Autor Thema: Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst  (Read 192024 times)

Alexander79

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #300 am: 09.11.2024 15:54 »
Dafür sind in diesem Jahr noch Mehrheiten erforderlich. Sollten Mehrheiten durch politisches Taktieren am ehesten erreichbar scheinen, halte ich diesen Weg für gerechtfertigt, wenn dadurch die Handlungsunfähigkeit später einsetzt.
Richtig ... dieser Mehrheiten hat aber der BK aktuell nicht und er bekommt sie auch nicht wenn er die Vertrauensfrage hinauszögerte.
Die CDU hat sogar klar gesagt, wenn er die Vertrauensfrage gestellt hat, ist sie bereit über bestimmte Mehrheiten zu sprechen.
Es ist also gerade die staatspolitische Verantwortung des Kanzlers die Vertrauensfrage er heute als morgen zu stellen um Mehrheiten für bestimmte Gesetzesvorhaben zu bekommen.

Eukaryot

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #301 am: 09.11.2024 16:09 »
Zitat
Die CDU hat sogar klar gesagt, wenn er die Vertrauensfrage gestellt hat, ist sie bereit über bestimmte Mehrheiten zu sprechen.

Glaubst Du, dieses Angebot wäre zustande gekommen, hätte der Kanzler die Vertrauensfrage tatsächlich gestellt?

Meiner Meinung nach stellt dies bereits einen strategischen Teilerfolg des Bundeskanzlers dar, den es nun abzusichern gilt. Danach ist aber die Vertrauensfrage fällig. ;)

Alexander79

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #302 am: 09.11.2024 16:30 »
Glaubst Du, dieses Angebot wäre zustande gekommen, hätte der Kanzler die Vertrauensfrage tatsächlich gestellt?

Meiner Meinung nach stellt dies bereits einen strategischen Teilerfolg des Bundeskanzlers dar, den es nun abzusichern gilt. Danach ist aber die Vertrauensfrage fällig. ;)
Welches Angebot, die CDU hat kein Angebot unterbreitet, sondern eine Forderung.
Herr Scholz hat seine Mehrheit aufgeben.
Somit muss er der Opposition etwas anbieten. Das macht er nicht.
Wo man hier einen strategischen Teilerfolg sehen kann, versteht wohl nur ein SPD Mitglied, Herr Scholz denkt ja auch er hat gute Chancen erneut Kanzler zu werden.

Eukaryot

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #303 am: 09.11.2024 16:51 »
Solange es noch die Möglichkeit gibt, durch ein (vergleichsweise nebensächliches) Taktieren über den Wahltermin einzelne Mehrheiten zum Wohle des Landes zu erzielen, ist eine sofortige Vertrauensfrage nicht erforderlich. Mit Bundestagsbeschlüssen lässt sich im Idealfall mehr erreichen, als durch eine verzögerte Wahl verloren gehen würde. Ich denke, die Entscheidung von Verkehrsminister Wissing spiegelt am deutlichsten den tatsächlichen Glauben der Bundesregierung an die Erreichbarkeit von einzelnen Mehrheiten wider.

Über die Möglichkeit, mit der FDP nach einem Misstrauensvotum noch einzelne Mehrheiten zu erzielen, hört man mittlerweile nichts mehr. Wie steht es in diesem Zusammenhang eigentlich um die „staatspolitische Verantwortung“ der Partei?
« Last Edit: 09.11.2024 17:03 von Eukaryot »

Alexander79

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #304 am: 09.11.2024 17:13 »
Solange es noch die Möglichkeit gibt, durch ein (vergleichsweise nebensächliches) Taktieren über den Wahltermin einzelne Mehrheiten zum Wohle des Landes zu erzielen, ist eine sofortige Vertrauensfrage nicht erforderlich.
Stimmt, aber genau dafür ist die Vertrauensfrage da.
Der Kanzler stellt ein Gesetz zur Abstimmung und verknüpft es mit der Vertrauensfrage.
Wenn das Gesetz durchfällt hat er die Vertrauensfrage verloren.
Was er aktuell machen will ist einfach möglichst lange an der Macht zu bleiben und das ohne Mehrheit.
Kann er machen, ob er so seiner staatspolitischen Verantwortung nachkommt, wage ich zu bezweifeln.

Mit Bundestagsbeschlüssen lässt sich im Idealfall mehr erreichen, als durch eine verzögerte Wahl verloren gehen würde.
Nochmal auch die Vertrauensfrage ist ein Bundestagsbeschluss ... es gibt keinen sachlichen Grund warum er seine Gesetzesvorhaben die er noch durchbringen will nicht mehr der Vertrauensfrage zu verknüpfen.

Über die Möglichkeit, mit der FDP nach einem Misstrauensvotum noch einzelne Mehrheiten zu erzielen, hört man mittlerweile nichts mehr. Wie steht es in diesem Zusammenhang eigentlich um die „staatspolitische Verantwortung“ der Partei?
Warum soll die Partei noch eine staatspolitische Verantwortung haben?
Der BK hat die FDP aus der Verantwortung genommen, indem er den Finanzminister entlassen hat und somit seine Mehrheit verloren hat.

Nochmal, er kann gerne versuchen Mehrheiten zu finden, die staatspolitische Verantwortung des Bundeskanzlers ist es aber, wenn er mit seiner Regierung keine Mehrheit bekommt, die Vertrauensfrage zu stellen um entweder so eine Mehrheit zu bekommen oder eben den Weg für Neuwahlen frei zu machen.

SwenTanortsch

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #305 am: 09.11.2024 18:00 »
Ohne die Diskussion hier zu weit treiben zu wollen, denn hier geht es ja thematisch um die Tarifverhandlung, stellt sich mir hinsichtlich der staatspolitischen Verantwortung als Wähler die Frage, wieso es überhaupt Neuwahlen geben soll. Denn der Souverän hat schließlich in der letzten Bundestagswahl gesprochen; darüber hinaus wird die Neuwahl - realistisch betrachtet - kaum vor Februar stattfinden können, da ihre Organisation die gesamten 60 Tage beanspruchen wird, die Art. 39 Abs. 1 Satz 3 GG ermöglicht, und da anzunehmen ist, dass die Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 GG, die nach maximal 21 Tagen erfolgen muss, sofern er dem Vorschlag des Bundeskanzlers folgt (was er nicht muss), gleichfalls nicht umgehend erfolgen wird. Da die Bundestagswahl für den 28. September 2025 terminiert ist, kann man die im Bundestag vertretenen Parteien m.E. in der Pflicht sehen, bis dahin ihren Auftrag nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG zu erfüllen, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Denn seinen Willen hat das Volk am 26. September 2021 kundgetan. Ich sehe nicht, was sich an diesem Willen geändert haben sollte, nur weil es der bisherigen Regierung nicht gelungen ist, ihren Auftrag bis zum Ende der Wahlperiode gemeinsam zu erfüllen. Denn es war offensichtlich nicht der Wille des Volkes, sondern die Unfähigkeit der Regierungsparteien, die zum Bruch der Regierung geführt hat.

Verantwortungsvoll sollte es meiner Meinung nach in Anbetracht der bekannten Sachprobleme - nicht zuletzt die Frage des Haushalts - sein, nun als Bundestag an deren Lösung zu arbeiten und weniger um sich selbst zu kreisen, also um die Frage, wann denn Neuwahlen stattfinden sollten. Dass das in Anbetracht der zerbrochenen Regierung schwierig ist, ist klar - aber wieso sollten die Probleme nach einer vorgezogenen Neuwahl, nach zu erwartenden Sondierungen und Koalitionsverhandlungen sowie der Unterzeichnung eines Koalitionsvertrags und schließlich der Ernennung einer neuen Regierung geringer sein, wenn sie bis dahin in nicht wenigen Feldern mit einiger Wahrscheinlichkeit weitgehend aufgeschoben werden? Denn der Zeitraum zwischen der Bundestagswahl und der Ernennung der neuen Regierung hat seit 2005 mit Ausnahme des Jahres 2009 immer deutlich mehr als zwei Monate in Anspruch genommen (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1280469/umfrage/dauer-der-regierungsbildung-nach-einer-bundestagswahl/). Realistisch betrachtet, sollten wir also eine neue Regierung kaum vor April bis Mai des kommenden Jahres haben. Das ist von heute aus betrachtet in rund einem halben Jahr und wird ggf. noch länger dauern (vgl. den Zeitraum von 171 Tagen 2017). Nicht wenige der bis dahin weitgehend aufgeschobenen Sachprobleme dürften in Anbetracht der heutigen Lage im Land und in der Welt kaum geringer ausfallen, schätze ich. Die Lösung der anstehenden Probleme hat das Volk nach seinem Willen am 26. September 2021 dem gewählten Bundestag in die Hände gelegt.

bebolus

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #306 am: 09.11.2024 18:38 »
Dann bräuchten wir das Instrument der Vertrauensfrage nach Deiner Meinung nicht.

Brauchen wir aber doch. Und zwar weil die verbliebenen Parteien nicht mit den Vorschusslorbeeren umgehen können, die sie im Vorfeld von den Wählern erhalten haben.

Bei unserem BK scheint das mit dem Gedächnisverlust mittlerweile soweit vorangeschritten zu sein, weil er offenbar von der Entlassung seines BMF bis zum Jubel seiner Genossen nix mehr wusste. Falls nicht, müsste man davon ausgehen, dass die Genossen das Scheitern der BR herbeigesehnt haben.

Alexander79

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #307 am: 09.11.2024 19:18 »
Die Lösung der anstehenden Probleme hat das Volk nach seinem Willen am 26. September 2021 dem gewählten Bundestag in die Hände gelegt.
Da magst du grundsätzlich recht haben, aber
1. Hat der Souverän kein Anrecht darauf das der Bundestag 4 Jahre bestehen bleibt
2. Gibts genau für solche Fälle die wir aktuell haben erstmal das konstruktive Mißtrauensvotum oder eben die Vertrauensfrage.

SwenTanortsch

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #308 am: 09.11.2024 23:46 »
Die Möglichkeiten habe ich ja skizziert: Sie sind verfassungsrechtlich verbrieft, also gangbar - es ist aber, darum geht es mir, fraglich oder zumindest hinterfragbar, ob sie gegangen werden sollten. Es stellt sich also die Frage, für wen also dieser auf den ersten Blick bequem(er)e Weg eigentlich bequem ist und was "Bequemlichkeit" in diesem Zusammenhang politisch - und also nicht verfassungsrechtlich - heißt.

Zunächst einmal gibt es ein Beispiel in der bundesdeutschen Geschichte, da der weniger bequeme Weg gegangen und er offensichtlich hier auch weitgehend als selbstverständlich betrachtet worden ist, nämlich in Gestalt des 5. Deutschen Bundestags mit der Legislaturperiode vom 19. Oktober 1965 bis 19. Oktober 1969, in deren Verlauf am 30. Novermber 1966 das Kabinett Erhard II mit dessen Rücktritt endete, nachdem am 27. Oktober 1966 die FDP-Minister durch ihren Rücktritt aus der Regierung ausgeschieden waren. Am 1. Dezember 1966 wurde Kurt Georg Kissinger mit den Stimmen von der ab nun regierenden großen Koalition zum Bundeskanzler gewählt, der sich zuvor unionsintern gegen weitere Kandidaten durchgesetzt hatte. Ohne hier historische Analogien bilden zu wollen - die in der einfachen Übertragung auf die heutige Situation immer hinken -, zeigt sich hier ein anderer gangbarer Weg. Die von Helmut Kohl im Dezember 1982 und von Gerhard Schröder im Juli 2005 gestellten Vertrauensfragen basierten anders als heute auf einer offensichtlichen Mehrheit der jeweiligen Regierungskoalitionen, wären also verfassungsrechtlich noch einmal anders zu betrachten, dürften aber mit den Weg gebahnt haben, dass heute der gangbare Weg der Vertrauensfrage sogleich in den Mittelpunkt gerückt ist und gerückt worden ist.

Die Frage der verfassungsrechtlichen Gangbarkeit ist allerdings von der Frage nach den politischen Intentionen zu trennen - und diese Intentionen können m.E. zumindest in Teilen als fraglich oder zumindest hinterfragbar betrachtet werden, eben da wir uns heute sowohl innen- als auch außenpolitisch in jeweils schweren Fahrwassern befinden.

Wie sieht nun der weitere Weg innerhalb der schweren Fahrwasser aus? Zunächst dürfte weiterhin politisch um den Zeitpunkt gerungen werden, wann denn der Bundeskanzler die Vertrauensfrage stellt. In dieser Zeit dürften die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen. Mit der Ablehnung durch die Mehrheit des Bundestags, dem Bundeskanzler das Vertrauen auszusprechen, dürfte sogleich der Wahlkampf losgehen. In dieser Zeit dürften die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen. Im Anschluss an die Bundestagswahl sollten Sondierungsgespräche geführt werden, die in Anbetracht des mit einiger Wahrscheinlichkeit komplexen Wahlergebnisses ggf. nicht in kurzer Zeit abgeschlossen werden können. In dieser Zeit dürften die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen. Schließlich dürften am Ende von Sondierungsgesprächen Koalitionsvetrhandlungen geführt werden. In dieser Zeit dürften die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen. Wie vorhin dargestellt, werden wir am Ende mit etwas Glück wohl in etwa einem halben Jahr dann eine neue Regierung haben. In diesem halben Jahr dürften also zusammengefasst die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen.

Was wird hingegen im Verlauf der nächsten Monate also im Mittelpunkt stehen?

Im Mittelpunkt dürfte das stehen, worum es in der Politik zumeist geht, nämlich nicht die Probleme zu lösen, die gelöst werden müssen, sondern die Probleme zu lösen, die gelöst werden können - und um sie zu lösen, sollten man sie am besten selbst schaffen, um sich dann der eigenen Lösungskompetenz zu rühmen (die vormalige Ampel ist genau daran gescheitert: Sie hat Probleme geschaffen, die hätten gelöst werden können, was ihr aber nicht gelungen ist), um so der Bevölkerung zu zeigen, dass man regieren und also Probleme lösen kann.

Die jeweiligen Probleme, die nun also geschaffen werden, werden sein: Den Zeitpunkt für eine Vertrauensfrage zu finden (in dieser Phase befinden wir uns gerade); im Wahlkampf zu zeigen, dass die anderen Parteien nicht in der Lage waren, sind und zukünftig sein werden, Probleme hinreichend zu lösen; in Sondierungen zu zeigen, dass man selbst die jeweils besten Lösungsansätze hat, während die Sondierungspartner die jeweils zweitbesten Lösungsansätze haben (sofern die Sondierung erfolgreich verliefe) bzw. gänzlich unadäquate Lösungsansätze verfolgten (sofern die Sondierung scheiterte); in Koalitionsverhandlungen  zu zeigen, dass man selbst die jeweils besten Lösungsansätze hat, während die möglichen Koalitionsdpartner die jeweils zweitbesten Lösungsansätze haben (sofern die Koalitionsverhandlungen erfolgreich verliefen) bzw. gänzlich unadäquate Lösungsansätze verfolgten (sofern die Verhandlungen scheiterten).

In Anbetracht dieser Situation dürften wie gesagt im wohl rund nächstem halben Jahr die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen, und zwar nicht, weil sie ggf. nicht gelöst werden könnten, sondern weil sich nun deutlich weniger Zeit wird finden lassen, um sie zu lösen, da ja zunächst einmal die Probleme glöst werden müssen, die gelöst werden können, also die, die man selbst geschaffen hat: die Vertrauensfrage, der Wahlkampf, die Sondierung und die Koalitionsverhandlungen.

Und damit komme ich zum Grund für meine Einlassung zurück: Für all das ist ab dem Sommer des kommenden Jahres genügend Zeit, da diese als Folge der in der Regel vierjährigen Legislaturperiode dafür sein muss. Ob zu jener Zeit die Probleme, die sich uns heute stellen, größer oder kleiner sein werden, steht in den Sternen. Was aber nicht in den Sternen steht, ist, dass wir heute sowohl innen- als auch außenpolitisch einige schwere Probleme vorfinden, an deren Lösung an sich mit voller Kraft gearbeitet werden sollte, da sie gelöst werden müssen, und zwar, weil sie (nicht so ohne Weiteres) gelöst werden können.

In diesem Sinne ist es zu verstehen, was ich eingangs meines letzten Beitrags geschrieben habe, nämlich dass sich mir hinsichtlich der staatspolitischen Verantwortung als Wähler die Frage stellt, wieso es überhaupt Neuwahlen geben soll. Als staatspolitisch verantwortungsvoll würde ich es ansehen, wenn nun eine mögliche große Koalition möglich rasch an den tatsächlichen Problemen, die gelöst werden müssen, zu arbeiten anfinge, um zu zeigen, dass sie das könne, was der beste Wahlkampf wäre, den sich der Souverän vorstellen könnte. Denn ab dem Sommer könnte er sich dann ein Bild von der bis dahin abgelieferten Leistung der Regierung und der Opposition machen, um so seine Wahl zu treffen.

Ein solches Vorgehen wäre also insbesondere für die SPD und die Union mit einigem Risiko verbunden, nämlich dem Risiko, ggf. vor aller Augen zu zeigen, politisch keine hinreichenden Lösungen hinsichtlich der Probleme schaffen zu können, die gelöst werden müssen - und genau darin läge m.E. der Grund dafür, dass das staatspolitisch verantwortungsvoll wäre. Denn zunächst einmal würden eigene Interessen zurückgestellt werden, um das zu tun, was man sich als Souverän von seinen Politikern wünscht, nämlich dass sie dem Land dienen.

Politik ist aber kein Wunschkonzert. Und deshalb werden wir nun keine große Koalition erleben, sondern bis in den Sommer abwarten, um daraufhin zu schauen, was dann die große Koalition machen wird, die als Folge der Neuwahlen gebildet werden wird. Die nächste Bundestagswahl wird dann regelmäßig, sofern sie sich so vollzieht, im Herbst 2029 sein. Bis dahin können wir als Wähler dann beurteilen, ob sie mit dem vorhandenen Personal die Probleme wird lösen können oder gelöst haben wird, die gelöst werden müssen (sofern sie sich also nicht in zu viel Zeit mit den Problemen beschäftigt haben wird, die gelöst werden können, also den selbst geschaffenen).

Alexander79

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« Antwort #309 am: 10.11.2024 06:32 »
Die Möglichkeiten habe ich ja skizziert: Sie sind verfassungsrechtlich verbrieft, also gangbar
Sorry, das sehe ich anders.
Es gibt eigentlich nach meiner Auffassung unserer Verfassung nur einen gangbaren Weg innerhalb einer Legislaturperiode eine Regierungskonstellation zu ändern.
Dem Kanzler steht eine komplette Änderung seiner Regierung, in deinem Beispiel, FDP und Grüne aus der Regierung werfen und eine große Koalition mit der CDU eingehen explizit nicht zu.
Diese Recht hat ebenfalls nur der Bundestag.
Dazu müsste er aber über ein konstruktives Mißstrauensvotum einen neuen Kanzler wählen.

Solltest du das als gangbar ansehen, fehlt bei der SPD aber sicher wieder die staatspolitische Verantwortung.
Denn die SPD würde nie in dieser Form ihren Kanzler opfern.

Da die nächsten Jahre vorraussichtlich schwere Zeiten anstehen, wäre es sicher besser diese schwierige Regierungsbildung die es so oder so geben wird gleich hinter sich zu bringen, als damit noch knapp ein Jahr zu warten.
Denn auch wenn dein "skizzierter" Weg vielleicht möglich ist, hat der Wahlkampf bereits begonnen, in deinem Fall geht er dann über 10 Monate, im besten Fall nur 3.

MoinMoin

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« Antwort #310 am: 10.11.2024 08:23 »
Es stünde dem aktuellem Kanzler doch durchaus frei, Merz als neuen Finanzminister zu berufen, oder?
🤓

Und woher kommt die Annahme, dass der gewählte Kanzler nicht „ nach belieben“ sein Team neu zusammenstellen und ändern dürfte.

Also wieso dürfte Scholz nicht jetzt ein Schwarz, Grün, Rote Regierung das letzte Jahr führen?
Das das nicht passiert ist mir klar, aber bei Alexander klingt an, dass es nicht rechtmäßig wäre.


Denn wenn das dem Parlament nicht gefällt, kann man einen neuen wählen.
Aber das Parlament kann sich nicht selbst auflösen, sie kann nur eine Vertrauensfrage „erzwingen“ oder einen neuen BK wählen.

SwenTanortsch

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #311 am: 10.11.2024 09:56 »
Die Möglichkeiten habe ich ja skizziert: Sie sind verfassungsrechtlich verbrieft, also gangbar
Sorry, das sehe ich anders.
Es gibt eigentlich nach meiner Auffassung unserer Verfassung nur einen gangbaren Weg innerhalb einer Legislaturperiode eine Regierungskonstellation zu ändern.

Das ist verfassungsrechtlich nur bedingt richtig und wiederholt weitgehend eher das, was im Interesse zumindest von SPD, Union, Bündnisgrüne sowie FDP und BSW, höchstwahrscheinlich auch von der AfD ist. Allenfalls die Linke wird ggf. andere Interessen haben, weil für sie die kommende Bundestagswahl mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit das Aus bedeuten könnte. Insofern dürfte hier das Interesse eher sein, dass möglichst spät gewählt werden wird.

Jeder einzelne Abgeordnete und damit der Bundestag in seiner Ganzheit sind verfassungsrechtlich an keinen politischen Auftrag, sondern jeder Abgeordnete ist nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ausschließlich an ihr Gewissen gebunden, worauf Du berechtigt hinweist. Darüber hinaus bestimmt Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG den Regelfall einer Legislaturperiode, nämlich vier Jahre. Innerhalb dieser vier Jahre hat der Bundestag jederzeit das Recht, innerhalb der zu beachtenden Fristen mit einfacher Mehrheit nach Art. 63 Abs. 2 Satz 1 GG auf Vorschlag des Bundespräsidenten den Bundeskanzler nach Art. 63 Abs. 1 GG zu wählen. Eine Einschränkung dieser Möglichkeit, die über zeitliche Fristen hinausreichte, kann es verfassungsrechtlich wegen des genannten freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht geben. Entsprechend ist 1966 wie dargestellt genau das geschehen, nämlich innerhalb einer regelmäßigen Legislaturperiode einen neuen Bundeskanzler zu wählen, der vom Bundespräsidenten wie dargestellt vorgeschlagen worden war, nachdem der vorherige Bundeskanzler über keine Mehrheit verfügt hat: also in der von der Form her identischen Situation zur derzeitigen Lage. Entsprechend hat MoinMoin Recht, verfasungsrechtlich könnte jederzeit der alte Bundeskanzler in einer neuen Regierung und unter anderen Regierungsfraktionen wiedergewählt werden - das wäre also verfassungsrechtlich möglich, wenn auch politisch zumeist eher unwahrscheinlich.

Die von uns in den letzten Beiträgen dargestellten Wege sind verfassungsrechtlich allesamt gangbar. Wie dargestellt, wäre allerdings die Bildung einer großen Koalition mit dem Ziel, dem Land in einer krisenhaften Zeit zu dienen, der wenig bequemere und darüber hinaus für die SPD und Union mit nicht zu kalkulierenden Risiken verbunden. Das Hauptrisiko wäre dabei: regieren zu müssen, was allerdings alle drei Parteien wollen, ansonsten würden sie jetzt nicht zunächst um den Zeitpunkt der Vertrauensfrage ringen, und zwar mit der von mir in meinem letzten Beitrag skizzierten Folge, dass in dieser und der weiteren Zeit die meisten der für uns als Souverän wichtigen Probleme eher nicht im Mittelpunkt der politischen Bearbeitung stehen dürften, eben insbesondere weil in dieser Zeit der Regierung keine regelmäßige Mehrheit zur Verfügung stehen wird, solange keine Regierungskoalition vorhanden ist.

Dem Kanzler steht eine komplette Änderung seiner Regierung, in deinem Beispiel, FDP und Grüne aus der Regierung werfen und eine große Koalition mit der CDU eingehen explizit nicht zu.
Diese Recht hat ebenfalls nur der Bundestag.
Dazu müsste er aber über ein konstruktives Mißstrauensvotum einen neuen Kanzler wählen.

Solltest du das als gangbar ansehen, fehlt bei der SPD aber sicher wieder die staatspolitische Verantwortung.
Denn die SPD würde nie in dieser Form ihren Kanzler opfern.

[/quote]

Das wiederum ist verfassungsrechtlich richtig - aber da es ja um staatspolitische Verantwortung geht, politisch nicht zwangsläufig. Denn ein konstruktives Misstrauensvotum ist nach Art. Art. 67 Abs. 1 Satz GG nicht möglich, wenn der vormalige Bundeskanzler zuvor aus freien Stücken zurücktritt, wovon ihn niemand abhalten kann.

Der Bundeskanzler hat ja in seiner auch auf eigene Entlastung abzielende Erklärung vom letzten Mittwoch, deren Wahrheitsgehalt in gewichtigen Teilen als gegeben betrachtet werden dürfte (wenn auch ggf. nicht in allen Teilen), darauf hingewiesen, woran seine Regierung gescheitert ist: Er hat sich nicht hinreichend in der Lage gesehen, gemeinsam insbesondere mit dem Finanzminister (nicht aber den anderen Bundesministern der FDP, die er nicht zur Entlassung vorgesehen hatte) eine Regierung so zu gestalten, dass sie eine sachlich notwendige Regierungsarbeit bereits in der Vergangenheit, jedenfalls ebenso in der Gegenwart und in der zu erwartenden der Zukunft gewährleisten könnte.

Man kann nun zu Christian Lindner stehen, wie man will. Eines ist aber offensichtlich: Er ist ein Politiker, der durchsetzungsstark ist und eigene Vorstellungen hat, also das, wofür ihn und seine Partei - davon darf man ausgehen - seine Wähler  gewählt haben werden, eben als Vorsitzenden seiner Partei. Ebenfalls war 2021 offensichtlich, dass dem so ist, das Christian Lindner, wenn ich mich recht erinnere, zu jenem Zeitpunkt kein Unbekannter gewesen ist; der Bundeskanzler hat sich trotz der möglichen anderen Option einer großen Koalition unter seiner Führung für die nun gescheiterte entscheiden. Damit hat der Bundeskanzler gesagt, dass er offensichtlich die falsche Wahl getroffen hat und dass es ihm bereits in der Vergangenheit in einer weiterhin schwierigen Sachlage nicht möglich gewesen ist, mit einem durchsetzungsstarken und eigene Vorstellungen habenden Charaker wie Christian Lindner eine hinreichend regierungsfähige Regierung zu bilden, obgleich er sich weiterhin in der Lage gesehen haben dürfte, mit den anderen drei Bundesministern der FDP nach wie vor eine Regierung zu bilden. Er hat also ein personales Problem in den Mittelpunkt seiner Erklärung gerückt.

Welche Folgen darf man daraus ziehen? Sobald er nach den Neuwahlen eine neue Regierung mit nun der Union als Juniorpartner bilden wollte - eine andere Opion wäre realistisch für ihn kaum möglich (unabhängig davon, dass es kaum realistisch wäre, davon auszugehen, dass die SPD bei Neuwahlen vor der Union landete) -, würde er nun mit anderen Personen auf dieselben Probleme stoßen, weshalb anzunehmen sein dürfte, dass er dann als Bundeskanzler genauso überfordert sein würde, wie er das nach eigenem Bekunden in der Vergangenheit gewesen ist, und zwa das nur umso mehr.r wenn er nicht so viel Glück haben würde, wie er es in den letzten drei Jahren gehabt hat, indem er nun also bspw. in Gestalt eines Markus Söders und Friedrich Merz auf mehr personale Probleme als nur einem Christian Lindner treffen dürfte oder könnte. So verstanden bliebe die Reihenfolge egal, ob erst Person, dann Partei, dann Land oder erst Land, dann Partei und dann Person: Offensichtlich wäre es zum Wohle aller drei, dass der Bundeskanzler nun aus dem Eingeständnis, dass er sich, der SPD und dem Land gegeben hat, dass er in schwierigen Zeiten nicht die Gewähr dafür leisten kann, für eine stabile und handlungsfähige Regierung gemeinsam mit durchsetzungsstarken Politikern anderer Parteien, die über eigenen Vorstellungen verfügen, zu sorgen, die notwendigen Konsequenzen zöge und also den Weg frei machte, und zwar nachdem er zuvor mitsamt seiner Partei und der Union Absprachen tätigen würde, wie bis zu einer neuen Regierung im Gefolge der Wahl vom 28. September 2025 zu handeln wäre. Als staatspolitisch verantwortungsvoll würde ich es dabei betrachten, wenn alle Beteiligten nun in Anbetracht der Krisenhaftigkeit der Zeit das Wohl des Landes in den Mittelpunkt stellten: Ein Eintrag in das Geschichtsbuch der Zeit wäre ihnen gewiss.

Nachdem der Bundeskanzler am 27. Oktober 1966 zurückgetreten war, stand bis zur Wahl des neuen Bundeskanzlers zum 30. November 1966 eine neue Regierung, der klar war, dass sie noch über zweieinhalb Jahre regieren würde. Wieso sollte das zum Wohle des Landes nicht auch heute möglich sein, wo es um eine Regierungszeit von rund einem Jahr geht und die krisenhaften Probleme, die gelöst werden müssen, in einem noch einmal deutlich stärkeren Maße vorhanden sind als 1966, also binnen Monatsfrist so zu handeln, dass im Anschluss an den gegebenen Problemen politisch gearbeitet werden könnte? Die Frage wird rhetorisch bleiben, da sie weitgehend nicht gestellt werden wird - und genau darin sehe ich ein Problem, das eines der wichtigen Ursachen für die Krise unseres Staatswesens darstellt: Anstatt zu regieren, wird Politik ob der Komplexität der jeweiligen Probleme, die gelöst werden müssen, wiederkehrend simuliert, und zwar in diesem Fall des zu erwartenden rund halben Jahrs in zähem Ringen um die Vertrauensfrage und im Wahlkampf und danach weiterhin in den Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen. Das ist allemal bequemer, als nun staatspolitisch und nicht wahlpolitisch zu handeln, denke ich. Denn es ist allemal leichter, um die Vertrauensfrage zu streiten, Wahlkampf zu machen, zu sondieren und Koalitionsgrspräche zu führen, als an den anstehenden Problemen zu arbeiten, die gelöst werden müssen. Ob allerdings dann im nächsten Jahr die anstehenden Probleme, die gelöst werden müssen, bis dahin eher kleiner sein werden, mag ich bezweifeln, ohne in die Zukunft blicken zu können.

Meiner Meinung nach könnte also diese kommende Zeit besser genutzt werden und sollte das auch, indem mit der einfachen Mehrheit aus SPD und Union regiert werden würde. Wären die Zeiten anders und die Probleme nicht so groß, dass besser heute als morgen an ihren Lösungen gearbeitet werden sollte, wäre mir das politische Geschäft, wie es sich nun vollzieht, eher egal. In Zeiten wie diesen würde ich mir Politiker wünschen, die in staatspolitischer Verantwortung den eher weniger bequemen Weg gingen. Aber wie gesagt: Politik ist kein Wunschkonzert.

cyrix42

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #312 am: 10.11.2024 10:37 »
Warum soll die Partei noch eine staatspolitische Verantwortung haben?
Der BK hat die FDP aus der Verantwortung genommen, indem er den Finanzminister entlassen hat und somit seine Mehrheit verloren hat.

Da der Bundeskanzler nur Vorschläge über sein Kabinett macht; und diese Personen beinhalten, keine Parteien, hat der Bundespräsident nur die Person Christian Lindner aufgrund des Vorschlagsrechts des Bundeskanzlers von seinem Ministeramt entlassen. Die (rechtlich nicht bindende) Vereinbarung zwischen den regierungstragenden Parteien (Koalitionsvertrag) enthielt zwar eine Ressort-Verteilung, welcher der FDP die Leitung des Finanzministeriums überantwortet hat, nicht aber eine genaue personelle Bennenung der jeweiligen Ministerinnen und Minister. Entsprechend hätte die FDP also unter Einhaltung des Koalitionsvertrags eine_n neue_n Finanzminister_in Scholz vorschlagen können, welche_r dieser dann wohl auch dem Bundespräsident zur Bennenung hätte vorschlagen müssen. Es war ja von Scholz explizit nicht das Verhalten der FDP, sondern das zerstörte Vertrauensverhältnis mit Lindner, was ihn die Entlassung veranlasst hat.

Natürlich ist politisch völlig klar, dass eine Partei, deren Vorsitzender gerade vorgeführt wurde, hier den Rückzug antreten muss. Aber faktisch hat nicht Scholz die FDP aus der Regierung geschmissen, sondern die FDP hat sich aus der Regierung zurückgezogen. Entsprechend scheint es auch die FDP-Bundestagsfraktion zu sein, die sich nicht mehr an den Koalitionsvertrag gebunden fühlt.

btw: Wenn sich Merz mit dem 19. Januar durchsetzt, dürften für so einige die Weihnachtsferien entfallen. So müsste der Bundeswahlausschuss am 21. Dezember über die Zulassung von Parteien zur Bundestagswahl entscheiden; bis Heiligabend könnte dagegen Widerspruch eingelegt werden und am 27.12. dann der Bundeswahlausschuss darüber abschließend beraten, bevor an Sylvester die Wahlbekanntmachung erfolgt und man auch schon Briefwahl beantragen können müsste. Heißt: Da dürfen dann auch schon die Druckereien laufen und es gibt Sylvesterpost.

NelsonMuntz

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #313 am: 10.11.2024 11:22 »
...
Meiner Meinung nach könnte also diese kommende Zeit besser genutzt werden und sollte das auch, indem mit der einfachen Mehrheit aus SPD und Union regiert werden würde. Wären die Zeiten anders und die Probleme nicht so groß, dass besser heute als morgen an ihren Lösungen gearbeitet werden sollte, wäre mir das politische Geschäft, wie es sich nun vollzieht, eher egal. In Zeiten wie diesen würde ich mir Politiker wünschen, die in staatspolitischer Verantwortung den eher weniger bequemen Weg gingen. Aber wie gesagt: Politik ist kein Wunschkonzert.

Meiner Meinung nach sind die ideologischen und programmatischen Gräben zwischen den Parteien viel zu groß, um sich im Rahmen einer staatspolitischen Verantwortung gemeinsam den anstehenden Aufgaben zu stellen. Gleiches gilt für die Meinungen zu den rezenten Problemen, die sich in der Wählerschaft bilden. Man darf nicht vergessen, dass die Wahl 2021 unter völlig anderen Vorzeichen stattgefunden hat, und dass es dem gewählten Parlament eben nicht gelungen ist, auf die veränderten Bedingungen adäquat zu reagieren. So hat die Regierung im Rahmen des beginnenden Angriffskrieges Russlands und der damit einhergehenden Energiekrise zwar respektable Erfolge erzielen können, eine Überarbeitung des Koalitionsvertrages hätte in meinen Augen jedoch zwingend im Anschluss erfolgen müssen. Hier sehe ich auch das eigentliche, staatspolitische Versagen. Die Entwicklungen, die den Zusammenbruch der Koaliton zur Folge hatten, sind hinlänglich bekannt, ebenso das absolut mangelnde Interesse der Opposition, sich konstruktiv an Problemlösungen zu beteiligen.

Vor diesem Hintergrund besteht kaum Hoffnung, dass die gewählten Volksverteter dem Druck der Wähler und der eigenen Parteien widerstehend zu einer sachorientierten Politik zurückkehren (so sie eine solche überhaupt je betrieben haben). Ein "Durchhalten" bis zum regulären Wahltermin gliche einer fortwährenden Koalitionssondierung, ich hege doch enorme Zweifel, dass sich hieraus angemessene Ergebnisse für die Herausforderungen der Zeit erzielen lassen.

Eine Neuwahl wird die Situation nicht grundsätzlich verbessern, aber sie böte die Chance auf einen wirklichen Neustart unter Beteiligung des Souveräns im Rahmen einer Bundestagswahl. Ob eine kommende Regierung ihrer staatspolitischen Verantwortung dann besser nachkommen wird, wird nicht abhängig vom Wahltermin sein. Umso länger jedoch der Eindruck von Uneinigkeit und Handlungsunfähigkeit bestehen bleibt, desto größer werden die Chancen für radikalere Kräfte.

Ich kann Deinen Gedanken durchaus folgen und würde ein solches, der Verantwortung gerecht werdendes Handeln ja auch begrüßen, aber die Welt ist eben kein am Reißbrett der Verfassung entworfenes Ideal. Spannend in diesem Zusammmenhang und nur am Rande die Aussage der Bundeswahlleiterin, dass eine sofortige Vertrauensfrage technisch nicht in einer sauberen Neuwahl münden könnte. Die entsprechenden Fristen sind in der Verfassung definiert und daher SIND diese im Falle einer verlorenen Vertrauensfrage einzuhalten - Ob da Weihnachten dazwischen liegt, ist unbeachtlich (Ganz persönlich halte ich die Vertrauensfrage Mitte oder Ende Dezember für angebracht).

Eukaryot

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Antw:Tarifverhandlungen 2024/2025 Öffentlicher Dienst
« Antwort #314 am: 10.11.2024 19:06 »
Die Argumentation, dass der staatspolitischen Verantwortung im Sinne des Souveräns am ehesten durch einen Koalitionswechsel innerhalb der laufenden Legislaturperiode und eine zielgerichtete Bearbeitung der zu lösenden Aufgaben nachgekommen werden kann, teile ich in vollem Umfang. An dieser Stelle danke ich für das Aufzeigen der vier Wege, eine Neuwahl zu vermeiden: Die Ernennung von Unionsministern durch den Bundeskanzler, der Rücktritt des Bundeskanzlers sowie das konstruktive Misstrauensvotum. Ferner wäre eine Kanzlerwahl nach einer verlorenen Vertrauensfrage möglich.

Die zentralen Erfolge der FDP im Kabinett Scholz umfassen wohl das Verhindern von Steuererhöhungen, die Begrenzung der Neuverschuldung auf ca. 135 Mrd. €, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das CETA-Freihandelsabkommen, das Verhindern eines pauschalen Verbots von Steuererhöhungen, eine bescheidene Digitalisierung und das Verhindern eines Tempolimits auf Autobahnen.

Die Grünen können den Atomausstieg sowie den nachhaltigen Umbau hin zu erneuerbaren Energien durch Maßnahmen wie das Klimaschutzgesetz mit ambitionierten CO2-Reduktionszielen bis 2030, das Erneuerbare-Energien-Gesetz, die Gas- und Heizungsstrategie und die Vorbereitung der Industrieanlagen auf die Nutzung von grünem Wasserstoff, die Sicherung von Beschaffungsmärkten für fossile Energien und weitgehend ungehemmte Waffenlieferungen in Kriegsgebiete für sich verbuchen. Weiterhin die Reformen des Staatsangehörigkeitsrechts, des Fachkräfteeinwanderungsrechts und des Abstammungsrechts, das Verhindern weiterer sicherer Herkunftsstaaten und weitere Liberalisierungen im Asylrecht.

Die SPD Schritte kann Schritte zur Dekarbonisierung des Verkehrssektors und der Industrie, die Reformen des Einbürgerungs-, Einwanderungs- und Abstammungsrechts, das Bürgergeld, die Digitalisierung des Gesundheitswesens und das Pflegepersonal-Stärkungsgesetz für sich verbuchen.

Alle drei Parteien gemeinsam würden wohl das Deutschlandticket, die Energiepreisbremsen, die Corona-Wirtschaftshilfen, die Sicherung von Beschaffungsmärkten fossiler Energien und Soforthilfen für die Ukraine als Erfolge bezeichnen.

Laut den Erklärungen von Scholz und Lindner forderte Scholz die Aussetzung der Schuldenbremse aufgrund einer erklärten Notlage, um staatliche Hilfen für den Ukraine-Krieg zu finanzieren – eine Position, die ich entschieden ablehne.

Die kommenden Herausforderungen erfordern Strukturreformen in der Renten- und Krankenversicherung sowie die Senkung von Strompreisen und Produktionskosten. Es werden enorme Struktur- und Konjunkturprogramme nötig sein.

Unter der Kanzlerschaft von Friedrich Merz wird eine Koalition aus Union und SPD infolge eines Friedensschlusses voraussichtlich die Waffenhilfe für die Ukraine zurückfahren, die Schuldenbremse aussetzen müssen und umfangreiche Konjunkturprogramme einleiten. - Das Gegenteil der gegenwärtigen Parteipositionen. Darüber hinaus wäre eine Lösung der aufgeführten Strukturprobleme wünschenswert.
« Last Edit: 10.11.2024 19:18 von Eukaryot »