Autor Thema: Brief von drei Oberbürgermeistern an den Bundeskanzler zur Bürokratie im Lande  (Read 2812 times)

Schmitti

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Absolut lesenswert: Der Brief von drei Oberbürgermeistern, u.a. Palmer, an den Bundeskanzler im Wortlaut: https://www.tuebingen.de/Dateien/482_brief_buerokratie_scholz_anlage.pdf

Zitat
Wir machen in der Praxis jeden Tag die Erfahrung, wie lähmend die Summe der Vorschriften in
unserem Land geworden ist. Und leider ist keine Trendwende zu erkennen, im Gegenteil, beinahe
täglich müssen wir uns über neue, verschärfte Regelwerke beugen und Bürgern erklären, was
eigentlich niemand mehr wirklich versteht. Das Problem in seiner ganzen Dimension wird erst
verständlich, wenn man es an Beispielen aus der Praxis festmacht. Wir wollen Ihnen daher mit
Beispielen von A bis Z – quasi aus dem Maschinenraum der Republik – veranschaulichen, wie
absurd sich viele Vorschriften auswirken und einige Vorschläge unterbreiten, wie Bürokratieabbau
gelingen kann. Wir haben dabei eine strenge Auswahl getroffen und konnten das Problem
trotzdem nicht in weniger als elf Seiten beschreiben.
...
Wenn wir es nicht schaffen, das Dickicht der Bürokratie zu lichten, wird der Personalmangel in der
öffentlichen Verwaltung das Problem auf unkonventionelle Weise lösen. Es gibt die Leute schlicht
nicht mehr, die all die Vorschriften lesen, verstehen und anwenden könnten. Auch Verwaltungen
können nicht zu etwas verpflichtet werden, das zu leisten objektiv unmöglich ist. Der Tag ist nicht
mehr fern.
...
Die Bürokratie überwältigt die Demokratie.

Bibliothekar

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Da ist sicherlich viel Wahres dran. Es liest sich ein bisschen so, als ob die drei Herren neues Material für den realen Irrsinn bei der Sendung extra3 zusammengestellt hätten.

Johann

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Das ist einfach die Folge aus übergeordneter Politik, die von sehr vielen Menschen, die sich teilweise sehr gut in der Materie auskennen, beraten werden. Die Gesetze werden präzise und rechtssicher auf den Weg gebracht, weil dahinter ein riesiger Haufen Know-How steckt.

Da, wo die Gesetze allerdings ankommen und sich auswirken sollen, hat man aber nur ein paar Verwaltungsmitarbeiter und kein unendlich scheinendes Budget für Beratungsfirmen, um das in Gesetze gegossene wieder zu entfleddern und auf die eigene Situation zu beziehen.

Dazu kommt, dass in den vergangenen Jahrzehnten immer und immer mehr Aufgaben auf die Kommunen abgewälzt wurden und Kommunen sich kaum mehr auf kommunale Probleme zu konzentrieren, weil sie so sehr damit abgelenkt sind, was der Bund von ihnen erwartet.

Die Bürger ätzen über immer höhere Abgaben, weil auch bspw. die Grundsteuer selbstverständlich nirgends sinkt, während die Kommunen zunehmend beklagen, sie hätten kein Geld um den kommunalen Bürgern etwas Gutes zu tun. Weil der Bund von oben vorgibt, dass Kommunen dies und jenes machen müssen, was häufig den kommunalen Bürgern absolut nicht nutzt.

BAT

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Der Ansatz ist ja gut, aber da weht doch immer noch der Geist der in Deutschland gerne gesehenen Regulierung inklusive dem Vorschlag der Ausweitung von Regelungen (Tempo 40 und 30).

Naja...

Opa

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Die Bürokratie hat sehr viel damit zu tun, dass einerseits massenhaft Regeln und Gesetze durch Lobby-Arbeit entstehen und entstanden sind und andererseits durch Rechtsprechung ursprünglich einfach gestrickte Gesetze im Laufe der Jahre zugunsten der Einzelfallgerechtigkeit immer weiter verkompliziert werden.

Naturgemäß hat immer etwa die Hälfte der Betroffenen damit ein Problem, weil Regelungen ihren eigenen Interessen zuwiderlaufen, während die andere Hälfte froh ist, weil sie profitiert. Und dann gibt es eben noch Regelungen, über die so gut wie keiner froh ist, die aber gleichwohl ihre Berechtigung und Notwendigkeit haben.

Dass die 3 OB nicht für jeden Buchstaben des Alphabets ein Beidpiel finden konnten, in dem wirklich die Bürokratie das Problem ist, zeigt ganz deutlich, dass es mehr um politische Aufmerksamkeit als um ein tatsächliches Problem geht. Ich bin mir zu 100% sicher, dass ich in jeder der 3 Stadtverwaltungen ohne langes Suchen auf Anhieb Beispiele für selbst produzierte und unnötige Bürokratie finden würde, die der Verantwortung der Briefeschreiber unmittelbar unterliegen und von diesen ohne Kollateralschäden sofort beseitigt werden könnten.

BAT

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Nein, da würde ich zweimal das Gegenteil behaupten.

Zunächst geht es ja nicht um die Regelungen an sich, sondern um deren Umsetzung und das dafür notwendige Personal.

Und ja, man steht sich sicherlich selbst im Weg als Bürokratie, aber zumindest bei uns wird so Einiges gar nicht wahrgenommen bzw. sehr locker gehandhabt, weil sonst gar kein Vollzug mehr gemeldet werden könnte.

FGL

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Zunächst geht es ja nicht um die Regelungen an sich, sondern um deren Umsetzung und das dafür notwendige Personal.
Die Entwicklung in Richtung immer mehr Einzelfallgerechtigkeit durch "Reformen" und die zu den Regelungen ergehende machen den Gesetzesvollzug immer aufwändiger. Da hat Opa schon Recht. Ich bin seit mehr als 13 Jahren in der Sozialverwaltung tätig und weiß ein Lied davon zu singen.

ElBarto

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Ja ohne Bürokratie wäre der Deutsche irgendwie nicht vollständig.

Jede Regierung der letzten Dekaden hat deren Abbau versprochen, hat diesen auch vorgenommen nur auf der anderen Seite gleich wieder mehr Regelungen erlassen als abgeschafft wurden.

Grandioses Beispiel ist das Steuerrecht. Wäre das noch ansatzweise verständlich müsste es nicht einen ganzen Reigen an Hilfs-Vereinen und einen ganzen Berufsstamm geben.

Mitschuld trägt aber auch die Rechtsprechung an sich und die Mentalität der Menschen. So wird heutzutage jeder von jedem wegen jedem Mist verklagt und erhält teilweise noch recht. Natürlich erlassen Behörden usw. dann irgendwelche Regelungen um sich vor der nächsten Klage zu schützen.

Der öffentliche Dienst muss wegen jedem Mist Angebote einholen und ausschreiben. Sieht aber was der Staat an Milliarden jedes Jahr zu Projekten nachschießt weil man hier wohl nur grobes Schätzen in der Ausschreibung akzeptiert oder einfach schlecht ausschreibt, dann fragt man sich schon warum man wegen ein paar Tausend Euro so einen Aufwand betreiben muss.

Neben der Beratung durch Profis zum eigenen Vorteil oder der dahinterstehenden Lobby bleibt aber auch oft zu bemängeln, dass die Politik keine Ahnung vom Thema und den Auswirkungen in der Realität hat wenn wieder Bürokratisiert wird.

Hugo Stieglitz

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Die EU trägt auch einen Teil dazu bei. Schlimmer finde ich aber die Bürokratie, die Unternehmen in diesem Land aufgebürdet wird, weil diese einen tatsächlichen Standortnachteil im Vergleich zu anderen Ländern darstellt. Wenn ich mal so an DSGVO, Lieferkettengesetz oder Nachhaltigkeitsberichte denke.

Bibliothekar

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Die EU trägt auch einen Teil dazu bei. Schlimmer finde ich aber die Bürokratie, die Unternehmen in diesem Land aufgebürdet wird, weil diese einen tatsächlichen Standortnachteil im Vergleich zu anderen Ländern darstellt. Wenn ich mal so an DSGVO, Lieferkettengesetz oder Nachhaltigkeitsberichte denke.

Die DSGVO und Nachhaltigkeitsberichte sind EU-Verordnungen. Über ein Lieferkettengesetz wurde auf Ebene der EU auch schon diskutiert. Also ergibt sich der Standortnachteil (zumindest bei den Beispielen) nur gegenüber nicht-EU Ländern. Das macht es vielleicht nicht viel besser, ich wollte nur darauf hinweisen.

Hugo Stieglitz

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Die EU trägt auch einen Teil dazu bei. Schlimmer finde ich aber die Bürokratie, die Unternehmen in diesem Land aufgebürdet wird, weil diese einen tatsächlichen Standortnachteil im Vergleich zu anderen Ländern darstellt. Wenn ich mal so an DSGVO, Lieferkettengesetz oder Nachhaltigkeitsberichte denke.

Die DSGVO und Nachhaltigkeitsberichte sind EU-Verordnungen. Über ein Lieferkettengesetz wurde auf Ebene der EU auch schon diskutiert. Also ergibt sich der Standortnachteil (zumindest bei den Beispielen) nur gegenüber nicht-EU Ländern. Das macht es vielleicht nicht viel besser, ich wollte nur darauf hinweisen.
Die EU als Ganzes verliert ja auch, im Gegensatz zu dem was anfangs versprochen wurde, wirtschaftlich den Anschluss. Die Briefe könnten also genauso auch nach Brüssel geschickt werden.

BAT

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Es gibt ja viele Methoden zur Begrenzung von Regelungen:

a) Evaluierung verpflichtend (was bringen z. B. die Umweltzonen noch? Wirkt das Dosenpfand?, etc.)

b) Befristung eines Gesetzes in der Zeit (soll es weiter gelten, neuer Beschluss)

c) one in, two out oder wenigsten one in, one out

etc.

Ozymandias

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Mitschuld trägt aber auch die Rechtsprechung an sich und die Mentalität der Menschen. So wird heutzutage jeder von jedem wegen jedem Mist verklagt und erhält teilweise noch recht. Natürlich erlassen Behörden usw. dann irgendwelche Regelungen um sich vor der nächsten Klage zu schützen.

Nach meiner Erfahrung schaffen es bereits heute viele Behörden nicht mehr sich an geltende Gesetze zu halten und zwar teilweise mit sehr starker Absicht.

Fachlich wird sehr stark daneben gegriffen was man teilweise nur noch als Lüge abtun kann. Bei Nachzahlungen fehlen Zinsen, diese werden dann teilweise mehrfach falsch berechnet. Und nein bei solchen Sachen kann man auch nicht die ganze Schuld auf den Gesetzgeber oder die Rechtsprechung schieben, wenn man nicht mal mehr das 1x1 in der Verwaltung hinbekommt.

Also wenn ich weiß, dass ein Bescheid zu großen Teilen manuelle Arbeit erfordert hagelt es automatisch Widerspruch und wenn auch nur für eine längere Prüfungsfrist. Querulantentum gewinnt in Deutschland immer.

fragmalnach

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Nicht zu vergessen das gesamte Paralleluniversum um Fördermittel von EU, Bund und Ländern, was in Summe vermutlich mehr Verwaltungsaufwand kostet als Fördermittel zu vergeben sind. Könnte man insgesamt abschaffen und die Gelder auf die entsprechenden Empfänger umlegen. Mit mehr Haushaltsmitteln ist grundsätzlich mehr geschaffen.
Dass es jedweder Gesetzgebungsinstanz vollkommen egal ist, was die Fachbehörden für Einwendungen und Hinweise im Gesetzgebungsverfahren beitragen und stattdessen lieber dem zahlungskräftigen Lobbyisten beigepflichtet wird, scheint Normalzustand.
Die Sinnlosigkeit der Verwaltungsdienst Leistungen und Gängeleien des Bürgers sind inzwischen bei einem Maß angekommen, was man selbst als Mitarbeiter einer Behörde schwer ertragen kann.... Da zwingt man Menschen ihren unbefristeten Führerschein in einen befristeten umzutauschen, man erhöht das Wohngeld, damit noch mehr Immobilienhaie sich die Taschen füllen, man lässt Bewerber für die Staatsangehörigkeit zwei Jahre auf einen Beratungstermin warten, der eigentlich überhaupt nicht erforderlich ist, und grundsätzlich berät man seit Corona nur noch mit vorheriger Terminvereinbarung, damit der Schichtler im Mindestlohn ach mal schön Wochen vorplant, wann sein 20 Jahre altes Auto aussteigt und er ein neues zulassen kann um damit zur Maloche zu kommen von Montag bis Sonntag ohne ÖPNV.

Manchen Tags schämt man sich der ganzen Sache als Mitarbeiter....

BAT

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Die Regelungen stehen ja nicht im luftleeren Raum. Sie sind gewollt und zwar von der Bevölkerung. Da können die drei Gewalten nicht soviel dran ändern, wenn sich die Mentalität der eigentlichen Gewalt nicht ändert.

Führerscheinprüfungen für Ältere: 86 Prozent dafür (für verpflichtende Erste-Hilfe-Kurse wohl 100 %)

staatliche Auflagen bzw. Regelungen zu Mogelpackungen (Rama-Gate): 77 Prozent.

etc...

Wenn also der deutsche Michel für jeden Schiss eine Norm haben möchte, können die Gewalten fast nicht anders. Auf eigenen Füssen und Gehirnwindungen stehen scheint sehr schwer zu sein ;)