dem Staat und seinen Begehrlichkeiten als auch gegenüber wirtschaftlichen Akteuren zu schützen, die ebenfalls über eine deutliche größere (Markt-) Macht verfügen als das einzelne Individuum, und zwar nicht zuletzt in einer globalisierten Welt, in der es wiederum zur Abstimmung von Recht kommen muss, auch (wenn auch nicht unbedingt: gerade) deshalb bekommt ebenfalls das EU-Recht eine zunehmende Bedeutung. Recht zieht Recht nach sich, das ist eine zentrale rechtswissenschaftliche Erkenntnis.
Unsere Rechte als Staatsbürger sind dabei heute vielleicht so gut wie noch nie in der Bundesrepublik und der deutschen Geschichte insgesamt geschützt - die Frage ist so betrachtet ggf. also eher die, wie diese Rechte eben auch durchsetzbar sind und also durchgesetzt werden können. Und damit kommen wir wieder von der Regulierung zur Bürokratie: Denn während sich die Regulierung - die Verrechtlichung der Welt - in den letzten Jahrzehnten innerhalb der gerade angerissenen (und insgesamt noch deutlich komplexeren) Entwicklungen deutlich ausgeweitet hat, gilt das eben für die Bürokratie - für das Personal, das die Normen und Regeln exekutieren soll - gerade nicht oder zumindest nicht im gleichen Maße. Wir haben heute also weniger ein Regulierungs- als viel mehr ein Um- und Durchsetzungsproblem. Und dafür ist ggf. der Gesetzgeber (mit-)verantwortlich, aber im nicht geringeren Maße ebenso die exekutive Gewalt, die eben nicht dafür sorgt, dass genügend Personal dafür vorhanden ist, um all die schönen rechtlichen Normen, die sie sich ebenso wie die legislative Gewalt einfallen lässt, dann auch anzuwenden und durchzusetzen, wobei dabei gleichfalls zu bedenken bleibt, dass heute unsere Rechte ggf. so umfassend wie noch nie in der deutschen Geschichte geschützt sind, wovon nicht wenige Bundesbürger - mit, im wahrsten Sinne des Wortes, Recht! - Gebrauch machen, indem sie ihr Recht auf dem Rechtsweg einfordern, was dann ebenfalls mit zu Verfahrens- und Umsetzungsdauern führt, die Du sicherlich nicht gänzlich zu unrecht beklagst.
Insofern mangelt es - denke ich - in unserer schönen kleinen Bundesrepublik gar nicht so sehr an Realitätssinn und Pragmatismus, die mehr als genug in unserer kreativen und gut ausgebildeten Bevölkerung vorhanden sind, die darüber hinaus in einem hohen Maß Rechtstreue zeigt. Woran es vielleicht eher mangelt - was in einer zugleich sozial differenzierten Gesellschaft, die nicht mehr so einfach vor dem gemeinsamen abendlichen Herdfeuer zu versammeln ist als noch in den 1960er bis 1990er Jahren, fast zwangsläufig der Fall sein muss -, ist eine gemeinsame Erzählung, ein gemeinsames Ziel, das uns Bürgern vor Augen hält, dass wir nicht vom Brot allein satt werden, dass wir allesamt im weitgehend demselben Boot sitzen und das ggf. auch noch vorhandene Nachbarboote eventuell gar nicht gar so fremd sind, wie's sich aus der Entfernung eventuell anfühlen mag. Naja, aber bevor das jetzt hier in Richtung Poesiealbum abdrifftet, mache ich jetzt hier mal besser einen -----> .
@ emdy
So ganz stimmt das, was Du schreibst, nicht: Die Verfahrensdauer auch vor den Sozialgerichten ist in Deutschland weiterhin hoch, was auch damit zu tun hat, dass die (gesehene) Notwendigkeit zur Klage und auch die Klagebereitschaft hier ebenfalls deutlich zugenommen haben. Nicht umsonst hat sich zwischen 1995 und 2010 die Anzahl an Klagen vor den Sozialgerichten fast verdoppelt, um dann bis 2018 zurückzugehen, vor der Coronapandemie wieder anzusteigen und dann zu sinken. Das Sozialrecht muss in Deutschland weiterhin in einem hohen Maß ebenfalls eingeklagt werden.
Dabei stimmt es aber, dass wir als Beamte - eben eigentlich aus dem Grund, dass es gilt, unsere Rechte besonders zu schützen (worauf wir als Beamte ein Anrecht haben), insbesondere das besonders schützenswerte Gut der amtsangemessenen Alimentation - der Gesetzeskraft des (Besoldungs-)Gesetzgeber unterworfen sind, der i.d.R. eng mit der jeweiligen Regierung kooperiert, nicht umsonst werden Besoldungsgesetze in Deutschland weiterhin ausnahmslos von den 17 Regierungen entworfen. Dabei dürfen wir froh über die Verrechtlichung unserer Beamtenwelt sein, wie sie das Bundesverfassungsgericht seit 2012 zunehmend klarstellt. Denn auch, wenn es hier weiterhin ein offensichtlich großes Umsetzungsproblem gibt, so ist das geschützte Rechtsgut der amtsangemessenen Alimentation heute in einem Maße ausgeformt, die es auch Dir, lieber emdy, - so wie uns allen - überhaupt erst ermöglicht, davon begründet ausgehen zu können, nicht amtsangemessenen besoldet zu werden. Bis 2012/15 gab es nämlich keine konkret überprüfbare Handhabe, um sicherzustellen, dass hier überhaupt eine hinreichende Normenkontrolle möglich ist, eine auf die materielle Dimension fokussierende tatsächliche
Evidenzkontrolle war bis dahin in der Realität gar nicht möglich. Erst seitdem - das ist diesbezüglich die große Leistung Andreas Voßkuhles und seines Senats - sind dem vormals zahnlosen Tiger Alimentationsprinzip Zähne eingezogen worden. Und die sind mittlerweile in einer Art geschärft, das ich nicht mehr unbedingt ins Maul fassen möchte - denn da rekelt sich nun kein Bettvorleger mehr vor der Schlafcouch der Besoldungsgesetzgeber, wie das bis 2012/15 der Fall gewesen ist, sondern ein Getier, das zu Alpträumen einlädt, wenn man meinte: "Augen zu und durch".
Insofern dürfen wir froh und glücklich sein, dass wir eben nicht einem spezifischen Pragmatismus unterworfen sind (den ich hier in der Vergangenheit als "Vulgärpragmatismus" gekennzeichnet habe, denn mit der ehrenwerten Denkschule des philosophischen Pragmatismus hat das, was gemeinhin als solcher - als Pragmatismus - bezeichnet wird, so viel zu tun wie der Mond mit einer Tüte Chips), der sich freundlich bis 2012/15 Bahn gebrochen hat. Wenn hier also wiederkehrend ein größerer Rechtspragmatismus gefordert wird, dann darf man euch dazu sagen: Den habt ihr bereits, und zwar zur Genüge. Wenn ihr mehr davon wollt, schreibt eure Bundestagsabgeordneten an und fordert ein noch größeres "pragmatisches" Handeln von ihnen ein, ihr werdet dort offene Türen vorfinden, die ihr dann einrennt. Ergo schreibt und fordert:
- deutlich höhere familienbezogene Besoldungskomponenten
- Bemessungen des Grundsicherungsniveaus und der gewährten Alimentation, die an der schon heute phantastischen Realität vorbei noch einmal ganz viel mehr "Pragmatismus" gebrauchen können,
- Doppel-, Drei- und Vielfachfamilienverdienermodelle, die unter allen Umständen den Verdienst des familieneigenen Schoßhunds mit einbeziehen, der nicht umsonst über sein Herrchen oder Frauchen steuerpflichtig ist, sodass der Besoldungsgesetzgeber bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgehen muss, dass er über ein eigenes Einkommen verfügt, das deshalb analog der Besteuerung von Hundekuchen auf 25.000,- € pro Jahr festgesetzt werden muss usw. usf.
Ich male euch hier, die ihr nun seit so langer Zeit schon so schlecht vom Bundesverfassungsgericht behandelt werdet, gerne noch ganz viel weitere tolle "pragmatische" Ideen an die Wand, die tatsächlich dann ein wenig schwieriger sachlich zu entkräften wären als die letzten drei Spiegeltriche. Ich glaube, ihr könnt euch genauso wenig wie nicht wenige unserer Besoldungsgesetzgeber gar nicht vorstellen, was mir in den letzten Jahren, der ich mich mit dem Thema ausgiebig beschäftigt habe, so alles an spannenden "pragmatischen" Ideen gekommen ist, die sich sachlich ein bisschen schwieriger entkräften ließen als der ganze platte Unsinn, der uns hier "pragmatisch" regelmäßig von den Besoldungsgesetzgebern aufgetischt wird, vor die aber Karlsruhe zu einem nicht geringen Teil bereits ein freundliches Sperrschloß gelegt hat, von dem ihr nicht einmal in Ansätzen wisst, dass es jene letztere Sperrschösser heute bereits gibt, da ihr genauso wenig wisst, was es alles noch an schönen "pragmatischen" Ideen geben kann, um euch in eurem heutigen Besoldungsniveaus zu beschneiden.
Insofern solltet ihr ggf. mal in eurem ewigen Gemeckere auf Karlsruhe eines walten lassen, einen etwas pragmatischeren Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten. Das wäre heilsam. Pardon für die klaren Worte: Sie sind nicht bös gemeint, aber pragmatisch.
@ Ozy
Es wird sich - sachlich formuliert, aber in der Sache klar - mit den angekündigten Entscheidungen über die drei Rechtskreise nun der Boden vor den Füßen der Brsoldungsgesetzgeber auftun. Und wenn sie danach hüpfen wollen, dürfen sie hüpfen: immer voran in Terra incognita. Verschlingen wird der Boden dann einen von ihnen spätestens im nächsten Jahr, wenn sie meinen wollen, weiter hüpfen zu sollen. Wir kommen nun ans Ende der Fahnenstange - und das wird keine zwei
bis vier Jahre mehr dauern. Berlin dürfte sich mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits im nächsten Jahr mit der Vollstreckungsanordnung konfrontiert sehen, wenn man dort nun nicht bis dahin aktuell die Kurve bekommt, wobei nichts darauf hindeutet, dass man dort gedächte, sie zu bekommen. Für Niedersachsen gilt das in zwei Jahren. Sachsen versucht im Moment zwar, bereits das sinkende Schiff zu verlassen, weiß aber nicht, dass es sich ebenfalls bereits an Land befindet und den sich auftuenden Boden nun gleichfalls vor sich finden dürfte, nicht zuletzt, weil man dort versucht, das sinkende Schiff mit gänzlich unzureichenden Mitteln zu verlassen (die offensichtlich als Beschwichtigung gemeint sein dürften). Was Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein und Sachsen-Anhalt anbelangt, wäre ich mir auch dort nicht mehr zu sicher, was da vor ihnen auf dem Boden geschieht.
Karlsruhe wird mit den anstehenden Entscheidungen Fahrt aufnehmen - und das wird für die 17 Besoldungsgesetzgeber nicht der größte Born der Freude werden. Nach den angekündigten Entscheidungen wird das Thema nicht mehr zur Ruhe kommen.