Ich habe bislang noch keine Klagebegründung formuliert und möchte Eure Meinung zu meinen Entwürfen für die Bereiche Familienzuschläge (1) und Mindestalimentation (2) einholen. Vieles stammt inhaltlich aus dem Forum, ich habe es versucht zusammenzuführen:
1.
Der Beklagte begegnet dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2020 – 2 BvL 4/18 mit dem „Gesetz zur Anpassung der Alimentation von Familien sowie zur Änderung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften“ (Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW.) Ausgabe 2022 Nr. 17 vom 12.4.2022 Seite 375 bis 410) und dem „Gesetz zur Änderung des Landesbesoldungsgesetzes sowie des Landesreisekostengesetzes“ (Gesetz- und Verordnungsblatt (GV. NRW.) Ausgabe 2022 Nr. 41 vom 21.11.2022 Seite 967 bis 986) durch Einführung stark erhöhter Familienzuschläge, die regional und nach Besoldungsgruppen differenziert werden, wobei die Differenzierung nur zu marginalen Unterschieden zwischen den Besoldungsgruppen führt.
Während die Familienzuschläge in 2021 in der ersten Stufe noch 143,16 € bis 148,52 € und in der zweiten und dritten Stufe 129,32 € bis 132,42 € betrugen (NW-Drs. 17/6681 vom 27.06.2019, Anhang 29 Anlage 13, S. 55.), sieht die getroffene Neuregelung in 2022 Erhöhungen in der ersten Stufe auf 147,18 € bis 152,68 € unabhängig vom Wohnort vor, in der zweiten Stufe um mehr als 132,32 € (Mietenstufe I) bis 687,92 € (Mietenstufe VII), sowie in der dritten Stufe um mehr als 360,49 € (Mietenstufe I) bis 674,59 € (Mietenstufe VII) vor. Somit ergeben sich für einen verheirateten Beamten mit 2 Kindern aller Besoldungsgruppen außer A 5 bis A 8 durch die Neuregelung folgende familienspezifische Zuschläge (vgl. auch
https://www.finanzverwaltung.nrw.de/system/files/media/document/file/Anlage13_Beispiele.pdf):
2021 2022
Mietenstufe I Mietenstufe III Mietenstufe VII
Familiärer Zuschlag Betrag Betrag Änderung Betrag Änderung Betrag Änderung
verheiratet 148,52 € 152,68 € +2,8% 152,68 € +2,8% 152,68 € +2,8%
1.Kind 129,32 € 132,94 € +2,8% 176,33 € +36,4% 687,92 € +432,0%
2.Kind 129,32 € 360,49 € +178,8% 573,04 € +343,1% 674,59 € +421,6%
Summe 407,16 € 646,11 € +58,7% 902,05 € +121,5% 1.515,19 € +272,1%
Tabelle 1: Vergleich familiärer Besoldungszuschläge in den Jahren 2021 und 2022
Bei Mietenstufe I entspricht die Erhöhung bis zur zweiten Familienstufe der Tarifeinigung im Öffentlichen Dienst in 2022 von +2,8%, während die dritte Familienstufe um 179% steigt. In Mietenstufe III und VII betragen die Erhöhungen bei der dritten Stufe 343% bzw. 422%.
Der Gesetzentwurf (NW-Drucksache 17/1632 vom 21.01.2022) liefert keine sachliche Begründung für die Erhöhungen einzelner Kinder in bestimmten Wohnorten. Vor allem die ungleiche Behandlung des zweiten Kindes gegenüber dem ersten hätte differenziert gerechtfertigt werden müssen, da ein systemischer Wechsel vorliegt, der besonderer prozeduraler Sorgfalt gemäß den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts bedarf, zumal bis 2021 für das erste und zweite Kind Zuschläge in gleicher Höhe gewährt wurden.
Die Regelungen führen dazu, dass verheiratete Beamte mit zwei Kindern in Regionen der Mietenstufe VII Familienzuschläge von 1.515,19 € erhalten. Dies stellt eine faktische Nebenbesoldung dar, die mit dem Leistungsprinzip und dem allgemeinen Gleichheitssatz nicht vereinbar ist. Eine Gleichbehandlung nach dem Leistungsprinzip findet offenkundig nicht statt. Das Bundesverfassungsgericht geht zudem davon aus, dass der Kindesunterhalt überwiegend aus „familienneutralen“ Gehaltsbestandteilen bestritten werden kann. Die geplanten Zuschläge übersteigen jedoch deutlich die als angemessen erachteten Regelsätze und sind daher verfassungsrechtlich problematisch (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 30. März 1977 – 2 BvR 1039/75 –, Rn. 65).
Besonders auffällig ist dies bei den hohen Zuschlägen ab dem dritten Kind in Zusammenspiel mit den regionalen Ergänzungszuschlägen, die nur für Familien mit Kindern gewährt werden. So machen in Mietenstufe VI (z. B. Düsseldorf) die familienbezogenen Anteile der Besoldung in den Besoldungsgruppen A, W und R bei drei Kindern zwischen 21,6 % und 45,9 % der Gesamtbesoldung aus [Anlage hier nicht aufgeführt, es findet sich eine Tabelle im Forum]. Dies führt dazu, dass die kindbezogenen Zuschläge eine höhere Besoldung bewirken als eine Beförderung in ein höheres Amt.
Zudem widerspricht diese Regelung dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Amtsbezogenheit der Besoldung. Während familienbezogene Bestandteile eine Ergänzung darstellen, dürfen sie nicht das grundlegende Prinzip der statusbezogenen Alimentierung unterlaufen. Es ist fraglich, ob die Grundbesoldung noch als angemessen gelten kann, wenn zusätzliche familienbezogene Bestandteile teils über 30 % der Amtsbesoldung ausmachen. Ebenso zweifelhaft ist, ob das Leistungsprinzip gewahrt bleibt, wenn z.B. ein Beamter der Besoldungsgruppe A 5 (verheiratet, 3 Kinder, Mietenstufe VI) eine höhere Besoldung erhält als ein lediger Richter ohne Kinder (R1, Stufe 1) am gleichen Wohnort.
Die Neuregelungen führen somit zu erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken und einer Verzerrung des Besoldungssystems.
2.
Die Mindestalimentation ergibt sich aus der verfassungsrechtlichen Verpflichtung des Dienstherrn, Beamte und ihre Familien amtsangemessen zu alimentieren. Dies folgt aus Art. 33 Abs. 5 GG sowie der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Berechnung der Mindestalimentation basiert auf einer vierköpfigen Familie, die als Referenzgröße für die Bewertung der Besoldungshöhe herangezogen wird.
Trotz dieser verfassungsrechtlichen Vorgaben verzichtet der Besoldungsgesetzgeber in der Gesetzesbegründung auf eine verpflichtende Gegenüberstellung zwischen der Mindestalimentation und der tatsächlich gewährten Netto-Alimentation. Eine solche Gegenüberstellung ist jedoch unerlässlich, um die Verfassungsmäßigkeit der Besoldung zu prüfen und eine systematische Unteralimentation auszuschließen.
Der Beklagte verkennt die vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG, Beschl. v. 04.05.2020 – 2 BvL 4/18, Rn. 55 ff.) aufgestellten Maßgaben zur Berechnung des grundsicherungsrechtlichen Bedarfs, insbesondere im Hinblick auf die Unterkunftskosten. Maßgeblich ist das 95 %-Perzentil der Unterkunftskosten, das in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2020 bei 1.000 € lag (Bundesagentur für Arbeit, 18.05.2021).
Zwar kann der Gesetzgeber regionale Unterschiede anhand der Mietenstufen des Wohngeldgesetzes berücksichtigen. Dies setzt jedoch eine realitätsgerechte Grundlage für die Unterkunftskosten voraus. Die derzeitige Regelung genügt diesen Anforderungen nicht, da sie keine sachgerechte Berechnung der Unterkunftskosten vornimmt, sondern sich pauschal auf die Mietenstufen des Wohngeldgesetzes stützt. Dies führt insbesondere in den unteren Mietenstufen zu erheblichen Unterschreitungen der tatsächlichen Wohnkosten. So beträgt der Höchstbetrag für eine vierköpfige Familie in Mietenstufe I lediglich 568 € (vgl. Anlage 1 zu § 12 Abs. 1 WoGG, BGBl. I 2019 S. 1881), was mehr als 40 % unterhalb des maßgeblichen Referenzwertes liegt.
Unter Berücksichtigung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts ergibt sich für 2022 folgender monatlicher grundsicherungsrechtlicher Gesamtbedarf in Höhe von 2902,35€ (Regelbedarf 1.441,56 €, Bedarf Unterkunft (95 %-Perzentil) 1.000,00 €, Bedarf Heizung 186,28 €, Bedarf Bildung und Teilhabe 118,00 €, Vergünstigte Sozialtarife 156,51 €) und somit eine Mindestalimentation (115 % des Gesamtbedarfs) in Höhe von 3.337,70 €.
Diese so berechnete Mindestalimentation stellt aber nur eine untere Grenze der realitätsgerechten Mindestalimentation, da die in der Gesetzesbegründung angegebenen Beträge sowie Bedarfe für Unterkunft und Heizung bedingt durch die Inflation im Jahr 2022 noch höher gelegen haben dürften.
Vergleicht man die Netto-Alimentation für eine vierköpfige Familie in Mietenstufe I mit der verfassungsrechtlich gebotenen Mindestalimentation, zeigt sich, dass zahlreiche Besoldungsgruppen systematisch unterhalb dieser Schwelle liegen [Anlage auch hier nicht aufgeführt, es findet sich eine passende Tabelle im Forum]:
• A5: 2.839,11 € bis 3.167,60 €, max. Unterschreitung 498,59 €, betroffen 8 Stufen
• A6: 2.912,46 € bis 3.271,53 €, max. Unterschreitung 425,24 €, betroffen 8 Stufen
• A7: 2.968,45 € bis 3.358,94 €, max. Unterschreitung 369,25 €, betroffen 7 Stufen
• A8: 3.024,04 € bis 3.563,91 €, max. Unterschreitung 313,66 €, betroffen 4 Stufen
• A9: 3.137,01 € bis 3.709,97 €, max. Unterschreitung 200,69 €, betroffen 3 Stufen
• A10: 3.309,30 € bis 4.029,46 €, max. Unterschreitung 28,40 €, betroffen 1 Stufe
Insgesamt liegen 31 von 80 Felder der Besoldungstabelle (39 %) unterhalb der Mindestalimentation. Nur durch das Streichen von 10 Feldern in den Besoldungsgruppen A5 bis A10 in 2022 konnte eine noch gravierendere Schieflage vermieden werden.
Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass eine Besoldung unterhalb der Mindestalimentation verfassungswidrig ist. Die Besoldungsgruppen A5 bis A9 unterschreiten diese Grenze sogar in erheblichem Maße.
Laut fünften Leitsatzes der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes 2 BvL 4/18 wirkt sich ein Verstoß gegen das Mindestabstandsgebot auf das gesamte Besoldungsgefüge aus, wenn der vom Gesetzgeber gesetzte Ausgangspunkt sich als fehlerhaft erweist. Je näher eine Besoldungsgruppe an der Mindestgrenze liegt und je stärker die Unterschreitung ausfällt, desto größer ist das Gewicht dieses Indizes für die Feststellung einer verfassungswidrigen Besoldung.
Dies gilt laut sechstem Leitsatz der aktuellen Entscheidung 2 BvL 4/18 selbst dann, wenn keine weiteren Parameter der ersten Prüfungsstufe für eine Unteralimentation sprechen. Die indizielle Bedeutung ist im Rahmen der Gesamtabwägung zu berücksichtigen und gewinnt mit dem Umfang und der Deutlichkeit des Verstoßes an Gewicht, denn bereits bei Vorliegen eines oder zweier Parameter verlangt das Bundesverfassungsgericht eine umfassende Würdigung aller relevanten Kriterien der ersten und zweiten Prüfungsstufe.
Die Besoldung des Klägers ist daher evident verfassungswidrig und bedarf einer entsprechenden Anpassung.