Dafür dürfte ein Bündel an Gründen sprechen, wobei die gewerkschaftliche Situation auf Bundesebene höchstwahrscheinlich noch einmal anders zu beurteilen ist als in den Ländern und in den Ländern sich ja ebenfalls kein einheitliches Bild zeigt. In der ersten Zeit nach der Entscheidung dürften - so ist mein Eindruck - die meisten Gewerkschaften und Verbände die Komplexität der Materie und deren Relevanz zu größeren Teilen noch nicht durchdrungen haben, nicht zuletzt, weil das Datenmaterial für entsprechend über Berlin hinausgehende Berechnungen fehlte. Das dürfte sich im Verlauf des letzten Jahres zunehmend gewandelt haben, wie die Stellungnahmen zu den jeweiligen Gesetzentwürfen zeigen: Hier finden sich zunehmend Gegenrechnungen, die zeigen, dass die Komplexität nun zunehmend angenommen und verarbeitet worden ist.
Seitdem ist dann die jeweilige konkrete Interessenslage der jeweiligen Gewerkschaft im jeweiligen Besoldungsrechtskreis zu betrachten. Dabei geht es jeder Gewerkschaft in ihrer täglichen Arbeit ja vor allem immer darum - dafür ist sie da -, Vorteile für die eigenen Mitglieder zu erwirken. Hier sind also die langen Themen, auf die man sich auf der jeweiligen Führungsebene verständigt hat, zumeist die Leitlinie der eigenen Gewerkschaftspolitik: Der einen Gewerkschaft geht es vor allem um Erhöhung von Strukturzulagen, der nächsten um die Höhergruppierung einzelner Interessensgruppen, anderen um diese oder jene Verbesserungen, die insbesondere den eigenen Mitgliedern oder größeren Teilen von jenen unter den Nägeln brennt. Gewerkschaftsarbeit bedeutet also auch hier das langsame und kräftige Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich (und dass diese Leidenschaft der einen Gewerkschaft und dem anderen Verband im jeweiligen Rechtskreis vom eigenen Führungspersonal her noch einmal deutlich mehr gegeben ist als den anderen ist ebenso in Rechnung zu stellen): Keine Gewerkschaft kann von einen Tag auf den anderen die eigenen Leitlinien aufgeben und sich DEM großen Thema verschreiben, ohne dass nicht zuletzt intern mindestens ein Sturm im Wasserglas ausbrechen würde. Die Polykratie, die die moderne Verwaltung prägt, findet sich ebenso in den Gewerkschaften und fast noch mehr in den großen Gewerkschaftsverbänden - an einmal ausgehandelte Formelkompromissen rührt niemand zumeist gerne, der um die wiederkehrend fragilen Meinungsverhältnisse in (großen) Organsisationen weiß, die nur bedingt hierarchisch organisiert sind.
Insgesamt dürften dabei insbesondere die großen Gewerkschaften und Gewerkschaftsverbände in einem das Thema kennzeichnenden strukturellen Dilemma sein: Fordern sie nicht nur allgemein, sondern konkret und mit allen Konsequenzen die Wiederherstellung einer amtsangemessenen Alimentation in ihrem Rechtskreis, dann nutzen das die jeweilig politisch Verantwortlichen politisch sicherlich dazu, jede weitere Forderung nach konkreten geringfügigen Verbesserungen damit zu verbinden und diese Forderungen so eher zurückzuweisen und sie also zu unterbinden: "Wie du mir, so ich dir" dürfte der Slogan sein, der das ganz gut beschreibt. Auch begeben sich jede Gewerkschaft und jeder Verband in die Gefahr, dass die Öffentlichkeit und ihre Mitglieder sehen, wie wenig Durchsetzungskraft sie - zumindest diesbezüglich - tatsächlich haben, sobald sie das Thema öffentlich auf die Agenda heben. Dieses Problem dürfte dabei insbesondere bei den größeren Gewerkschaftsverbänden größer sein als bei den klein(er)en, von denen jeder weiß und in Rechnung stellt, wie begrenzt deren Einflussmöglichkeit faktisch ist. Insofern gehört schon einiger Mut und ein gesunder Durchhaltewille sowie ein langer Atem und die Bereitschaft, viel Arbeit in die Materie hineinzustecken - die dann konkret an einzelnen Personen hängenbleibt -, dazu, sich wirklich auf die Hinterbeine zu stellen, wie das von den großen Verbänden vor allem der tbb vormacht. Auch muss man dann dafür sorgen, dass seine Schäflein beieinanderbleiben, was sicherlich auch nicht immer ganz einfach zu bewerkstelligen ist.
Darüber hinaus dürften die Gewerkschaften und Verbände in den anderen Rechtskreisen sehr genau zur Kenntnis genommen haben und weiterhin nehmen, dass die Thüringer Politik dem starken politischen Verhalten der Thüringer Gewerkschaften und Verbände umgehend damit begegneten, die aufgelaufenen Widersprüche negativ zu bescheiden. Damit sagen die politisch Verantwortlichen - nicht nur durch die Blume - recht deutlich: Wenn ihr mit harten Bandagen kämpft, machen wir's genauso; entscheidet euch also, was ihr wollt. Insofern wägen im Moment sicherlich insbesondere die großen Gewerkschaften und Verbände in ihren Führunsgremien ab, was sie wollen und eben auch leisten können. Dabei dürften jedem klar sein, dass man immer anders aus dem Ring heraussteigt, als man in ihn hineingegangen ist - wenn man denn am Ende noch in der Lage ist, tatsächlich aus eigener Kraft den Ring noch zu verlassen. Es muss also immer auch darum gehen, die Kräfteverhältnisse und die eigene Kraft realistisch einzuschätzen und dabei in Rechnung zu stellen, dass die Kraft, die man in ein Großkonflikt steckt, tatsächlich stark und ggf. langwierig vorhanden sein muss - und so oder so immer an anderer Stelle fehlt, eben weil jede Kraft begrenzt ist. Wenn also Gewerkschaften und Verbände nach außen gerne auf dicke Hose machen - es wirkt ihre Herkunft aus der Arbeiterschaft im Selbstverständnis und der Erwartung der Öffentlichkeit fort -, ist tatsächliche gewerkschaftliche Arbeit intern eher (unabhängig davon, dass dort ebenso der eine eher lauter ist als der andere) von Vorsicht und Abwägen gekennzeichnet. Nicht umsonst ist man als Gewerkschaft immer in der reaktiven Position, auch wenn man ein Thema aktiv angeht: Die Gegenseite hat am Ende die Gestaltungsmacht.
Die Dilemmata entsprechender gewerkschaftlicher Arbeit finden sich wiederholt gerade erneut in den Stellungnahme zum Entwurf eines Hamburgischen Gesetzes zur Besoldungs- und Versorgungsanpassung 2022, wenn auch wie zumeist nicht selten durch die Blume formuliert:
https://www.hamburg.de/contentblob/16133016/2e26b2a001f62c2aa8291fe781fe0694/data/besoldungs-und-beamtenversorgungsanpassungen-stellungnahme.pdf.