SwenTanortsch:
Danke für deine Antworten und Ausführungen.
Off records:
"Vulgärpragmatismus" ist sehr treffend; genau diese (zerstörerische) Art von Pragmatismus meinte ich.
Danke auch für deine von mir so wahrgenommene Tendenz zur verstärkten Text-Strukturierung, jede Absatzmarke hilft mir beim Lesen und Verstehen
Zur Sache:
Ich teile deine Faktendarstellung uneingeschränkt. Bei den Bewertungen gehe ich auch noch weitestgehend mit, so dass eine Diskussion hier mehr in die Semantik u.ä. abdriften würde; daher auch hier kein Widerspruch.
Ich weiche jedoch in der Optionsauswahl (vulgo Spatz oder Taube) aus m.E. wohlüberlegten Gründen weiter von deiner Darstellung ab. Hier sehe ich die schlichte Unfinanzierbarkeit einer allgemeinen Erhöhung bereits der Grundbesoldung. Aus der "Volkswut" (die BLÖD-Überschrift können wir uns alle selbst denken) einer allgemeinen Erhöhung für "die (faulen) Beamten" um über 15% würde m.E. noch deutlich mehr Schaden entstehen als aus dem perpetuierten Verfassungsbruch ...
Auch das Argument der Wut in der Bevölkerung kann ich gut nachvollziehen, ist für sich betrachtet, denke ich, schlüssig und zugleich lässt es sich nicht widerlegen und auch nur bedingt erhärten, da wir ja beide nicht in die Zukunft schauen können.
Ich halte den dahinterstehenden Geist der Politik (nicht Deinen, denn Du musst und kannst ja genauso wenig wie ich so handeln, da wir nicht in der Verantwortung der Mandatsträger stehen) für falsch, nämlich aus mindestens zwei Gründen, wobei der zweite Grund ernster zu nehmen ist als der zweite, wobei der erste Grund nicht untypisch und so mit dem zweiten verbunden ist:
1. Die Haltung "Das können wir der Bevölkerung nicht zumuten, weil sie das nicht mitgeht (und uns das dann Stimmen kostet)" ist bequem und zugleich eine nicht ganz untypische Ausrede, um unangenehme Wahrheiten zu umgehen - und unser Thema ist für die Politik eine unangenehme Wahrheit, da ja ihre Bindung an die Verfassung unabstreitbar ist, so wie ebenfalls mindestens die zumeist eklatante Verletzung des Mindestabstandsgebots in allen Rechtkreisen nicht abgestritten werden kann. Das Argument kann also als Ausdruck politischer Bequemlichkeit verstanden werden, die letztlich - sofern sie wiederkehrend handlungsleitend ist - in Populismus münden muss, nämlich dass man eben aus einem Vulgärpragmatismus heraus wiederkehrend nur noch Entscheidungen trifft, die in der Bevölkerung oder großen Teilen von ihr nach dem eigenen Empfinden oder dem der Meinungsforschungsinsitute gut ankommen, was jede politische Programmatik und auch die Marke, wofür eine Partei steht, auf Dauer zunichte macht. In diesen Zeilen zeigt sich, dass dieser Vulgärpragmatismus offensichtlich nicht gänzlich unverbreitet und also in der Vergangenheit - so wie in meinen letzten Beiträge skizziert (s. die 1970er und die nachfolgenden Jahrzehnte) - eher häufiger als seltener praktiziert worden ist: Denn wer weiß noch - häufig selbst in den politischen Parteien selbst -, wofür sie jeweils stehen. Nicht umsonst regen sich in den derzeitigen Regierungsparteien Widerstände an der Basis, die entsprechend der eigenen traditionellen Werte eine andere Politikgestaltung fordern:
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/protestbrief-gruene-basis-100.htmlhttps://www.merkur.de/politik/fdp-ampel-koalition-austritt-aufruf-petition-kritik-bundesregierung-votum-kassel-92665729.htmlNun sollte man die seit jeher gegenüber der Parteiführung kritischen Jusos nicht als Markstein für die gesammte SPD nehmen, aber auch die Wahl Philipp Türmers zeigt in die entsprechende Richtung, um auch hier nur ein Beispiel zu nennen:
https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/philipp-tuermer-das-ist-der-neue-spd-rebell-/29510552.htmlNun sind solche Tendenzen vulgärpragmatischen Handelns für Regierungen nicht ganz untypisch, da mit der reinen Lehre allein keine Politik gemacht werden kann - allerdings kann sich ja jeder selbst mal fragen, wofür die jeweilige Regierungs- und Oppositionsparteien eigentlich stehen, soll heißen, man überlegt sich drei Themen und gibt sich selbst die Antwort: "Die ... steht für ... und wird das Thema deshalb so ... angehen." Ich halte es für wahrscheinlich, dass man noch vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren zu eher eindeutigeren Antworten gekommen ist.
2. Die gerade skizzierte mangelnde Unterscheidbarkeit der politischen Teilhaber dürfte sich auch auf die zunehmende gesellschaftliche Komplexität - Stichworte: soziale Differenzierung und sozialer Wandel - zurückführen lassen und ebenso durch die neuen Medien verstärkt werden, die alle (auch und gerade Politiker) dazu zwingen und aber auch verführen, permanent zu jedem Thema die eigene Meinung kundzutun, an der sie sich dann messen lassen müssen. Hier sehen wir also - wenn wir uns die drei von Andreas Voßkuhle benannten Faktoren anschauen - die beiden erstgenannten sachlichen Problematiken: Vulgärpragmatismus schlägt negativ auf die Qualität von Entscheidungen und damit eher auf ihre daraus resultierende mangelnde Funktionalität zurück - womit der dritte Faktor in den Blick gerät, der in der Politik fast noch mehr der ausschlaggebende ist: nämlich das personale Moment.
Politiker, die sich nicht in der Lage sehe, über Populismus hinweg, mit der Bevölkerung so zu sprechen, dass sie ihr auch und gerade unangenehme oder nicht populäre Ansichten und also dann entsprechende Entscheidungen zumuten und insbesondere erklären können, werden auf Dauer - unabhängig von ihrer weiteren Fähigkeit, Mehrheiten zu organisieren - als schwach wahrgenommen: Sie öffnen damit die Türen für Populisten, sofern sie nicht selbst aus ihrer Schwäche heraus populistisch handeln. Der kleine Mann und die kleine Frau (also wir) wollen von der großen Politik, von der man ausgehen muss, dass sie einen besseren Überblick hat, ihre Sicht auf die Welt und ggf. auch die Welt selbst erklärt bekommen - nicht umsonst haben sich bspw. große historische Führungspersönlichkeiten wiederkehrend die damals neuen Medien zunutze gemacht, um mit der Bevölkerung ins Gespräch zu kommen, wie das in einer schwer krisenhaften Zeit bspw. Roosevelt oder Churchill mit ihren Radioansprachen gemacht haben. Sie haben dabei nicht, um die tatsächliche Situation weitgehend realistisch(er) zu beschreiben, mit Kritik und der Darstellung von Problemen gegeizt, also der Bevölkerung etwas zugemutet - auch das hat sie zu jenen Führungspersönlichkeiten gemacht, als die sie historisch zu bewerten sind (und den einen hat das am Ende höchstwahrscheinlich eher verfrüht das Leben aus Erschöpfung gekostet und den anderen die Wiederwahl, da jeder auf der Insel nach Ende desWeltkriegs wusste, wofür ihr Kriegspremier stand; der gern als Floskel von Politikern gebrauchte Satz: "Erst das Land, dann die Partei, dann ich selbst" ist hier gelebt worden).
Nicht umsonst sehnt sich heute eine nicht kleiner werdende Zahl an Menschen nach Politikern, die neben Standfestigkeit auch über die Fähigkeit verfügen, die Sachlage erklären zu können: Auch deshalb steht ein Boris Pistorius weiterhin in allen Umfragen ganz oben in den Beliebtheitswerten, was auch darauf zurückzuführen ist, dass er sich nicht scheut, unangenehme Wahrheiten als solche auszusprechen und seine Sicht auf die Dinge standhaft zu verfolgen, was beides keine Attitüde bei ihm ist. Seine im positiven Sinne Knorrigkeit, die nicht vom ersten zarten Lüftchen umgeworfen wird, ist in Krisenzeiten das, wonach die Bevölkerung verlangt (und worüber sie sich in guten Zeiten dann gerne eher lustig macht - aber das ist ein anderes Thema).
Der Wunsch, mitgenommen zu werden und dafür dann bei allem dazugehörenden Meckerns sich mit jenen Politikern zu arangieren, die über entsprechende Qualitäten verfügen, ist ja unübersehbar (vgl. nur für Mitteldeutschland neuerdings
https://efbi.de/details/leipziger-autoritarismus-studie-2022-erschienen-2.html). Der Vulgärpragmatismus konterkariert hingegen genau jenes Bedürfnis und lässt anderen Projektionen Raum, geht also mit einem Autoritäts- und Respektsverlust einher - er öffnete darüber hinaus der Tendenz nach "Blitzableitern" Tür und Tor, wie das der gerade genannte Link (über-)deutlich zeigt.
Ergo: Ein Politiker, der sich auch beim Thema Beamtenbesoldung als standfest erweisen würde, die Wahrheit und Funktionalität auf seiner Seite hätte und in der Lage wäre, die Notwendigkeit der Besoldungsanpassung auch zu ihrem eigenen Nutzen der Bevölkerung zu erklären, dürfte ggf. mit Unverständnis und Meckereien rechnen, so wie sich das ebenfalls die davon monetär profitierende Gruppe - deren Profit in der Wiederherstellung einer amtsangemessenen Alimentation läge - sicherlich anhören dürfte. Aber auf lange Sicht würde er damit der Gesellschaft und Bevölkerung einen großen Dienst erweisen - denn zwar würde das deutlich teurer werden. Allerdings würde davon eine deutliche Attraktivitätssteigerung ausgehen, die zugleich in der jungen Generation, die tendenziell dem öffentlichen Dienst nicht abgeneigt ist, auf einen fruchtbaren Boden treffen würde, sodass die Wahrscheinlichkeit steigen sollte, dass wir wieder hinreichend genug qualifizierten Nachwuchs für den öffentlichen Dienst gewinnen könnten, der dringen nötig ist, wenn wir die anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben bewerkstelligen wollen, die uns in den nächsten mindestens fünfzehn bis zwanzig Jahren (und höchstwahrscheinlich eher noch etwas länger) bevorstehen werden - und diese Aufgabenbewerkstelligung wird viel Geld kosten, das klug angelegt werden sollte, wenn die Krisen bewältigt werden sollen, denke ich.
Ergo: Wer als verantwortlicher Politiker beim kleinsten zarten Lüftchen als erstes an seine Fönwelle denkt, sollte sich vielleicht eher als Posterboy in die Reihe der Werbeschaffenden einreihen und ggf. nicht Politik als Beruf zum Lebensmittelpunkt machen. Damit würde auch er unserem Land einen Dienst tun, so wie das Tag für Tag die hundertausenden von unteralimentierten Beamten und die nicht kleinere Zahl der im öffentlichen Dienst Angestellten tun, die man ebenfalls nicht konkurrenzfähig entlohnt.
Wer sich nicht traut - und zugleich davon vordergründig profitiert, dass er sich nicht traut, weil er damit öffentliche Finanzmittel anderweitig verwenden kann und also hier für keine Mehrheiten sorgen muss und dort durch Mittelzuschreibung eher für Mehrheiten sorgen kann - oder sich als unfähig erweist, das Problem der Unteralimentation und die daraus folgenden Wahrheits- und Dysfunktionalitätsprobleme der Bevölkerung zuzumuten und zu erklären, der darf damit rechnen, dass er auch in anderen Politikfeldern, die schwieriger sind als dieses, beständig versagt, also ungeeignet ist, unser Gemeinwesen zu organisieren, was für ihn über kurz oder lang die Wahrscheinlichkeit erhöhte, abgewählt zu werden, und für uns, schlecht regiert zu werden. Insofern bin ich hier eher anderer Meinung als Du: In Krisenzeiten bedarf es gerade solcher Typen, die klar aussprechen, was Sache ist, da die Menschen - auch wenn sie sich über die Einzelheiten aufregen - in ihr nach Führung verlangen. Insofern wäre jetzt auch politisch der deutlich bessere Zeitpunkt, sich des Themas ernsthaft anzunehmen und sich also wieder thematisch handlungsfähig zu machen und nicht darauf zu warten, bald wieder - und zurecht - wie Ochsen am Nasenring durch die Manege gezogen zu werden.
Und das wird mit hoher Wahrscheinlichkeit so kommen in Anbetracht dessen, dass der Entwurf aus dem Frühjahr sich in seinem ganzen sachlichen Chaos strukturell nicht dazu eignet, nun die deutlich höheren Bürgergeldbeträge sachlich zu integrieren. Da der ganze sachliche Unsinn des Entwurfs inhaltlich völlig auf Kante genäht war, wird man nun irgendwelche weiteren Nebenkomponenten mit hohen Beträgen ausstatten müssen, wenn man nicht die Grundgehaltssätze sachgerecht bestücken will, was man ja nicht will. Und all das wird sich sachlich noch weniger begründen und also verkaufen lassen als der ganze Unsinn, der jetzt schon vorliegt - und damit wären wir wieder bei den drei Faktoren Andreas Voßkuhles: Qualität, Funktionalität und Integrität. Nichts davon bieten der Entwurf und seine sachlichen Grundlagen und damit auch nicht das Personal, das ihn vertritt - ergo könnte man es neben Andreas Voßkuhle zu seinem 100. Geburtstag auch mit Loriot versuchen:
https://www.youtube.com/watch?v=pEs2AQwKr2EDen Tabak kann man in den Entwurf einwickeln und dann mit den beiden weiteren Gegenständen in Luft auflösen, das wäre allemal intelligenter, als wie das Häschen (lies: Kannichen) auf die Schlange zu starren. Der Innenministerin ist ja in der letzten Landtagswahl eher nicht zum Verhängnis geworden, dass man sie in der Bevölkerung als besonders führungsstark und zu der Sache stehend wahrgenommen hat, in deren Nähe irgendwo sie offensichtlich stehen wollte, wenn's denn für sie gut ausgegangen wäre. Hätte die SPD nun eine Marie-Agnes Strack-Zimmermann (die keine SPD-Politikerin ist; es geht um den Typus) aufgestellt, die gesagt hätte: "right or wrong, my country - ich bleibe in Hessen, egal, was passiert", dann wäre ihr mit nicht ganz geringer Wahrscheinlichkeit ein anderes Ergebnis ins Haus gestanden, jedenfalls mindestens, was die erzielten Prozentwerte anbelangt.