Das Frühjahr könnte ausgesprochen ungemütlich werden in Deutschland: Busse, die nicht fahren. Flugzeuge, die nicht fliegen. Müll, der nicht abgeholt wird. Kitas, die geschlossen bleiben. Und zwar nicht nur für einen Tag, sondern bis auf Weiteres. Vor der dritten und vorerst letzten Verhandlungsrunde für den öffentlichen Dienst geben sich die Gewerkschaften entschlossen, deutlich höhere Gehälter durchzusetzen – im Zweifel mit unbefristeten Streiks. 500 Euro mehr im Monat fordert Ver.di für die unteren Lohngruppen, 10,5 Prozent für die oberen. Und das soll nur der Anfang sein.
Ende März wird sich zeigen, ob es zur Eskalation kommt. Die Gewerkschaft sieht alle Argumente auf ihrer Seite. Schon jetzt seien im öffentlichen Dienst mehr als 300.000 Stellen unbesetzt, »weil Arbeitskräfte fehlen und die Stellen bei Bund und Kommunen nicht attraktiv genug sind«. Anders ausgedrückt: weil sie zu schlecht bezahlt werden.
Aber stimmt das überhaupt? Ähnelt der öffentliche Dienst tatsächlich einem staatlichen Prekariat? Im Gegensatz zu klar abgegrenzten Branchen wie etwa der Stahl- oder der Chemieindustrie umfasst der öffentliche Dienst eine Vielzahl von Wirtschaftszweigen. Nur eine Minderheit der Beschäftigten sitzt in Verwaltungsbüros und prüft Anträge oder plant Straßen. Weit mehr verrichten eine Vielzahl anderer Tätigkeiten, sie beseitigen den Müll, pflegen Alte und Kranke, betreuen Kinder, führen U-Bahnen oder beraten Sparkassenkunden.
Dass sich alle von ihnen schlecht bezahlt fühlen, dürfte ziemlich unwahrscheinlich sein. Denn dem öffentlichen Dienst ist es in den vergangenen Jahren durchaus gelungen, Bewerber von sich zu überzeugen: Der Personalbestand der direkt bei Bund, Ländern, Kommunen und Sozialversicherungen Beschäftigten stieg von 2010 bis Mitte 2021 um mehr als eine halbe Million auf 5,1 Millionen. Dazu kommen noch die bis dato gut 1,4 Millionen Beschäftigten in Tochterunternehmen mit privater Rechtsform.
Worüber Ver.di lieber nicht spricht: Statistisch gesehen dürften diese Menschen tendenziell eher zu den besser bezahlten Arbeitnehmern in Deutschland gehören. Das legt ein Vergleich der Median-Bruttoverdienste der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten nahe – die 1,73 Millionen Beamten bleiben dabei außen vor, sie würden mit ihrem höheren Salär das Bild sonst verzerren, zudem müssen sie deutlich geringere Abgaben leisten. Im Jahr 2018 verdienten Vollzeitbeschäftigte bei öffentlichen Arbeitgebern im Mittel 46.092 Euro, das sind 3841 Euro pro Monat. Alle anderen Vollzeitbeschäftigten in Deutschland erhielten im Mittel 40.872 Euro, also lediglich 3406 Euro pro Monat.
Dazu kommt: Das Gehaltsniveau im öffentlichen Dienst hat sich im Vergleich zu anderen nach Tarif bezahlten Arbeitnehmern zuletzt eher verbessert. Seit 2015 sind die tariflichen Brutto-Stundenverdienste inklusive Sonderzahlungen um 17,4 Prozent gestiegen – und damit sogar leicht stärker als in der Gesamtwirtschaft. In der Metall- und Elektroindustrie oder der Finanzbranche blieben die Steigerungen mit 14,9 und 12,5 Prozent deutlich dahinter zurück.
Wie fast überall hat die Inflation die Tarifsteigerungen seit 2015 bereits im vergangenen Jahr komplett wieder aufgefressen. Rechnet man die Preissteigerungen ein, lagen die realen Tariflöhne im öffentlichen Dienst 2022 sogar niedriger als noch sieben Jahre zuvor. Für dieses Jahr rechnet die Bundesregierung mit einer Teuerung von sechs Prozent. Das wird erneut an den Reallöhnen nagen.
Mit den Tariflöhnen der oft exportgetriebenen Industrie kann der öffentliche Dienst nicht mithalten. Im verarbeitenden Gewerbe verdienten Tarifbeschäftigte in Vollzeit 2018 im Mittel 57.560 Euro brutto, also knapp 4800 Euro im Monat – und damit fast ein Viertel mehr als die Beschäftigten im Staatsdienst. Auch deshalb konnte es sich die IG Metall leisten, mit einer Forderung von vergleichsweise überschaubaren acht Prozent in ihre Tarifrunde zu ziehen. Wer von einem höheren Niveau startet, braucht weniger Aufschlag.
Seit Arbeitskräfte knapp sind, ist der Lohn im Wettbewerb um den Nachwuchs noch entscheidender geworden. Aber selbst da steht der öffentliche Dienst oft besser da als behauptet. Ein Bürokaufmann im ersten Berufsjahr verdient bei einer Kommune gemäß Tarif im Monat rund 2760 Euro brutto, nach drei Jahren sind es bereits knapp 3080 Euro. Zum Vergleich: Das mittlere Gehalt aller Bürokaufleute unter 25 Jahren in Deutschland liegt laut Daten der Bundesagentur für Arbeit bei lediglich 2586 Euro.
Schwer tut sich der öffentliche Dienst nach wie vor bei der Bezahlung in technischen Berufen: Eine Mechatronikerin startet mit rund 2870 Euro deutlich unter dem mittleren Gehalt ihrer Altersgruppe von 3150 Euro, erst nach drei Jahren liegt sie mit knapp 3210 Euro etwas darüber. Bauingenieure erreichen erst nach 15 Jahren das mittlere Gehalt ihrer Berufsgenossen – sind dann aber schon in der höchsten Entgeltstufe angekommen.
Bei ihnen reichen auch 10,5 Prozent mehr Lohn nicht, um mit der Privatwirtschaft mithalten zu können.