Stellungnahme bayr. Richterverein
Barbara Stockinger
Vorsitzende Richterin am
Oberlandesgericht
Dienstlich:
Oberlandesgericht München
Nymphenburger Straße 16, 80335 München
Telefon: 089 5597-5647
E-Mail: Barbara.Stockinger@olg-m.bayern.de
Privat:
Telefon: 0172 9168428
E-Mail: Barbara.Stockinger@bayrv.de
Internet:
http://www.bayrv.de/Ihr Zeichen,
Ihre Nachricht vom
Bitte bei Antwort angeben
Unser Zeichen
23-P 1502.1-2/10
17. August 2022
brv/bs 31. August 2022
Entwurf eines Gesetzes zur Neuausrichtung orts- und familienbezogener Besoldungsbestandteile;
Verbandsinformation
Sehr geehrte Damen und Herren,
für das oben näher bezeichnete Schreiben und die damit erfolgte Übersendung des Gesetzesentwurfs
nebst Begründung danke ich.
Der Bayerische Richterverein e. V. (BRV) beschränkt sich angesichts der Kürze der in der
Ressortabstimmung gewährten Stellungnahmefrist und der noch bevorstehenden vollständigen
Verbändeanhörung auf die folgenden grundsätzlichen Anmerkungen zu dem Entwurf für
ein Gesetz zur Neuausrichtung orts- und familienbezogener Besoldungsbestandteile:
Der BRV begrüßt, dass nach über zwei Jahren seit der Verkündung der letzten beiden Entscheidungen
des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 (2 BvL 4/18 und 2 BvL 6/17
u. a.) auch im Freistaat Bayern der Handlungsbedarf und die Notwendigkeit einer Anpassung
des bayerischen Besoldungswesens erkannt wurden.
Der BRV stimmt auch grundsätzlich mit der Bayerischen Staatsregierung darin überein, dass
ein modernes Staatswesen und erstarkender, leistungsfähiger öffentlicher Dienst, wie er im
Freistaat Bayern in der Vergangenheit zu finden war, nur durch eine überfällige Verbesserung
der Besoldungsstruktur zu erreichen sein wird. Dieses Ziel lässt sich allerdings mit einem
Bayerischer Richterverein e.V., c/o VRiOLG Barbara Stockinger,
OLG München, Nymphenburger Straße 16, 80335 München
Bayerisches Staatsministerium
der Finanzen und für Heimat
Odeonsplatz 4
80539 München
Bayerischer Richterverein e.V.
Verein der Richter und Staatsanwälte in Bayern
Die Vorsitzende
- 2 -
Sammelsurium an Zulagen, um Dienstanfänger über die prekären Besoldungsstrukturen hinwegzutäuschen
und überhaupt noch qualifizierten Nachwuchs gewinnen zu können, nicht erreichen.
Das Fehlen einer amts- und verfassungsangemessenen Alimentation der Richter und Staatsanwälte
ist erst kürzlich sogar von der Kommission der Europäischen Union in deren Bericht
zur Rechtsstaatlichkeit in Europa 2022 vom 13.07.2022 angemahnt und Verbesserungen als
dringend notwendige bezeichnet worden (Europäische Kommission, SWD<2022> 505 final,
S. 3).
Der Gesetzesentwurf stellt hierfür einen aus hiesiger Sicht verfassungsrechtlich nicht tragfähigen
Ansatz dar. Er wird absehbar keiner (verfassungs-)gerichtlichen Kontrolle standhalten.
Der Entwurf genügt nicht den prozeduralen Anforderungen an ein Besoldungsgesetz. Ihm liegen
rein ergebnis- und zielorientierte Annahmen zu Grunde, deren Vorhandensein mehr politischer
(Wunsch-)Vorstellung als konkreter Begründbarkeit entspringen.
Der Gesetzgeber ist gehalten, bereits im Gesetzgebungsverfahren die Fortschreibung der Besoldungshöhe
zu begründen. Die Ermittlung und Abwägung der berücksichtigten und berücksichtigungsfähigen
Bestimmungsfaktoren für den verfassungsrechtlich gebotenen Umfang der
Anpassung der Besoldung müssen sich in einer ausreichenden Darlegung niederschlagen.
Eine bloße Begründbarkeit genügt diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Der
mit der Ausgleichsfunktion der Prozeduralisierung angestrebte Rationalisierungsgewinn kann
auch mit Blick auf die Ermöglichung von Rechtsschutz effektiv nur erreicht werden, wenn die
erforderlichen Sachverhaltsermittlungen vorab erfolgen und in der Gesetzesbegründung dokumentiert
werden. Die Prozeduralisierung zielt auf die Herstellung von Entscheidungen und
nicht auf nachträgliche Begründung (BVerfGE 139, 64 <Rn. 130>; 140, 240 <Rn. 113>).
Diesem Maßstab genügt der Gesetzentwurf nicht. Wesentliche Berechnungsfaktoren sind unzureichend
ermittelt oder ihre Ermittlung ist zumindest nicht in einer Weise transparent gemacht,
dass sie nachvollzogen werden kann. Einer gerichtlichen Überprüfung wird dies nicht
standhalten.
Die Annahme, dass praktisch jeder Ehegatte oder Lebenspartner einer Beamtenfamilie mit
zwei Kindern ein durchschnittliches Jahresbruttoeinkommen von mindestens 20.000,00 € erzielt,
findet in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Grundlage. Auf die
behaupteten tatsächlichen Verhältnisse kommt es damit nicht weiter an.
Mit Blick auf die Einhaltung des Mindestabstandsgebots der Besoldung von der Grundsicherung
bricht der Gesetzentwurf mit der bisherigen Bezugsgröße der Besoldung. Eine
- 3 -
Anpassung der Bezugsgröße an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse ist nicht grundsätzlich
abzulehnen. Allerdings wird der Gesetzentwurf den Folgen eines solchen Schrittes nicht
gerecht.
Mit der Änderung der verfassungsgerichtlichen Bezugsgröße setzt sich der Gesetzentwurf in
offenen Widerspruch zu dem Prüfprogramm des Bundesverfassungsgerichts, ohne den Widerspruch
sachgerecht aufzulösen. Das Leitbild der Besoldung hat nicht nur Bedeutung für
das Mindestabstandsgebot.
Es ist vor allem Teil des Referenzsystems selbst, auf dessen Grundlage der Besoldungsgesetzgeber
die Angemessenheit der Besoldung beurteilt. Amtsangemessene Beamten- und
Richterbezüge sind so zu bemessen, dass sie Beamten und Richtern eine Lebenshaltung ermöglichen,
die der Bedeutung ihres jeweiligen Amtes entspricht (vgl. BVerfGE 117, 330
<355>). Ändert der Gesetzgeber den Referenzrahmen, muss er anhand des neuen Referenzrahmens
die Angemessenheit der Besoldung insgesamt neu bewerten.
Dies unterlässt der Gesetzentwurf vollständig.
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass beide Ehegatten durch Arbeit zum Familienunterhalt
beitragen. Damit bedarf es sowohl für die Angemessenheit der Besoldung als auch für das
Mindestabstandsgebot anderer Parameter. Diese benennt der Gesetzentwurf nicht. Damit verstieße
der Dienstherr gegen seine verfassungsrechtliche Pflicht zur amtsangemessenen Alimentation,
denn er hat kein Referenzsystem mehr, an dem er die Angemessenheit beurteilen
könnte.
Die unverrückbare Erkenntnis einer verfassungswidrigen Besoldungsstruktur bis einschließlich
zur Grundbesoldung im (Beförderungs-)Amt der Besoldungsgruppe A 10 ist für jedermann
im Freistaat Bayern beschämend. Es sind aber nicht die Beamten und Richter, die dies zu
verantworten haben. Vielmehr müssen sie es seit Jahren hinnehmen. Die Bereitschaft, dies
klaglos fortzuführen, ist erschöpft.
Es sind unwiderlegbar unter anderem die Sparmaßnahmen der vergangenen Jahrzehnte, allen
voran die „Nullrunden“ in den Jahren 2004 bis 2007, die zu einem derartigen Absacken
des gesamten Besoldungsgefüges geführt haben.
Bis heute sind diese dem öffentlichen Dienst auferlegten „Sonderopfer“ trotz schon damals
gebotener Besoldungserhöhungen nie ausgeglichen worden. Sie wirken dauerhaft fort. Gleiches
gilt für die Abschmelzung der Sonderzahlung und die ersatzlose Streichung des Urlaubsgeldes.
Mehr als eine überwiegend den Tarifabschlüssen im Öffentlichen Dienst angenäherte
Besoldungserhöhung ist seit über 20 Jahren nicht mehr erfolgt.
- 4 -
Nach Maßgabe der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts lässt sich infolgedessen
erst ab der Besoldungsgruppe A 11 ein Einhalten des Mindestabstands zur Grundsicherung
feststellen.
Die Aufstockung des neuen Orts- und Familienzuschlags für die Besoldungsgruppen A 3 und
A 10 nach Maßgabe von Tabelle 2 der Anlage 5 mag hierin seine Begründung finden. Die –
erstmalige – Wahrung des gebotenen Abstands begründet allerdings gerade nicht eine verfassungsrechtliche
Unbedenklichkeit der Besoldung aller höheren Besoldungsgruppen. Dies
umso weniger, als gegenläufig die Besoldung von Beamten bis zur Besoldungsgruppe A 7
selbst in der jeweils höchsten Erfahrungsstufe nie den Mindestabstand wahrt.
Den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts entsprechend folgt aus dem Umstand, dass
mehr als die Hälfte der Tabelle der Besoldungsordnung A als verfassungswidrig anzusehen
ist, mehr als nur ein Indiz dafür, dass die Besoldungsstruktur im Freistaat Bayern insgesamt
verfassungswidrig niedrig ist.
In diesem Zusammenhang darf nicht außer Acht gelassen werden, dass beispielsweise jedem
Euro Zuverdienst brutto eines Beamten in der Besoldungsgruppe A 12, Erfahrungsstufe 4, ein
Lohn- bzw. Einkommenssteuerabzug von rund 40 % gegenübersteht.
Dies bedeutet nichts anderes, als dass bei Auszahlung der monatlichen Besoldung in derselben
juristischen Sekunde sogleich 40 % - und mehr – jeder Besoldungserhöhung wieder in die
öffentlichen Kassen zurückfließen.
Der bislang reflexhaft vorgebrachte Einwand nicht finanzierbarer Personalaufwendungen und
Versorgungslasten ist weder sachlich zu rechtfertigen noch im Hinblick auf die Leistungsbereitschaft
und Loyalität aller Beamten und Richter länger akzeptabel.
Verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet sodann die nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung
aller ledigen und kinderlos verheirateten Beamten und Richter im Hinblick auf den
neu einzuführenden Orts- und Familienzuschlag.
Der Gesetzentwurf vermag nicht im Ansatz zu begründen, weshalb eine in Anlehnung an die
„Progression“ der sieben Mietenstufen nach § 12 WoGG ähnliche Staffelung des Orts- und
Familienzuschlags auch in den neu einzuführenden Stufen L und V unterbleiben kann.
Die mangelnde sachliche Rechtfertigbarkeit wird dadurch umso deutlicher, als der Gesetzesentwurf
eine Staffelung der Zulage zum neuen Orts- und Familienzuschlag für Beamte der
Besoldungsgruppen A 3 bis A 10 unter Berücksichtigung der sieben Mietenstufen ohne Weiteres
darzustellen vermag.
- 5 -
In dem Gesetzentwurf wird vollständig verkannt, dass auch außerhalb des Ballungs- und Verdichtungsraums
München die Wohn- und Lebenshaltungskosten in mindestens gleichem
Maße steigen und damit die dort lebenden und arbeitenden Beamten und Richter über Gebühr
belasten. Es ist nicht erkennbar, dass etwa Gas- und Strompreise nur in der vorgenannten
Region regelrecht explodieren.
Dies sind, in der gebotenen Kürze, nur die fundamentalen Kritikpunkte, die der Rechtsstaatsmäßigkeit
des vorliegenden Gesetzentwurfs entgegenzuhalten sind und auch vor dem Bundesverfassungsgericht
entgegenzuhalten sein werden.
Der BRV behält sich im weiteren Gesetzgebungsverfahren vor, auf weitere schon jetzt absehbare
Schwächen und Unzulänglichkeiten einzugehen, sofern nicht ohnehin eine grundlegende
Überarbeitung des Entwurfs vorgenommen wird.
Mit freundlichen Grüßen