Der nächste Post wird extrem lang. Zunächst einmal bin ich hier ja unterwegs, weil meine Hauptmethode des Erkenntnisgewinns "Try and error" (Versuch und Irrtum) ist. Bei dieser Methode, wird durch wiederholtes Ausprobieren und Korrigieren eine Lösung erarbeitet. In der wissenschaftlichen Theorie ist dies ein wichtiger Prozess des Erkenntnisfortschritts, bei dem Hypothesen aufgestellt, getestet und gegebenenfalls widerlegt werden. Dabei hilft mir das hier vorhandene know how, also das Schwarmwissen, und die kritische Betrachtung meiner Thesen enorm. Das das bisweilen anstrengend ist, weiß ich. Sofern mich die Argumente von Euch überzeugen, korrigiere ich auch gerne meine Lösungsvorschläge oder Lösungsideen unter Einbeziehung neuer Fakten oder neuer Ideen.
Zu der Frage, wann und wo das BVerfG das gelobt haben soll, muss ich gestehen, dass ich diese Information von einem Arbeitskollegen erfahren habe. Es gab wohl beim Landtag in NRW auf Initiative der FDP nochmal eine Expertenrunde zur Frage der Besoldungsreform 2022:
https://fdp.fraktion.nrw/witzel-fdp-einhelliges-expertenurteil-zur-verfassungswidrigkeit-des-fiktiven-partnereinkommens-beiDabei wurde auch der ehemalige Richter am BVerfG Udo Di Fabio zu seinem Rechtsgutachten für den DBB NRW befragt. Im Gutachten hat er dabei vor allem herausgearbeitet, dass ein „Partnereinkommen“ nicht im Einklang mit Art. 33 Abs. 5 GG gebracht werden kann. Mein Arbeitskollege hat gedacht, dass Udo di Fabio auch an dem jetzigen Urteil mitgewirkt hat, aber da war er schon im Ruhestand. Somit war es entgegen seiner Annahme keine mündliche Verhandlung des BVerfG sondern lediglich eine Expertenbefragung im Landtag NRW und auch war es nicht die Meinung des gesamten BVerfG, sondern nur eines einzelnen ehemaligen Richters. Das schwächt das, was ich geschrieben habe, natürlich ab, auch wenn ich davon ausgehe, dass ein ehemaliger Richter des BVerfG nicht leichtfertig seine Äußerungen macht. Dennoch hätte ich die Aussage meines Arbeitskollegen nicht unreflektiert und ohne Gegenprüfung hier ins Forum stellen dürfen.
Dabei konnte er bei seinem Gutachten die Änderungen, die im Lichte des aktuellen Urteils gemacht wurden, noch nicht berücksichtigen. Bei den Fragen zu den Familienzuschlägen ergibt sich aus seinem Rechtsgutachten (auszugsweise, sonst wird das alles noch viel länger):
Das Berufsbeamtentum gründet auf Sachwissen, fachlicher Leistung und loyaler Pflichterfüllung. Es wird grundsätzlich auf Lebenszeit begründet und soll der Hauptberuf sein. Der Dienstherr hat eine Fürsorgepflicht.
Auch hinsichtlich der Strukturierung der Besoldung verfügt der Besoldungsgesetzgeber über einen breiten Gestaltungsspielraum (vgl. BVerfGE 44, 249 <267>; 81, 363 <376>; 99, 300 <315>). Es besteht insbesondere keine Verpflichtung, die Grundbesoldung so zu bemessen, dass Beamte und Richter ihre Familien als Alleinverdiener unterhalten zu können. Vielmehr steht es dem Besoldungsgesetzgeber frei, etwa durch höhere Familienzuschläge bereits für das erste und zweite Kind stärker als bisher die Besoldung von den tatsächlichen Lebensverhältnissen abhängig zu machen.
Der Besoldungsgesetzgeber hat die Besoldung so zu regeln, dass Richter nicht vor die Wahl gestellt werden, entweder eine ihrem Amt angemessene Lebensführung aufrechtzuerhalten oder, unter Verzicht darauf, eine Familie zu haben und diese entsprechend den damit übernommenen Verpflichtungen angemessen zu unterhalten (vgl. BVerfGE 44, 249 <267, 273 f.>; 99, 300 <315>).
Dem Familienzuschlag kommt eine soziale, nämlich ehe- und familienbezogene Ausgleichsfunktion zu. Er tritt zu den leistungsbezogenen Besoldungsbestandteilen hinzu, um diejenigen Mehraufwendungen auszugleichen, die typischerweise durch Ehe und Familie entstehen. Dadurch erfüllt der Gesetzgeber die sich aus dem Alimentationsgrundsatz gemäß Art. 33 Abs. 5 GG ergebende Verpflichtung, die dem Beamten obliegenden Unterhaltspflichten gegenüber Ehegatten und Kindern realitätsgerecht zu berücksichtigen. Zugleich kommt er der durch Art. 6 Abs. 1 GG begründeten Pflicht nach, Ehe und Familie durch geeignete Maßnahmen zu fördern.
Der Ergänzungszuschlag aus § 71 b LBesG soll gerade nicht gezahlt werden, um besondere Belastungen durch Kindererziehung oder Mehrbedarfe aus Ehe und Partnerschaft auszugleichen. […] Der Besoldungsgesetzgeber will hier davon profitieren, dass das BVerfG die einzelnen Komponenten der Vergleichsberechnung (noch) nicht exakt definiert hat.
Diese Hinweise zu den Familienzuschlägen und zur Grundbesoldung sind jetzt natürlich im Lichte des aktuellen Urteils kritisch zu hinterfragen. Dabei sind aus meiner Sicht insbesondere folgende Punkte interessant:
Die Leitsätze, Randnummer 78 und 92, Randnummer 74, Randnummer 76, Randnummer 63, Randnummer 71, Randnummer 67
Gerade in Randnummer 92 finden sich am Ende noch Hinweise zu früheren Rechtsprechungen; mithin wollte das BVerfG sicherlich zum Ausdruck bringen, dass es davon nicht abrücken möchte. Ich zitiere sie mal:
Beschluss vom 17. November 2015Dabei hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, wie bei der Festsetzung der Bezüge den Anforderungen des Gebotes eines Mindestabstandes zum Grundsicherungsniveau Rechnung zu tragen ist. Dies kann etwa durch eine Anhebung des Bemessungssatzes der Beihilfe auf 100 v.H. der entstandenen Aufwendungen, eine Anhebung des Eingangsgehaltes einer Besoldungsstufe verbunden mit einer geringeren prozentualen Steigerung in den Erfahrungsstufen, eine Anhebung des Familienzuschlags in den unteren Besoldungsgruppen oder durch sonstige geeignete Maßnahmen unter Berücksichtigung der sich in diesem Fall für höhere Besoldungsgruppen möglicherweise aufgrund des Abstandsgebotes ergebenden Konsequenzen geschehen.
Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 6/17 u.a. -
Die von der Bundesagentur für Arbeit im Verfahren 2 BvL 4/18 vorgelegte statistische Auswertung ermöglicht eine realitätsgerechte Erfassung der absoluten Höhe der grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft für eine Familie (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 59). Im vorliegenden Verfahren geht es jedoch darum, den Mehrbetrag zu ermitteln, der einer Familie mit drei Kindern im Vergleich zu einer Familie mit zwei Kindern zugestanden wird. Es kommt also auf den relativen Unterschied der Kosten der Unterkunft an. Dieser kann mit Hilfe der von der Bundesagentur vorgelegten Daten, denen eine Auflösung in 50-Euro-Schritten zugrunde liegt, nicht hinreichend genau bestimmt werden. (4) Für den Fall, dass belastbare Erhebungen zu den tatsächlich angemessenen Kosten der Unterkunft für einen Vergleichsraum in einem bestimmten Zeitraum nicht vorliegen, hat das Bundessozialgericht eine alternative Methode entwickelt, um die grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft bemessen zu können. In einer solchen Situation ist der für den jeweiligen Wohnort maßgebliche wohngeldrechtliche Miethöchstbetrag mit einem Sicherheitszuschlag von 10 % den Berechnungen zugrunde zu legen, weil die Festsetzung aufgrund der abweichenden Zweckrichtung des Wohngeldes nicht mit dem Anspruch erfolgt, die realen Verhältnisse auf dem Markt stets zutreffend abzubilden (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 87/12 R -, juris, Rn. 26 f.).
Jetzt findet sich sowohl in Randnummer 71 als auch in Randnummer 78 der Begriff „unterschiedslos“, jedoch dürfte der in beiden Randnummern unterschiedlich zu interpretieren sein.
Während in Randnummer 71 der Gesetzgeber die Bezugsgröße für die Mindestbesoldung definieren wollte, wollte er in Randnummer 78 die Bezugsgröße für die Fortschreibungspflicht definieren.
In Randnummer 70 findet sich eine Erläuterung für die Bemessung der Mindestbesoldung. Darin heißt es: Die Bezugsgröße für die Bemessung der Mindestbesoldung ist eine vierköpfige Familie, die aus dem Beamten, seinem Ehegatten und zwei Kindern, von denen eines jünger als 14 Jahre ist, besteht, deren alleiniges Einkommen im Sinne von § 8 Abs. 1 Nr. 3 MZG die Besoldung – einschließlich der Familienzuschläge für den Ehegatten und die ersten beiden Kinder – ist. Das Bundesverfassungsgericht geht (…) grundsätzlich davon aus, dass der Gesetzgeber die Besoldung so bemessen wollte, dass eine vierköpfige Familie durch einen Beamten als Alleinverdiener amtsangemessen unterhalten werden kann (…)
Die Bezugsgröße für die Fortschreibungspflicht ist die jeweils höchste Erfahrungsstufe zugrunde zu legen und neben dem Grundgehalt nur solche Besoldungsbestandteile, die strukturell dem Grundgehalt ähneln, also weder Familienzuschläge noch Ortszuschläge dabei zu berücksichtigen sind.
Aus den Leitsätzen ergibt sich folgendes:
Er überschreitet die Grenzen dieses Spielraums, wenn die Besoldung im Hinblick auf Zweck und Gehalt des Alimentationsprinzips evident unzureichend ist.
Die verfassungsrechtliche Kontrolle muss nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die Gewähr dafür bieten, dass dem – nicht zum Streik berechtigten – Beamten ein wirksames Mittel zur Verfügung steht, sein individuelles verfassungsmäßiges Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt gerichtlich durchsetzen.
Die Besoldung ist immer evident unzureichend, wenn die Mindestbesoldung (des 4 K Modellbeamten) unterschritten ist. Dann wird aus dem individuellen Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt ein Kollektivrecht der gesamten Besoldungsgruppe.
Somit komme ich zu folgendem Schluss:
1. Unter Einbeziehung der Rechtsprechung des EGMR hat das BVerfG entschieden, dass die absolute Untergrenze für eine amtsangemessene Besoldung 80 % des MÄE ist.
2. Solange der Gesetzgeber die Besoldung so bemessen will, dass eine vierköpfige Familie durch einen Alleinverdiener amtsangemessen unterhalten werden kann, ist die Mindestbesoldung die Summe der Untergrenzen der Anzahl der Familienmitglieder, mithin 80 vom Hundert des 2,3 fachen MÄE (kleiner Spoiler: Wenn das anders wäre, könnte man die Berechnung der Mindestbesoldung dann nicht auch anpassen?)
3. Bei der Fortschreibungspflicht bleiben Zuschläge, die nicht unterschiedslos wie Ortszuschläge oder Großstadtzulagen gezahlt werden, unberücksichtigt.
Aus dieser ganzen Urteilsbegründung, insbesondere unter Berücksichtigung der Querverweise, komme ich daher zu folgenden weiteren Schlüssen
a.) Auch die Grundbesoldung des Singles muss immer so bemessen sein, dass er unabhängig vom Wohnort (unterschiedslos im Sinne der Randnummer 78) nicht prekär besoldet wird. Sollte er prekär besoldet werden, wäre dennoch sein individuelles Recht auf einen angemessenen Lebensunterhalt beschnitten.
b.) So verstanden muss sich die Grundbesoldung des am schlechten bezahltesten Single Beamten auch an der in seinem Zuständigkeitsbereich höchsten MÄE aus der Logik des Besoldungssystems orientieren. Andernfalls würde er ja in München unter die 80 % Schwelle fallen und wäre prekär besoldet. Dabei ist das natürlich kein eigener Prüfmaßstab, mithin würde auch nicht die gesamte Besoldung evident unzureichend sein, wenn der Single in München die 80 % Schwelle reißt. Spannend wäre allerdings, was passieren würde, wenn er sein Individualrecht auf amtsangemessen Besoldung einklagen würde, weil er nur unter 80 % des örtlichen MÄE bekommen würde. Ich denke, er würde gewinnen, auch wenn es nicht ausdrücklich aus dem Urteil hervorgeht sondern nur aus meiner Sicht der Logik des Besoldungssystems geschuldet ist.
c.) Die Familienzuschläge dagegen sollen regionale und familiäre Mehrbelastungen auffangen. Daher macht es bei der Betrachtung der Familienzuschläge Sinn, hier die regional unterschiedlichen MÄE zu berücksichtigen, mithin auch danach zu differenzieren. Jedenfalls erscheinen so nach Wohnort differenzierte Familienzuschläge sachgerecht, sofern dadurch nicht eine zu geringe Grundbesoldung im Sinne des Punktes b) geheilt werden soll. Allerdings darf der Gesetzgeber hier aus meiner Sicht auch pauschalieren, solange er das nach oben macht

Daher scheint die Orientierung an den Mietenstufen nicht ganz falsch zu sein, so wie es NRW und Bayern machen, wenn man das ungerechtfertigte Anrechnen von Partnereinkommen mal außen vor lässt. Jedenfalls habe ich bei meinen Stichproben in Kombination mit der von mir gewählten Methode der Grundbesoldung des Single keinen Fall gefunden, der unteralimentiert wäre.