Nun zum Bundesverfassungsgericht. Ich denke immer noch, dass auch Juristen am BVerfG Prioritäten setzen könnten und Verfahren innerhalb eines irgendwann vorher definierten Zeithorizonts abarbeiten könnten. Gleich 17 Verfassungsorgane, die wissentlich und in einer konzertierten Aktion, die Verfassung zu Lasten der Staatsdienern aus sagen wir mal niederen Beweggründen (Geld) nicht beachten, das ist doch so ungeheuerlich, dass es mich als Richter antreiben würde, dieses Treiben endlich abzustellen.
Du hast Recht, DeGr - noch einmal clarion zuliebe, die ich ggf. vorgestern zu sehr angegangen bin - und dann ist, denke ich, auch gut. Wen's nicht überzeugt, der soll halt unüberzeugt bleiben, weder durch das eine noch durch das andere wird's schneller gehen:
Wir können Gift drauf nehmen, Clarion, dass auch die Richter am Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung das wollen, was Du im letzten Satz schreibst. Aber es juristisch im Rahmen unserer Verfassung umzusetzen, ist schwierig: Denn abstellen kann am Ende das verfassungswidrige Handeln nur der, der verfassungswidrig handelt - und das ist also nicht das Bundesverfassungsgerichtr. Es gibt als Ultima Ratio zwar die Vollstreckungsanordnung - aber auch die ist neben dem Ziel der Garantie des effektiven Rechtsschutzes in der Praxis auch nichts anderes als der Weg hin zu einem wieder verfassungskonformen Handeln des Gesetzgebers, das also dieser zu vollziehen hat.
Insofern ist es mit schnellerem Handeln der Gerichte oder des Bundesverfassungsgerichts allein nicht gemacht. Karlsruhe hätte 2022 über die Bremer Vorlagen entscheiden können (wie es das in der Jahresvorschau im Frühjahr 2022 hat aufgezeichnet). Das hätte aber in der damaligen Situaton mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nur zu einem Ergebnis geführt - die Besoldungsgesetzgeber hätte mit dieser an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit so weitergemacht als wie zuvor, was im Verlauf des Jahres 2021 allerdings für den Zweiten Senat so noch nicht hinreichend erkennbar gewesen sein dürfte. Denn der eigentliche Einschnitt - die Einführung von Doppelverdienermodelle - ploppte erst ab 2022 auf, und zwar zunächst für Schleswig-Holstein als Einzelfall (Schleswig-Holstein darf sich sicher sein, dass es es auch deshalb dann 2023 in die Jahresvorschau geschafft hat).
Wie ich das ja an anderer Stelle deutlich tiefergehend zu begründen versucht habe, auch in Karlsruhe muss in der ersten Hälfte des Jahres 2022 ein Bewusstseinswandel eingesetzt haben, da man erst ab diesem Datum die Tiefe der Krise erkennen konnte, als nämlich mit der Tarifeinigung vom 29.11.2021 in der ersten Jahreshälfte 2022 mit deren Umsetzung das als allgemeines Phänomen deutlich wurde, wofür Berlin bereits ab Anfang 2021 die Blaupause vorgegeben hatte: dass eine umfangreiche Missachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung politisch auf die Tagesordnung gerückt worden war. Würde Karlsruhe also die Jahresvorschau nicht regelmäßig im März veröffentlichen und sie danach nicht mehr verändern, hätte es vielleicht im Sommer 2022 bereits die erst 2023 angekündigten Entscheidungen angekündigt - aber nun sind wir beim Thema Befangenheit: Auch wenn uns also 2022 oder 2023 die Besoldung und Alimentation in allen Rechtskreisen begründet als verfassungswidrig erschienen sind, Karlsruhe kann diese Sicht auf die Dinge nicht einnehmen, ohne sich damit befangen zu machen. Ein Gesetz, das vom Bundesverfassungsgericht in der konkreten Normenkontrolle betrachtet wird, ist vom Bundesverfassungsgericht ausschließlich bis zu der gefällten Entscheidung, dass es nicht verfassungskonform ist, als verfassungskonform zu betrachten. Spätere Ankündigungen oder themenbezogene Winke mit dem Zaunpfahl können vorauslaufend nicht themenbezogen geschehen.
Zugleich habe ich ja hier mehrfach die Frage gestellt, über wie viele konkrete Normenkontrollverfahren Karlsruhe durchschnittlich entscheidet - wie gesagt, in Karlsruhe gehen jährlich rund 6.000 Verfahren ein, von denen rund 5.900 Verfassungsbeschwerden sind, die wiederum in einem sehr hohen Maß an Fällen in Kammerentscheidungen als nicht zulässig oder unbegründet abgewiesen werden. Hier liegt das "Alltagsgeschäft" des Bundesverfassungsgerichts. Gehen wir mal davon aus, dass es bei einer Fünf-Tage-Woche und 30 Urlaubstagen sowie nach Abzug der Feiertage zwischen 220 und 230 Arbeitstage vorfindet, dann sind an jedem Tag deutlich mehr als 20 Verfassungsbeschwerden zu entscheiden. Und entscheiden heißt in einer nicht geringen Zahl an Fällen zu begründen. Die Begründung dieser Kammerentscheidungen fallen, wenn sie gegeben werden müssen, in der Regel kurz aus - aber hier wird kein "kurzer Prozess" gemacht, sondern die Prüfung aller Fälle hat sachgerecht zu erfolgen, was ebenfalls für die Frage gilt, ob eine wie auch immer umfangreiche Begründung gegeben werden muss.
Die Vorarbeit, die also i.d.R. von den Wissenschaftlichen Mitarbeitern geleistet wird, ist in den allmeisten Fällen also nicht gänzlich unkomplex, denn auf der Verfassungsbeschwerde steht ja nicht drauf, "kann unbegründet als unstatthaft behandelt werden". Die Vorarbeit muss also allein wegen der Rechtsschutzgarantie präzise erfolgen - auch wenn sie sachlich kurz ausfällt, was von Fall zu Fall zu entscheiden ist: Eine Kammerentscheidung (eine Kammer ist aus drei Richtern zusammengesetzt) muss in der Regel aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts abgeleitet werden können, ansonsten kann keine Kammer entscheiden - wie gesagt, es gilt hier das "Einstimmigkeitsgebot" -, sie muss also ebenso die gesamte Rechtsprechung beider Senate "im Hinterkopf" behalten. Denn anders sind sachgerechte Kammerentscheidungen nicht möglich.
Die Vorarbeiten einer Kammerentscheidung über eine Verfassungsbeschwerde kann also vielfach wiederkehrend
nicht an einem Tag erfolgen. Hier nun wird die Funktion der Wissenschaftlichen Mitarbeiter deutlich. Wenn rund 64 Wissenschaftliche Mitarbeiter in ihren 220 bis 230 jährlichen Arbeitstagen am Ende des Jahres rund 5.900 Verfassungsbeschwerden "wegarbeiten" müssen, indem sie die Entscheidungen sachgerecht vorbereiten, und wenn wir davon ausgehen, dass sie allesamt in Vollzeit und ohne Krankentage arbeiteten, dann blieben jedem für eine Verfassungsbeschwerde mal gerade zweieinhalb Tage, und zwar wenn diese Wissenschaftlichen Mitarbeiter den ganzen Tag nichts anderes machten - und wenn sie so vorgehen würden, dann würden die weiteren und deutlich mehr zeitlichen Aufwand beanspruchenden Verfahrensarten wie bspw. die konkrete Normenkontrolle gar nicht geschehen. Ist Dir bewusst, wie knapp bemessen die Zeit für die Fülle an Verfahren ist? Ein schlüssiger Beitrag zur Arbeit des "Dritten Senats" findet sich nach wie vor hier:
https://www.lto.de/karriere/im-job/stories/detail/jobprofil-wissenschaftlicher-mitarbeiter-am-bundesverfassungsgerichtNeben dieser Alltagsarbeit bleibt dann nur noch eine recht begrenzte Zeit für die deutlich mehr Aufwand bedeutenden Normenkontrollverfahren. Wenn Du Dir allein die Begründungen bspw. der seit 2012 erfolgten Entscheidungen zum Besoldungsrecht anschaust, dann stellst Du fest, mit was für einen Zeitaufwand Normenkontrollverfahren verbunden sind.
Der Senat wird also mit hoher Wahrscheinlichkeit im Verlauf der ersten Halbjahrs 2022 die Entscheidung getroffen haben, die nächste Entscheidung über den Bremer Rechtskreis hinaus auf die zwei weiteren auszuweiten - womit er sich allerdings ein gehöriges Stück an Mehrarbeit aufgeladen hat: Denn was an den Bremer Vorlagen gleichfalls komplex, aber insgesamt schlanker hätte entschieden werden können (und was als solches also mit hoher Wahrscheinlichkeit sogleich sachlich verpufft wäre), das stellt sich in dem grundsätzlichen Gehalt der Entscheidungen über die beiden anderen Rechtskreise noch einmal deutlich komplexer dar. Zugleich wird man in Karlsruhe wissen, dass dieser "Schuss" sitzen muss, da das Besoldungsrecht von den Besoldungsgesetzgebern in den letzten rund drei Jahren so zuschanden gemacht worden ist, dass das so nicht noch Jahre weitergehen darf.
Und damit sind wir nun bei der konkreten Verfahrenslänge angekommen: Die Problemlage, die sich Karlsruhe stellt, ist im gerade skizzierten Rahmen (den ich an anderen Stellen in seiner Komplexität deutlich tiefergehend dargelegt habe) so komplex, dass diese anhängigen Verfahren über die drei Rechtskreise jeweils einer sehr umfassenden Betrachtung, Beratung und Begründung bedürfen, sodass sich für jeden, der sich einigermaßen hinreichend in der Materie auskennt - denke ich -, sogleich erschließt, dass Zeiträume vorauszusetzen sind, die für andere vielfach nicht nachvollziehbar sein dürften.
Der langen Rede kurzer Sinn: Du darfst Dir gewiss sein, dass man in Karlsruhe im Rahmen der skizzierten Bedingungen seit spätestens 2021 viel Zeit in die Bearbeitung der hohen Zahl an Richtervorlagen über das Besoldungsrecht der Länder gesteckt haben wird. Das kann aber wegen des Beratungsgeheimnisses nicht publik werden, da es nicht publik werden darf. Dass das Warten für die unmittelbar und mittelbar von diesen Verfahren Betroffenen anstrengend ist, dessen sind sich auch die Richter des Zweiten Senats bewusst. Aber deshalb können sie nicht die gewissenhafte Kontrolle abkürzen oder den Zeitaufwand noch weiter erhöhen, da der erste Fall eine je größere Wahrscheinlichkeit der Fortsetzung der konzertierten Verfassungsbruchs bedeutete, je stärker die Abkürzung erfolgte, und weil der zweite Fall dann bedeutete, dass andere Kläger, die ebenfalls auf die Entscheidung in "ihren" Verfahren warten und die genauso über die Garantie des effektiven Rechtsschutzes verfügen, ggf. unverhältnismäßig lange auf eine Entscheidung warten müssten.
Auch deshalb habe ich hier in der Vergangenheit vielfach die Frage gestellt, über wie viele konkrete Normenkontrollverfahren pro Jahr eigentlich das Bundesverfassungsgericht im Durchschnitt entscheidet. Normenkontrollverfahren sind praktisch ausnahmslos langwierige Angelegenheiten.
Nun gut, und nun richten wir den Blick gespannt gen Karlsruhe und also auf die Homepage.