Zur Diskussion über die Abkopplung vor 1996:
Die von Believer gezeigten Daten sind zweifellos beeindruckend. Ein Gericht müsste aber tiefer eintauchen und sich mit den Besonderheiten der 70er und 80er beschäftigten. Es ist ja nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass es Gründe für eine Abkopplung gibt. Gab es besondere Belastungen für Arbeitnehmer (z.B. Erhöhungen SV-Beiträge)? Besonderheiten bei Beihilfe, Versorgung, Zuschlagswesen? Ölkrise, Arbeitslosigkeit, Strukturwandel, Bildungsniveau? you name it. Ohne da jetzt tiefer einzutauchen: Es wäre viel Arbeit für die Fachgerichte. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Rechtsprechung der Zeit,
https://www.servat.unibe.ch/dfr/bv099300.html
wo teils auch der Zeitraum bis 1996 beleuchtet wird.
Und sagen wir es doch mal, wie es ist: Die Grundgehälter des Jahres 1996 als Fortschreibungsbasis zu wählen, ohne davon überzeugt zu sein, dass sie amtsangemessen sind, wäre doch so ziemlich die dümmste Aktion, die man sich vorstellen könnte.
Also selbst wenn vorher eine Abkopplung stattgefunden hat, so ist doch im Lichte des Urteils davon auszugehen, dass das Basisjahr 1996 in Ordnung ist. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass man sich das Basisjahr nicht angeschaut hat. Die Höhe der Grundgehälter im Jahr 1996 und die auch Tatsache, dass nach den neuen Maßstäben das Mindestabstandsgebot im Ausgangspunkt nicht eingehalten war, müssen doch in Karlsruhe bekannt sein. Jeder kann dass in in wenigen Minuten überprüfen, warum nicht das BVerfG. Einen solchen Fauxpas kann man sich doch nicht erlauben.
Ich halte die Idee, die Fachgerichte von einer Abkopplung vor 1996 zu überzeugen, für aussichtslos. Die ganze Argumentation (ob zutreffend oder nicht) wird stets unterstellen müssen, dass man in Karlsruhe ziemlich dämlich gehandelt hat und wichtige Fakten übersehen hat. Ich denke, die Fachgerichte werden sich nicht darauf einlassen, zumal die klaren Vorgaben ja nun eine deutliche Arbeitsentlastung für sie bedeuten.
Hallo Ryan, vielen Dank für deine Antwort!
1.) Entwicklung des realen Durchschnittslohns- Du hast völlig Recht, dass die wirtschaftliche Entwicklung in den letzten Jahrzehnten „unterschiedlich“ war, was natürlich auch Einfluss auf die jeweilige Lohnentwicklung hatte.
- Zur Verdeutlichung habe ich unten mal den realen Durchschnittslohn dargestellt, also unter Berücksichtigung der Inflation (grüne Linie).
- Man sieht beispielsweise, dass es Anfang der 1980er Jahre Reallohnverluste gab (oder z.B. auch im Jahr 2022 aufgrund der hohen Inflation).
- Man sieht aber auch, dass der durchschnittliche Reallohn insbesondere zu Beginn des betrachteten Zeitraums deutlich gestiegen ist, und zwar um satte 44,6% zwischen 1970 und 1996 (sowie anschließend um weitere 17,6% zwischen 1996 und 2024).
- Und ja, der von mir verwendete „Index der durchschnittlichen Bruttomonatsverdienste“ scheint wie erwähnt etwas ausgeprägter anzusteigen als der Nominallohnindex.
- Ich habe keine Ahnung, worin genau der Unterschied begründet liegt (müsste man mal recherchieren). Aber auch der Nominallohnindex (falls man ihn künstlich zurückrechnen würde) dürfte zwischen 1970 und 1996 deutlich angestiegen sein.
2.) Entwicklung der realen A15-Besoldung- Völlig anders sieht hingegen die Entwicklung der realen A15-Besoldung aus (rote Linie in der Grafik).
- In den ersten zehn Jahren ist die reale Besoldung „immerhin“ um gut 16% angestiegen.
- Seitdem gibt es aber im Großen und Ganzen lediglich eine Seitwärtsbewegung, mit kleineren Ausschlägen nach oben und unten.
- Entsprechend lag die reale A15-Besoldung im Jahr 1996 gerade einmal 16,3% höher als 1970.
- Nochmals zum Vergleich: Der reale Durchschnittslohn lag hingegen 44,6% höher als 1970.
Somit denke ich durchaus, dass man argumentieren kann, dass die A15-Besoldung in den Jahren zwischen 1970 und 1996 der „Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards“ nicht hinreichend Rechnung getragen hat. Daher erscheint mir die Wahl des Basisjahres 1996 weiterhin als hochproblematisch. Und wie gesagt, die Begründung des BVerfG in Rn. 80 ist in meinen Augen recht dünn („hinreichender Abstand zur Wiedervereinigung sowie den prüfungsgegenständlichen Gesetzen“).
Etwaiger „Fauxpas“ des BVerfG- Nochmals: Ich bin sehr froh, in einem Rechtsstaat wie dem Unsrigen zu leben.
- Außerdem habe ich absolute Hochachtung vor unseren Gerichten (sowie natürlich sämtlichen sich hier tummelnden Juristen

).
- Lediglich bei Fragen mit einem eher mathematisch/ökonomischen Inhalt handelt die Juristerei aus meiner Sicht gelegentlich ein wenig „seltsam“.
- Konkretes Beispiel (was wir ja vor einigen Monaten bereits diskutiert hatten): Im Jahr 1923 gab es bekanntlich eine Hyperinflation. Im Rahmen der „damaligen Zeit des völligen Währungszusammenbruchs“ (späterer BGH-Sprech) wurde daher am 12.12.1923 festgelegt, dass es bei einer verspäteten Zahlung von Dienst- und Versorgungsbezügen keinen „Rechtsanspruch auf Verzinsung oder Ersatz“ gibt. Angesichts der damaligen Situation war diese Regelung aus meiner Sicht absolut logisch und nachvollziehbar.
- Erstaunlicherweise ist diese Regel jedoch auch 102 Jahre und 3 Tage später immer noch rechtswirksam. Als Nicht-Jurist erschließt sich mir diese Tatsache nicht auf Anhieb (und auch nicht beim zweiten Nachdenken)..
Somit wissen wir nicht, wie intensiv sich die BVerfG-Richter mit der Frage des Basisjahres beschäftigt haben und
ob sie sich dabei des oben beschriebenen (mathematisch/ökonomischen) Sachverhalts vollumfänglich bewusst waren..
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