Autor Thema: Wo wären wir ohne Gewerkschaft?  (Read 1773 times)

AVP

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Wo wären wir ohne Gewerkschaft?
« am: 12.10.2023 00:24 »
Viele hier sehen den TV-L derzeit ja als nicht mehr konkurrenzfähig zu anderen (öffentlichen) Tarifverträgen oder allgemein anderen Arbeitgebern.

Daher einfach mal die rein hypothetische Frage nach eurer Einschätzung wo die Entlohnung und Arbeitsbedingungen heute wären, wenn mit Auslaufen des BAT entschieden worden wäre dass es im öffentlichen Dienst zukünftig keine Gewerkschaften und Tarifverträge mehr gäbe und die Landesregierung zukünftig analog zu den Besoldungsgesetzen die Tabelle per Gesetz/Verordnung fortschreibt.

Grundsätzlich wäre ja anzunehmen dass es auch ohne Gewerkschaft eine Anpassung an die allgemeine Lohnentwicklung gegeben hätte, alleine um weiter wettbewerbsfähig zu bleiben. Zudem werden seitens der Politik ja auch Dinge wie der Mindestlohn oder das Bürgergeld fortlaufend angepasst und verbleiben nicht einfach starr, ganze ohne Verhandlungen mit der Gewerkschaft.

Schaut man sich folgende Grafik an, dann haben sich die Löhne im TV-L unterhalb der allgemeinen Lohnentwicklung bewegt: https://oeffentlicher-dienst.info/vergleich/entwicklung1/

Da kann man sich ggf. ja schon die Frage stellen ob die derzeitigen Tabellenentgelte sich nicht auch „von alleine“, also ohne Gewerkschaft entsprechend entwickelt hätten und falls man dieser Ansicht sein sollte, wozu die Gewerkschaft dann überhaupt „gut“ ist. Wäre dies der Fall dann wäre dies natürlich für alle ein Schlag ins Gesicht die eine quasi überflüssige Gewerkschaft durch Beiträge finanziert haben.

Denn auch an sonstigen Benefits mangelt es dem TV-L stark und viele KMUs haben ganz ohne Tarifveträge attraktivere Benefits, einfach nur um ihre Mitarbeiter zu halten oder zu gewinnen. Die einzigen richtigen TV-L Benefit die mir einfallen  wären der Krankengeldzuschuss und ggf. noch die VBL. Kein Urlaubsgeld, kein richtiges volles 13. Gehalt, kein Dienstwagenprivileg, kein Bonus, die Bestimmungen der EntgO schränken eher ein als dem AN zu helfen, relativ hohe Wochenstunden etc.


MoinMoin

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Antw:Wo wären wir ohne Gewerkschaft?
« Antwort #1 am: 12.10.2023 07:31 »
Zum einen ist das Entgelt nur ein Teil des Tarifes.

Wenn also der AG nur noch einzelvertraglich agiert und dem einzelnen die Vertragsbestandteile diktiert, dann hat es für den Einzelnen den Vorteil, dass er bessere Bedingungen aushandeln kann, da es keine tarifliche Begrenzungen gibt, die alle TVPs AGseitig vereinbaren und den Nachteil, dass der AG für einzelne schlechter Bedingungen diktieren kann, da er keine Untergrenze hat, die er einhalten muss.

Ob dann der einzelne gut oder schlecht verhandelt bzw verhandeln kann, weil er entweder ein gesuchter AN ist oder weil er en beliebig austauschbares Rad im Getriebe ist, kann man überall beobachten.

Da wir aber im öD seltenste gute Personaler haben, die das Pokerspiel der Vertragsverhandlung beherrschen, oder gar beherrschen müssten sei mal dahingestellt.
Denn wenn der eine Vertragspartner (der Personaler der einstellenden Dienststelle, die wohlmöglich auch noch Beamte sind und damit "Fachfremd") keine Vor- oder Nachteile dabei hat, wenn er gute AN durch mehr Geld an sich bindet oder die Arbeitsameisen durch günstige Verträge billige abspeist, führt doch dazu, dass - genauso wie jetzt - ein starres Korsett als landesweite Vorgabe genommen wird und regionale oder inhaltliche Abweichungen nicht ausgeübt werden.
Der Unterschied wäre: die AG Seite diktiert und die AN Seite ist stets ein einzelner, der verhandelt. Es würd in der Masse ein schlechteres Ergebnis dabei rum kommen.

Das sich der TV-L unterhalb der allgemeinen Lohnentwicklung bewegt kann ich allerdings so pauschal nicht bestätigen.
Wenn man von 2006 ausgehend (Beginn der Misere)
Durchschnittsentgelt 29494 EG8S6 32284
2021
Durchschnittsentgelt 40463 EG8S6 45537
Steigerung 37,2 % zu 41%
2023
Steigerung 46% zu 45%

Ich würde mal eher sagen parallele Entwicklung und damit ist es die "Leistung" der Gewerkschaften, dass man es geschafft hat, die Löhne im TV-L nicht von der Durchschnittslohnentwicklung zu entkoppeln.

Leider kenne ich keine Statistik die da die Lohnentwicklung bei Berufen mit Ausbildung/Studium in Vollzeit darstellt, denn der Vergleich mit den Rentenpunktrelevanten Daten hinkt natürlich, da auch Amazonsklaven und TZ da reinspielen.

AVP

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Antw:Wo wären wir ohne Gewerkschaft?
« Antwort #2 am: 12.10.2023 08:32 »
Wie du schon selbst anmerkst dürfte das Durchschnittsentgelt nach SGB6 nicht tauglich sein die durchschnittliche Lohnentwicklung in Deutschland abzubilden. Das Durchschnittsentgelt stieg in den letzten ~30-40 Jahren langsamer aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung, dass immer mehr Menschen arbeiten (gerade Frauen die früher noch Hausfrau waren), dies dann aber mit Familie regelmäßig in Teilzeit. Besser wäre sicherlich auf die Entwicklung des Stundenlohnes zu schauen, da eine Reduzierung der Arbeitszeit bei Lohnausgleich natürlich praktisch auch einer Gehaltserhöhung gleichkommt.

Auch eine einzelne Entgeltgruppe im öD wäre wohl nicht tauglich die durchschnittliche Lohnentwicklung abzubilden, da gerade im ÖD die einzelnen Lohngruppen unterschiedlich stark stiegen.

Sofern man davon ausgeht dass sich die Lohnentwicklung im TV-L ohne Gewerkschaft noch stärker von der allgemeinen Lohnentwicklung entkoppelt hätte wäre der Personalmangel im TV-L noch größer.

Es wäre zudem natürlich auch möglich allgemeine Arbeitsbedingungen für alle festzulegen. Da du selbst Amazon ansprichst ist ggf. auch ganz interessant dass Amazon mittlerweile mindestens 14€ für Ungelerente bezahlt, dies entspricht exakt EG1.

Nach 2 Jahren Betriebszugehörigkeit kommt da dort mittlerweile im Logisitikbereich mindestens auf 37.000€ brutto - was mehr ist als EG 5 Stufe 2. Zudem gibts für alle MA auch Benefits wie: Deutschlandticket, Familienbonus etc.

https://www.aboutamazon.de/news/logistik-und-zustellung/amazon-erhoeht-den-einstiegslohn-fuer-logistik-mitarbeiter-innen-in-deutschland-auf-14-euro-und-aufwaerts