Autor Thema: Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?  (Read 2386 times)

matzl

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Hallo Zusammen,
Man stelle sich folgende Situation vor.
In Kommune A wurden seit über 10 Jahren Rufbereitschaften falsch abgerechnet und deshalb zu wenig Entgelt ausbezahlt. Die tarifrechtliche Situation ist natürlich eindeutig. Anspruch besteht natürlich gemäß der Ausschlussfrist nur auf Auszahlung des fehlenden Entgelts für die letzten 6 Monate.
Die Frage ist jetzt. Dürfte die Kommune auf freiwilliger Basis das Entgelt über die 6 Monate hinaus nachzahlen und quasi auf die tarifliche Ausschlussfrist verzichten?
Kann es zu anderen Problemen kommen? Es gab Stichworte wie „Veruntreuung von Steuergeldern“, Verstoß gegen das Gebot der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit?

Viele Grüße Matzl

XTinaG

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #1 am: 07.02.2022 08:44 »
Die Gemeinde kann auf eine entsprechende Einrede verzichten.

Organisator

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #2 am: 07.02.2022 08:57 »
Es würde hier ein Verstoß gegen das Haushaltsprinzip der Sparsamkeit vorliegen und diser müsste deshalb gut abgewogen und begründet sein.

matzl

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #3 am: 07.02.2022 09:06 »
Vielen Dank für deine erste Rückmeldung XTinaG.
Ich konkretisiere die Situation noch etwas:
Die Kommune liegt in Bayern, es gilt also bayerisches Kommunalrecht.
Die Diskussion geht zwischen der Kommunalverwaltung und dem politischen Gemeinderat hin und her. Die Verwaltung möchte nur die 6 Monate nachzahlen. Der Gemeinderat wünscht sich eine darüber hinausgehende Auszahlung.
Die Verwaltung hat sich daraufhin beim Kommunalen Arbeitgeberverband rückversichert und der KAV sieht beim Verzicht auf die tarifliche Ausschlussfrist den Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit verletzt. Außerdem sieht der KAV die Gefahr eine Beanstandung des Bayerischen Kommunalen Prüfungsverbands und es könnte „sogar der Straftatbestand der Veruntreuung im Raum stehen“. Diese Aussage ist für ehrenamtliche Gemeinderäte natürlich schwer zu greifen und durchaus einschüchternd. Welche Argumente gibt es, die die Aussagendes KAV entgegenstehen können?
Es wurde auch auf eine Geschichte aus Bamberg verwiesen: https://www.tvo.de/untreueverdacht-im-bamberger-rathaus-519930/https://www.tvo.de/untreueverdacht-im-bamberger-rathaus-519930/
Viele Grüße
Matzl

Isie

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #4 am: 07.02.2022 18:05 »
Falls es Anhaltspunkte dafür gibt, dass bewusst falsch abgerechnet wurde, erhebe den Einwand der unzulässigen Rechtsausübung. Damit kannst du die Ausschlussfrist evtl. aushebeln.

WasDennNun

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #5 am: 08.02.2022 07:41 »
Schon cool, jahrelang werden MA betrogen und jetzt haben sie Angst diesen Schaden zu korrigieren.
Anzeige wegen Betrug könnte diese Menschen ja vielleicht helfen.
Was sagt eigentlich die lokale Presse zu  dem Skandal?

Saggse

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #6 am: 08.02.2022 14:09 »
Schon cool, jahrelang werden MA betrogen und jetzt haben sie Angst diesen Schaden zu korrigieren.
Anzeige wegen Betrug könnte diese Menschen ja vielleicht helfen.
Was sagt eigentlich die lokale Presse zu  dem Skandal?
Angenommen, es liegt tatsächlich ein Betrug o.ä. vor - könnte man dann nicht argumentieren, die Einrede der tariflichen Ausschlussfrist wäre rechtsmissbräuchlich.

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #7 am: 08.02.2022 14:14 »
Schon cool, jahrelang werden MA betrogen und jetzt haben sie Angst diesen Schaden zu korrigieren.
Anzeige wegen Betrug könnte diese Menschen ja vielleicht helfen.
Was sagt eigentlich die lokale Presse zu  dem Skandal?
Angenommen, es liegt tatsächlich ein Betrug o.ä. vor - könnte man dann nicht argumentieren, die Einrede der tariflichen Ausschlussfrist wäre rechtsmissbräuchlich.

Nein, wieso? Mann kann sich ja dann am Betrüger schadlos halten. Ansonsten wäre dem Betrogenen auch vorzuhalten, den Betrug nicht vorher entdeckt zu haben. Die Berechnungsgrundlagen sind allgemein zugänglich, man hätte nachrechnen können.

Saggse

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #8 am: 08.02.2022 14:32 »
Nein, wieso? Mann kann sich ja dann am Betrüger schadlos halten. Ansonsten wäre dem Betrogenen auch vorzuhalten, den Betrug nicht vorher entdeckt zu haben. Die Berechnungsgrundlagen sind allgemein zugänglich, man hätte nachrechnen können.
Ich hatte den umgekehrten Fall im Hinterkopf:

Ein Angestellter kriegt plötzlich jeden Monat das doppelte Gehalt ausgezahlt und weist seinen Arbeitgeber nicht darauf hin. Das ist natürlich kein Betrug, aber eine grobe Pflichtverletzung, und die Berufung auf die tarifliche Ausschlussfrist wäre rechtsmissbräuchlich - obwohl der Arbeitgeber es selber hätte merken können.

Ausschlaggebend für die Beurteilung in diesem Fall ist die Frage, ob der Arbeitnehmer den Irrtum gemerkt hat bzw. hätte merken müssen! (Deswegen auch das Extrembeispiel. Ein Arbeitnehmer wird normalerweise nicht merken, wenn er geringfügig zuviel Gehalt bekommt...) Wenn die Verwaltung gegenüber dem Gemeinderat eingesteht, dass sie den Fehler gemerkt und verschwiegen hat oder hätte merken müssen, wüsste ich nicht, warum dieses Argument hier nicht greifen müsste. (Ersteres wiederum könnte freilich weitere Kreise ziehen gegen den Angestellten, der den Fehler verschwiegen hat...)

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #9 am: 08.02.2022 15:05 »
Nein, wieso? Mann kann sich ja dann am Betrüger schadlos halten. Ansonsten wäre dem Betrogenen auch vorzuhalten, den Betrug nicht vorher entdeckt zu haben. Die Berechnungsgrundlagen sind allgemein zugänglich, man hätte nachrechnen können.
Ich hatte den umgekehrten Fall im Hinterkopf:

Ein Angestellter kriegt plötzlich jeden Monat das doppelte Gehalt ausgezahlt und weist seinen Arbeitgeber nicht darauf hin. Das ist natürlich kein Betrug, aber eine grobe Pflichtverletzung, und die Berufung auf die tarifliche Ausschlussfrist wäre rechtsmissbräuchlich - obwohl der Arbeitgeber es selber hätte merken können.

Ausschlaggebend für die Beurteilung in diesem Fall ist die Frage, ob der Arbeitnehmer den Irrtum gemerkt hat bzw. hätte merken müssen! (Deswegen auch das Extrembeispiel. Ein Arbeitnehmer wird normalerweise nicht merken, wenn er geringfügig zuviel Gehalt bekommt...) Wenn die Verwaltung gegenüber dem Gemeinderat eingesteht, dass sie den Fehler gemerkt und verschwiegen hat oder hätte merken müssen, wüsste ich nicht, warum dieses Argument hier nicht greifen müsste. (Ersteres wiederum könnte freilich weitere Kreise ziehen gegen den Angestellten, der den Fehler verschwiegen hat...)

Weil es unterschiedliche Tatbestände / Rechtswege sind. Der hier "betrogene" Mitarbeiter macht seinen korrekten Entgeltanspruch geltend und erhält - wegen der tariflichen Ausschlussfrist - nur die letzten sechs Monate.
Der darüber hinausgehende Anspruch wäre im Rahmen des Schadensersatzes geltend zu machen, wobei es auch da Ausschlussfristen bzw. Verjährungsfristen geben dürfte.
Was daraufhin der Arbeitgeber intern macht bleibt dahingestellt und muss den AN nicht interessieren.

McOldie

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Antw:Verzicht auf tarifliche Ausschlussfrist möglich?
« Antwort #10 am: 08.02.2022 17:13 »
Nur unter bestimmten Umständen kann sich der Anspruchsberechtigte darauf berufen, dass der Anspruchsgegner trotz des Ablaufs der Ausschlussfrist nach Treu und Glauben verpflichtet bleibt, die geschuldete Leistung zu erbringen.
An den Einwand des Rechtsmissbrauchs bei der Berufung auf eine Ausschlussfrist sind grundsätzlich strenge Anforderungen zu stellen. Voraussetzung ist, dass die zum Verfall des Anspruchs führende Untätigkeit durch ein Verhalten der Gegenpartei veranlasst worden ist oder der Schuldner es pflichtwidrig unterlassen hat, dem Gläubiger die Umstände mitzuteilen, die diesen zur Einhaltung der Ausschlussfrist veranlasst hätten.
Um das Wiederaufleben eines Anspruchs durch die Berufung auf die Grundsätze von Treu und Glauben zu rechtfertigen, muss der Anspruchsverpflichtete den Anspruchsberechtigten durch aktives Handeln von der Einhaltung der Ausschlussfrist abgehalten oder es pflichtwidrig unterlassen haben, ihm Umstände mitzuteilen, die ihn zur Einhaltung der Ausschlussfrist veranlasst hätten.
Der Sachverhalt gibt nichts her, dass hier die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorliegen könnten. Offenbar hat hier der Arbeitgeber ganz einfach gepennt: