@swen
Mal wieder vielen Dank für deine Ausführungen und deiner Geduld Fragen zu beantworten oder Unklarheiten zu klären.
Wie kann denn der Bund überhaupt das 95%-Perzentil ermitteln?
Der Logik nach müssten doch alle Zahlen der 16 Bundesländer in einem Topf geschmissen werden und dann wird geschaut, wie hoch der Wert bei 95% liegt oder? Denn meiner Ansicht nach müsste doch ganz Deutschland vertreten sein oder sollen jeweils nur die örtlichen 95% des Wohnorts für den Bund gelten?
Gern geschehen, Unknown. Da die Bundesbesoldung ja genauso wie Du und verschiedene andere schreiben keine Ländergrenzen kennt, wird sich der Bund - denke ich - von der BfA zunächst das 95 %-Perzentil für jedes Land gesondert erstellen lassen müssen, um im Anschluss mit Blick auf das Land mit dem höchsten Perzentil das entsprechende Grundsicherungsniveau zu bestimmen und daran dann die entsprechende Mindestalimentation zu berechnen sowie im Anschluss die Nettoalimentation zu Grunde zu legen. Im Zuge dessen kann er dann darüber nachdenken, ob er die Mindestalimentation - die eben die
Mindest-Alimentation darstellt, also den Korridor der verfassungskonform absolut niedrigsten amtsangemessenen Alimentation, die nicht mehr als 15 % oberhalb des sozialhilferechtlichen Grundsicherungsniveaus liegt - in der Bemessung der Nettoalimentation generell nur wenig oder stärker überschreiten möchte. Je weniger er sie überschreiten möchte, desto größer ist (da dann weitgehend ein Nullsummenspiel vorliegt) die Gefahr, dass er im Anschluss in der Besoldungsdifferenzierung zu verfassungswidrigen Unteralimentationen gelangt; je stärker er sie überschreitet, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er danach zu verfassungskonformen Regelungen gelangt. Wenn er z.B. eine deutlich Erhöhung der Grundbesoldung vornehmen würde (was offensichtlich geboten ist), dann wäre unter anderem gewährleistet, dass der Kindesunterhalt einer Familie mit einem oder zwei Kindern ganz überwiegend aus den allgemeinen, d.h. „familienneutralen“ Gehaltsbestandteilen bestritten werden kann, sodass er dann auch weiterhin verfassungskonforme Familienzuschläge in etwa der selben Höhe wie bislang ausformen könnte - und genauso könnte er dann, wenn er entsprechende Grundgehaltssätze zu Grunde legen würde, ebenfalls bei weiteren Besoldungsdifferenzierungen vorgehen.
Da das aber teurer wäre, versucht der Gesetzesentwurf wie zuvor auch das Land Berlin durch offensichtlich unstatthafte Berechnungen und Regelungen zu Mindest- und Nettoalimentationsbeträgen zu gelangen, die jenseits von Gut und Böse liegen, wie in den letzten Tagen anhand der entsprechend erhöhten Familienzuschläge dargelegt.
Die Grundbesoldung in der ersten Erfahrungsstufe der Besoldungsgruppe A 4 liegt ab April bei 2.377, 55 € (vgl. im Entwurf im Anhang 4, S. 25;
nebenbei: in der Bemessung der Nettoalimentation geht der Gesetzesentwurf übrigens anders als direktiv gefordert nicht von der Erfahrungsstufe 1 aus, sondern legt willkürlich die Erfahrungsstufe 5 mit einem Betrag der Grundbesoldung in Höhe von 2.603,17 € zu Grunde und tut damit unstatthaft so, als läge das Grundgehalt um rund 225,- € höher (also um mehr als neun Prozent höher), als es tatsächlich ist, womit also das Grundgehalt in der Realität für alle weiteren Beamten unstatthaft um neun Prozent gekürzt wird; vgl. im Entwurf S. 51 oben in der linken Spalte der Tabelle; das BVerfG legt hingegen zur Bemessung der Nettoalimentation direktiv fest: "Maßgeblich ist die niedrigste vom Dienstherrn für aktive Beamte ausgewiesene Besoldungsgruppe. [...] Abzustellen ist auf die niedrigste Erfahrungsstufe, weil angesichts der Vielgestaltigkeit der Erwerbsbiographien und im Hinblick auf die angehobenen Einstellungshöchstaltersgrenzen nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass ein verheirateter Beamter mit zwei Kindern noch in der ersten Erfahrungsstufe eingeordnet ist." Rn. 74 f.)
Unabhängig von weiteren Zuschlägen erhöht sich diese Grundbesoldung in Höhe von 2.377,55 € anhand der entsprechend zuvor hier besprochenen Familienzuschläge z.B. in der Region München um 1.741,16 € für eine vierköpfige Beamtenfamilie, also um rund 73,2 %. Bislang hatte das Grundgehalt (unabhängig von weiteren Zuschlägen) 2.367,07 betragen und die Familienzuschläge 426,13 €; es erfolgt also bislang eine Erhöhung um rund 18 % (vgl.
http://oeffentlicher-dienst.info/c/t/rechner/beamte/bund?id=beamte-bund-2020neu&g=A_5&s=1&f=3&z=100&zulage=&stj=2020&stkl=3&r=0&zkf=2). Mit diesem Prozentwert befand sich der Bund etwa in den Gefilden der Prozentwerte, die in der Vergangenheit von ihm wie den anderen Ländern kontinuiert worden sind. Hier zeigt sich genau das schon genannte Fertilitätsprinzip; neben das Leistungsprinzip tritt nun die Kinderzahl als maßgebliche Konstante in das Besoldungsrecht ein: Wer sein Grundgeghalt um rund Dreiviertel erhöhen möchte, leiste nicht in seiner Dienststelle, sondern an anderer Stelle entsprechend mehr.
Unabhängig davon, dass u.a. - wie vormals gezeigt - durch die systematisch zu gering bemessenen Unterkunftskosten das Grundsicherungsniveau deutlich zu gering bemessen worden ist, zeigt sich das gesamte Ausmaß der willkürlichen Bemessung auch hier: Denn in den letzten zehn Jahren haben sich ja nicht nur die Unterkunftskosten für Familien mit zwei Kindern massiv erhöht, sondern für alle. Nehmen wir also wieder München und nun das Portal Immobilienscout 24 zur Hilfe:
Dort sind zurzeit 2.634 freie Wohnungen im Angebot (vgl.
https://www.immobilienscout24.de/). Billigen wir jenem unverheirateten und kinderlosen Beamten der Besoldungsgruppe A 4 in der ersten Erfahrungsstufe also mal zwei Zimmer und 55 qm zu und eine Miethöhe bis 1.200,- € (also mehr als die Hälfte seines Brutto-Grundgehalts), dann finden sich noch genau 204 entsprechende Wohnungen. Im ständen also knapp acht Prozent des Angebots zur Verfügung. Grenzen wir den Bereich des Umkreises auf 5 km ein, dann gibt es 1.494 Treffer, von denen noch 59 im entsprechenden Angebot wären (rund 3,9 % bzw. 2,2 % von allen); bei 4 km sind es noch 35 Treffer von dann noch vorhandenen 1.100 Treffern (rund 3,2 % bzw. 1,3 % von allen); bei 3 km finden sich zwölf entsprechende Treffer bei 649 freien Wohnungen (rund 1,8 % bzw. 0,5 % von allen); bei 2 km acht entsprechende Treffer bei 316 freien Wohnungen (rund 2,5 % bzw. 0,3 % von allen); bei 1 km vier entsprechende Treffer bei 75 freien Wohnungen (rund 5,3 % bzw. 0,15 % von allen).
In Rn. 60 der aktuellen Entscheidung hebt das BVerfG hervor: "Anders als die Regierung des Saarlandes in ihrer Stellungnahme ausführt, kann der Dienstherr nicht erwarten, dass Beamte der untersten Besoldungsgruppe ihren Wohnsitz „amtsangemessen“ in dem Ort wählen, der landesweit die niedrigsten Wohnkosten aufweist. Diese Überlegung entfernt sich unzulässig vom Grundsicherungsrecht, das die freie Wohnortwahl gewährleistet, insbesondere auch den Umzug in den Vergleichsraum mit den höchsten Wohnkosten." Von dieser Direktive sind die gerade genannten Zahlen - eben weil die Unterkunftskosten an die Kinderzahl gebunden werden und so ein großer Teil der Bundesbeamten von einer realitätsgerechten Berücksichtigung ihrer Unterkunftskosten ausgeschlossen wird - weit entfernt, da der Bund systematisch missachtet, dass die aktuelle Entscheidung zu Berlin nicht die Familienzuschläge, sondern die Grundgehaltssätze für sämtliche betrachteten Jahre für verfassungswidrig erklärt hat.