Zuallererst: Neben einigem OT komme ich ganz zum Schluss nochmal auf den Bezug zu den Tarifverhandlungen.
Vorweg - und der Grund, weshalb ich mich jetzt registriert habe, nachdem ich hier bisher rund 15 Jahre still mitgelesen habe: Mich macht traurig, wie die Debattenkultur in diesem Forum ist. Mich macht traurig, dass selbst hier im Forum mit Strohmännern, Whataboutism und Co. gegeneinander angerannt wird.
Ich frage mich, wie das Ganze aussähe, wenn es eine Like-Funktion für Beiträge gäbe (keine Dislike-Funktion) - ob die sachlichen und gut argumentierten Beiträge dann besser daständen als die Beiträge mit rein ego-zentrierten Meinungen bis hin zu persönlichen Angriffen. Mangels Like-Funktion also so: Vielen Dank von meiner Seite an all Diejenigen, die hier so diskutieren, wie man sich das von seinem Gegenüber auch im Offline-Alltag wünscht.
Wir müssen aus meiner Sicht
unbedingt wieder dorthin kommen, dass
ein Vollzeitgehalt (oder zwei Teilzeitgehälter mit in Summe rund 8 Std. täglicher Arbeitszeit) mit normaler Berufsausbildung ausreicht, um ein normales Familienleben inkl. guter Bildung, gesunder Ernährung, gesellschaftlicher Teilhabe wie Restaurantbesuchen und Kinogängen sowie 2 Wochen Pauschal-/Campingurlaub im Jahr zu führen ohne jeden Euro umdrehen zu müssen.
Und für gute, motivierte Angestellte muss es aus meiner Sicht möglich sein, auch ohne Erbschaft so viel Geld zu verdienen, dass sie sich in der Stadt eine ausreichend große Wohnung und auf dem Land ein bescheidenes Einfamilienhaus kaufen können. Daneben dürfen wir die Diskussion "Wer 5-10 Jahre länger in sein formales Bildungsniveau gesteckt hat oder wer extrem leistungsfähig ist, muss dann viel mehr verdienen als jemand, der nach der Ausbildung 5 Jahre in einem Job ohne heftige geistige/körperliche Anforderungen gearbeitet hat" gerne weiter führen. Aber solange die unteren Gehaltsgruppen zu wenig für ein würdevolles Leben haben, ist das ein so drängendes Problem, dass es alles andere überschattet. Das sage ich als Promovierter.
Mich wundert aber, dass in den allermeisten Threads zu den Tarifverhandlungen Ansätze zu anderen
grundsätzlichen und prinzipiell veränderbaren Herausforderungen
des ÖD nicht tiefergehend besprochen werden. Ohne die anzugehen - und das ist saumäßig schwierig - werden die Probleme im ÖD auch in den nächsten 20 Jahren nur größer und größer werden.
Ich bin sehr, sehr froh, dass in Deutschland die allermeisten öffentlichen Angestellten nicht so einfach entlassen werden können wie aktuell z.B. in den USA. Aber es hat leider auch die bekannten negativen Folgen, z.B.:
- Strukturen (Stellenschlüssel und Co.) werden i.d.R. auch dann fortgesetzt, wenn sie für Probleme von vor 50-150 Jahren geschaffen wurden
- Es gibt auf Mitarbeitenden-Ebene z.T. deutlich weniger Druck und externe Motivation [hier erstmal wertfrei gemeint, natürlich ist Druck oft negativ!], sich anzupassen/zu verändern
- Personalentwicklung und -führung ist somit viel schwieriger umzusetzen als in der freien Wirtschaft
- Das meiste Führungspersonal ist aber gar nicht für Personalführung ausgebildet, ebensowenig die meisten Verwaltungen
- Angestellte, die auf veränderte Stellenanforderungen schlicht nicht mehr passen, oder die gar weitgehende Arbeitsverweigerung betreiben, wird man in der Praxis so gut wie gar nicht los, esseidenn sie werden weggelobt. Und das kann ganze Teams stark nach unten ziehen.
- Die (Personal-/Haushalts-/usw.-)Verwaltungsabteilungen sind oft so mächtig, dass sie ein Eigenleben führen, das nicht zu den inhaltlichen und organisatorischen Anforderungen passt ("mehr als Stufe 2 vergeben wir halt nicht, wenn nicht direkt aus einem anderen öD-Vertrag kommend - basta", "Nein, für dringende Aufgabe abc schaffen wir keine Stelle", "Alleinstellungsmerkmal machen wir bei Vergaben aus Prinzip nicht", "in der eiligen Stellenausschreibung wollen wir den unwichtigen Begriff xy aber anders haben, Mitzeichnung nochmal ganz von vorne" etc.).
Ich habe in meinem Umfeld viele Leute, die dem öD den Rücken gekehrt haben, weil die
Strukturen bei ihnen so dysfunktional waren: Personalstruktur passt nicht zu den Aufgaben, sinnvolle Veränderungen werden meistens auf verschiedensten Ebenen unmöglich gemacht, Personalführung ist schrecklich usw.
Allein schon, dass wir im öD so unfassbar wenige und so miserabel bezahlte IT-Stellen haben und obendrein so IT-feindliche Führungs- und Organisationsstrukturen, kostet den öD in den meisten Bereichen extrem viel Effizienz (ich bin übrigens selbst kein IT'ler).
Man stelle sich vor, es gäbe eine bundesweite funktionierende Kita-/Schulsoftware, bei der Eltern wie Erzieherinnen Krankmeldungen ganz einfach online/per App erledigen könnten und bei der die Software dann automatisiert die tagesaktuelle Personalplanung inkl. Vertretungsplänen/Emails an Eltern schicken würde.
Man stelle sich vor, im Krankenhaus gäbe es eine unterstützende Software, die bei allen Kranken nicht nur die Krankengeschichte kennt, sondern Pflegenden sowie Ärztinnen/Ärzten bei Entscheidungen unterstützen würde. Alte Papier-Unterlagen der Kranken würden in einem Rutsch gescannt, Befunde und andere wichtige Ergebnisse automatisiert extrahiert usw. [Mir ist vollkommen bewusst, dass das extrem große Konsequenzen für den Datenschutz hätte, bitte nur als fiktive Anregung verstehen.]
Man stelle sich vor, man könnte der Elterngeldstelle, den Arbeitsagenturen, dem Finanzamt, der kfz-Zulassungsstelle, dem Bürgerbüro usw. fast alle benötigten Daten in einem zentralen System mit wenigen Klicks passgenau freigeben und den Rest per Video-Call erledigen.
Man stelle sich vor, bei Anträgen für Forschungsgelder gäbe es Live-Onlinehilfen zu jeder Position (wie in jedem kleinen Handyspiel), die genau erklärt, was warum anzukreuzen ist und Antragstellende via KI darauf hinweisen würde, wenn bestimmte inhaltliche Anforderungen nicht erfüllt sind oder einige administrative Angaben problematisch sein könnten.
Man stelle sich vor, die Bauämter würden (neben ehrlich attraktiver Bezahlung) ihren Angestellten und den Antragstellenden eine Software zur Verfügung stellen, die die meisten Normen und weiteren Vorschriften mit händisch eingepflegten (d.h.: bei korrekter Implementierung immer richtig liegenden) Algorithmen prüfen würde.
Und last but not least: Man stelle sich vor, Angestellte im öD hätten grundsätzlich sowohl die Macht als auch die Motivation, Bürgerinnen und Bürgern so lösungsorientiert zu begegnen, dass sämtliches Vorgehen sinnvoll, effektiv und effizient ist.
DAS wäre die Grundlage für sinnvolle Veränderungen im Tarifvertrag. Aber solange eine einzige Gewerkschaft für zigmillionen extrem unterschiedliche Angestellte verhandelt -- und noch dazu viele dringend benötigte Berufsgruppen bisher im öD und erst recht bei verdi, in der Politik und bei den Arbeitgeberverbänden unterrepräsentiert sind -- wird sich an dieser grundsätzlichen Problematik nichts ändern. Wir laufen meiner Einschätzung nach sehenden Auges mit Vollgas ins Verderben.
Ich weiß, sehr viel Text und viel Halb-OT. Trotzdem würde ich mich freuen, wenn der eine oder die andere die eigene Sicht -- und besonders gerne ergänzende, widersprechende, untersützende fundierte Einschätzungen, Fakten usw. -- geben würde.