Autor Thema: Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)  (Read 2089797 times)

xyz123

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10890 am: 06.03.2024 09:27 »
Inzwischen habe ich auch die Hoffnung vollständig aufgegeben.

Wir haben jetzt die ersten Kollegen hier, die nur noch rum sitzen, weil es kein Geld mehr für PCs und Monitore gibt.
Das finde ich richtig krass. Ist das bei euch auch schon so?

Immerhin finde ich dann die Besoldung wieder angemessen.

SwenTanortsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10891 am: 06.03.2024 10:32 »
https://www.spiegel.de/politik/der-super-eckmann-a-1f25789c-0002-0001-0000-000013687920

So alt ist das Thema amtsangemessene Alimentation schon, und bei dem 3. Kind hat man es mehr als 40 Jahre nicht auf die Reihe bekommen...

Du machst mit dem Link auf eine historische Entwicklung aufmerksam, die die erwartbare Blaupause für unsere heutige Situation darstellen dürfte, Blablublu. Betrachten wir also mal ein wenig Geschichte, um zu sehen, was offensichtlich nun alsbald vor uns liegt, und betätigen uns so als "rückwärtsgekehrter Prophet" (ich teile den Beitrag mal wieder in zwei Abschnitte, da er die 20.000 Zeichen überschreitet). Denn zunächst einmal bringt der Anspruch des Beamten, dass seine Alimentation per Gesetz zu regeln ist, Begehrlichkeiten mit sich, die beinahe so alt sind, wie dieser hergebrachte Grundsatz des Berufsbeamtentums. Das zu singende Lied ist also jenes von der ewigen Wiederkunft des Gleichen; manche der nachfolgenden Zitate aus der Vergangenheit werden den einen oder anderen an aktuelle erinnern:

Wie hier schon mehrfach dargelegt, sind hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs ab dem dritten Kind mittlerweile vier Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich, die zugleich mit hoher Wahrscheinlichkeit von ihrer Struktur her den Weg weisen für unsere heutige Alimentationssituation. Diese vier Entscheidungen sind in den Jahren 1977 als Verfassungsbeschwerde und ab 1990, 1998 und schließlich 2020 im Parallelverfahren zu unserer aktuellen Entscheidung als konkrete Normenkontrollverfahren ergangen (wobei das Parallelverfahren aus dem Jahr 2020 in gewisser Hinsicht eine Aktualisierung darstellt, ohne dass ich hierauf in diesem Beitrag weiter eingehen möchte).

1977 hat der Senat im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde unter anderem festgestellt, dass die vom Gesetzgeber gewährten familienbezogenen Besoldungskomponenten ab dem dritten Kind nicht hinreichten, um den alimentativen Mehrbedarf ab dem dritten Kind zu decken. Der entsprechende Zuschlag hatte zwischen 1964 und 1971 unverändert monatlich 50,- DM für alle Kinder betragen und war dann mit der gesetzlichen Regelung vom 26.07.1974 auf 52,17 DM für das erste Kind sowie auf 61,05 DM für jeweils das zweite bis fünfte Kind sowie auf 76,04 DM ab dem sechsten Kind erhöht worden. Ab 1975 griff eine Neuregelung als Folge der Neustrukturierung des Kindergelds, auf die hier nicht weiter eingegangen werden muss, die jedoch zu einer deutlichen Abschmelzung der familienbezogenen Besoldungskomponenten aller betroffenen Beamten (also nicht nur hinsichtlich von kinderreichen Beamten) führte; sie wurde 1977 mit einer Verfassungsbeschwerde angegriffen. Den Beschwerdeführern sprach der Senat damals Recht zu, um innerhalb der Komplexität des Verfassungsrechts in der Verfassungsbeschwerde nur zu folgendem Ergebnis gelangen zu können:

"Das Bundesverfassungsgericht mußte sich auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Rechtslage beschränken und es dem Gesetzgeber überlassen, die festgestellte Verfassungswidrigkeit durch eine verfassungsgemäße Regelung zu ersetzen. Diese muß nicht notwendigerweise zu einer Erhöhung der Gesamtausgaben für die Besoldung der Beamten und Soldaten führen." (vgl. hier die Rn. 101 unter https://openjur.de/u/173228.html).

Beide Sätze und also auch der letzte Satz des Zitats waren nun die Konsequenz daraus, dass das Alimentationsprinzip gebietet, das Gehalt als Ganzes zu betrachten, das zu regeln der Besoldungsgesetzgeber im Rahmen seines verfassungsrechtlich bestehenden weiten Entscheidungsspielraum verpflichtet ist: Der Besoldungsgesetzgeber musste also als Folge der Entscheidung nicht zwangsläufig familienbezogene Besoldungskomponenten anheben, sondern er sah sich in der Pflicht, am Ende für eine gesetzliche Regelung zu sorgen, mit der alle Beamten amtsangemessen alimentiert werden mussten. Hier konnte der Senat also im Zuge der Verfahrensart der Verfassungsbeschwerde nur den verfassungswidrigen Zustand feststellen, als dessen Konsequenz sich der Besoldungsgesetzgeber gezwungen sah, ein Gehalt als Ganzes zu gewähren, das zu einer amtsangemessenen Alimentation führen musste.

Folge der Entscheidung war nun allerdings, dass der Besoldungsgesetzgeber 1978 zwar zunächst geplant hatte, die familienbezogenen Besoldungskomponenten wieder deutlich anzuheben, um dann allerdings in den uns heute nicht ganz unbekannten Einsparmodus zurückzufallen. Entsprechend dürfte die nachfolgende Passage dem einen oder anderen hier nicht gänzlich unbekannt vorkommen, wie sie der Zweite Senat 1990 im betreffenden ersten Normenkontrollverfahren wie folgt zusammengefasst hatte:

"Die Bundesregierung habe [als Folge der bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung aus dem Jahr 1977] weiter beschlossen, daß das Siebente Bundesbesoldungserhöhungsgesetz insoweit nur für die Zeit bis zum 31. Dezember 1978 Auswirkungen haben könne. Vom 1. Januar 1979 an wären danach die kinderbezogenen Anteile des Ortszuschlags ab Stufe 5 wieder auf die Beträge zu senken, die einer Anhebung um 4,5 v.H. entsprächen. Die Ortszuschlagsanteile wären demnach - wieder - abzusenken in Stufe 5 von 90 DM auf 39,45 DM, in den Stufen 6 und 7 von je 110 DM auf 74,77 DM und in den Stufen 8 ff. von 110 DM auf 93,13 DM. [...] Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister des Innern führte in seiner Stellungnahme u.a. aus (a.a.O., S. 9278 [D f.]), einer der schwierigsten Punkte sei die korrekte Erfüllung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts zur familiengerechten Besoldung gewesen. Die Bundesregierung sei sich dabei eines gewissen, wenn auch geringen, verfassungsrechtlichen Risikos bewußt. Sie gehe aber davon aus, daß der Gesetzentwurf das finanziell und politisch zur Zeit Mögliche vorsehe." (hier die Rn. 19 ff.)

Hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs hatte der Besoldungsgesetzgeber nun nach der 1977 erlassenen Entscheidung des Senats also zwar eine unmittelbare Entscheidung getroffen, um dann jedoch ab 1979 in alte Fahrwasser zurückzukehren und sich entsprechend bis 1990 weiterhin in weitgehender Untätigkeit zu üben, entsprechend hob der Senat nun im ersten betreffenden Normenkontrollverfahren hervor: "Nachdem der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 1977 im Juli dieses Jahres bekannt geworden war, wäre der Gesetzgeber verpflichtet gewesen, die in dieser Entscheidung als verfassungswidrig beanstandete Rechtslage mit Wirkung vom 1. Januar 1977 generell mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen." (hier die Rn. 81)

In diesem Kontext ist nun der Spiegelbeitrag aus dem Jahr 1992 zu sehen; 1990 war eine Entscheidung in einem konkreten Normenkontrollverfahren und nicht mehr in einer Verfassungsbeschwerde ergangen. Der Senat hatte in diesem Rahmen die familienbezogenen Besoldungskomponenten ab dem dritten Kind, wie sie unter anderem 1979 per Gesetz geregelt worden waren, als verfassungswidrig betrachtet und also für den Klagezeitraum von Juli 1976 bis Januar 1981 einen nicht verfassungskonformen Familienzuschlag ab dem dritten Kind festgestellt (vgl. hier weiterhin die Rn. 81).

Allerdings harrte nach 1990 - anders, als das der Spiegelbeitrag vermuten ließe - auch der "Super-Eckermann" seiner gesetzlichen Regelung und fand schließlich nur eine weitgehend "abgespeckte" Version seinen gesetzlichen Widerhall, sodass der Zweite Senat nun seine 1977 und 1990 ausgeformte Rechtsprechung Ende der 1990er Jahre noch weiter konkretisierte, um so seine Besoldungsdogmatik zum alimentativen Mehrbedarf weiter zu präzisieren. Wie also eben festgehalten - und wie es nicht nur für die seit 2021 hinsichtlich der Bundesbesoldung ergangenen Schritte nicht ganz untypisch ist -, wurden erste Reformvorstellungen, wie sie eingangs des Gesetzgebungsverfahren vorhanden waren, in dessen Verlauf zunehmend "abgeschmirgelt", um am Ende vor allem als Kosteneinsparungskonzept bestehen zu bleiben und entsprechend verabschiedet zu werden. Entsprechend hob der Senat 1998 zunächst in seinem ersten Leitsatz hervor, den Besoldungsgesetzgeber an seine verfassungsrechtlichen Pflichten erinnernd:

"Der Dienstherr ist aufgrund des Alimentationsprinzips (Art. 33 Abs. 5 GG) verpflichtet, dem Beamten amtsangemessenen Unterhalt zu leisten. Dies umfaßt auch die Pflicht, die dem Beamten durch seine Familie entstehenden Unterhaltspflichten realitätsgerecht zu berücksichtigen. Damit trägt der Dienstherr nicht zuletzt der Aufgabe des Berufsbeamtentums Rechnung, im politischen Kräftespiel eine stabile, gesetzestreue Verwaltung zu gewährleisten (Bestätigung von BVerfGE 44, 249; 81, 363)." (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 24. November 1998 - 2 BvL 26/91 -, https://www.bverfg.de/e/ls19981124_2bvl002691.html).

Zugleich betrachtete der Senat nun die Sachlage, wie sie sich seit 1977 entwickelt hatte, für den Zeitraum des konkreten Normenkontrollverfahren, der sich von 1988 bis 1996 erstreckte, und fasste sie wie folgt zusammen, auch hier dürften euch hinsichtlich der hervorgehobenen Passagen die Ohren klingeln; denn auch hier findet sich das ewig gleiche Lied des von Beamten zu erbringenden "Sonderopfers", weshalb diese Hervorhebungen sich auch später immer wieder in Gesetzesbegründungen fanden (man beachte dabei die abschließende Passage ab dem Ende der dritten Randnummer, der das Handeln der damaligen Politik nach 1992 zusammenfasst, wie es sich in dem Spiegelbeitrag im vorletzten Absatz abgezeichnet hatte):

"Durch die Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetze 1987, 1988, 1991, 1992, 1993, 1994 und 1995 paßte der Gesetzgeber die Besoldungs- und Versorgungsbezüge der Beamten, Richter, Soldaten und Versorgungsempfänger der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse an. Die Erhöhungen traten im Vergleich zu den Tarifabschlüssen für den Arbeitnehmerbereich des öffentlichen Dienstes teilweise mit zeitlichen Verzögerungen in Kraft. Dadurch sollte ein spürbarer besonderer Beitrag zum Ausgleich der Kostenbelastungen geleistet werden, die nach der Einigung Deutschlands durch den wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern entstanden waren (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BBVAnpG 93, BTDrucks 12/5472, S. 21). Zudem sollte durch das zeitliche Hinausschieben der linearen Erhöhungen ein besonderer Beitrag zur Haushaltsentlastung erbracht werden (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BBVAnpG 94, BTDrucks 12/7706, S. 23). Der Ortszuschlag ab dem dritten Kind wurde über die allgemeinen Anpassungen hinaus nicht erhöht, obgleich das nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 1977 (BVerfGE 44, 249) und vom 22. März 1990 (BVerfGE 81, 363) geboten war. Dort hatte das Bundesverfassungsgericht festgestellt, daß die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile vom dritten Kind an hinter den verfassungsrechtlichen Erfordernissen zurückgeblieben waren (vgl. BVerfGE 44, 249 <279>; 81, 363 <379>). Die Bundesregierung begründete ihre Entscheidung, die verfassungsgerichtlichen Vorgaben nicht umzusetzen, mit dem Zusammenhang von kinderbezogenen Besoldungsbestandteilen und der Neuordnung des Familienleistungsausgleichs, dessen endgültige Ausgestaltung erst feststehen müsse (vgl. Begründung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zum BBVAnpG 95; BTDrucks 13/2210, S. 22).

Erst mit dem Gesetz zur Reform des öffentlichen Dienstrechts (Reformgesetz) vom 24. Februar 1997 (BGBl I S. 322) zog der Bundesgesetzgeber für den Zeitraum vom 1. Januar 1977 bis 31. Dezember 1989 Folgerungen aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1990. Kläger und Widerspruchsführer, die ihren Anspruch innerhalb des genannten Zeitraums geltend gemacht haben, ohne daß über diesen schon abschließend entschieden worden ist, erhalten für das dritte und jedes weitere im Ortszuschlag zu berücksichtigende Kind einen monatlichen Erhöhungsbetrag von 50,-- DM (Art. 14 § 3 Reformgesetz)." (Rn. 3 f.; Hervorhebungen durch mich)

Vergleicht man nun also die 1997 ergangene rückwirkende Erhöhung um monatlich 50,- € mit den Beträgen, die der Spiegelbeitrag auf Basis des Berichts der Reformkommmission 1992 als Teil der damaligen Planungen genannt hat, dann findet man hier weiterhin genau ein solches Handeln, wie wir es seit 2021 nun in nicht unähnlicher Form in den mittlerweile 17 Rechtskreisen finden: Nicht zuvörderst das Verfassungsrecht leitet(e) das Handeln des Gesetzgebers, sondern es wurde und wird vor allem durch das Interessen an Kosteneinsparungen dominiert. Weiterhin ging es also so wie heute vor allem darum, möglichst geringste Folgen aus den Rechtsprechung des Senats zu ziehen, um so weiterhin Kosteneinsparungen vorzunehmen, von denen der Gesetzgeber auch damals wusste, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit kaum verfassungskonform sein konnten.
« Last Edit: 06.03.2024 10:44 von SwenTanortsch »

SwenTanortsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10892 am: 06.03.2024 10:32 »
Um dem entgegenzuwirken, hatte Karlsruhe in den genannten drei Entscheidungen der Jahre 1977, 1990 und 1998 nun hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs nach und nach den 15 %igen Mindestabstand zum Grundsicherungsniveaus ausgeformt, der 1998 also zunächst nur hier - für den alimentativen Mehrbedarf - unmittelbare Realität wurde (vgl. den Zweiten Leitsatz und dann ab Rn. 57) und den der Senat dann in der aktuellen Entscheidung nun als einen hergebrachten Grundsatz auf das Alimentationsprinzip insgesamt übertrug, um so seine neue Dogmatik zum Besoldungsrecht weiter auszuformen: Die Sprengkraft dieser Entscheidung zeigt sich nun darin, dass sich seit dem 04. Mai 2020 ein verfassungskonformes Alimentationsniveau als deutlich höher darstellt, als man das bis dahin vermuten konnte. Auch hier wird die dogmatische Entwicklung der bundesverfassungsrichtlichen Rechtsprechung deutlich, die nur erkennbar wird, wenn man die konkreten Entscheidungen historisch-genetisch und also systematisch betrachtet.

1998 hat der Senat seine Rechtsprechung dabei insbesondere auf den Inhalt des Reformpapiers gestützt, das Grundlage für den Spiegelbericht gewesen ist. Er hat also entsprechend den folgenden Bezug genommen, indem er ausgehend von dem in den Randnummern zuvor festgelegten 15 %igen Abstand des alimentativen Mehrbedarfs vom Grundsicherungsniveaus feststellte:

"Diese Vergleichsberechnungen zeigen, daß die Besoldung verheirateter Beamter mit mehr als zwei unterhaltsberechtigten Kindern in den die Vorlageverfahren betreffenden Besoldungsgruppen in bezug auf das dritte und jedes weitere Kind den verfassungsgebotenen Mindestabstand von 15 v.H. zur Sozialhilfe nicht eingehalten hat. Es wurde nicht einmal der sozialhilferechtliche Gesamtbedarf für ein Kind durch die bei steigender Kinderzahl gewährten Nettomehrbeträge ausgeglichen. Dies gilt in den Jahren 1988 und 1989 für die hier allein zu überprüfende Besoldungsgruppe B 2 auch unter Hinzurechnung von 50,-- DM je Kind im Monat (Art. 14 § 3 Reformgesetz).

Nach alledem hat der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten. Er ist mit den zur Prüfung vorgelegten Regelungen deutlich unterhalb der Grenze geblieben, welche die den Beamten der jeweiligen Besoldungsgruppen mit mehr als zwei Kindern geschuldete Alimentation nicht unterschreiten darf.

Bestätigt wird dieses Ergebnis durch den 'Bericht der Besoldungskommission Bund/Länder [s. den Spiegelbeitrag; ST.] über besoldungsrechtliche Folgerungen für eine verfassungskonforme kinderbezogene Besoldung aus dem Beschluß des BVerfG vom 22. März 1990 (2 BvL 1/86)' aus dem Jahre 1992 (BLK-Bericht 1992). Dort wird eine erhebliche Unteralimentierung über den gesamten Zeitraum 1. Februar 1981 bis 31. Dezember 1989 und ab 1. Januar 1990 festgestellt (vgl. S. 24 des Berichts). Auch in der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum Bundesbesoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetz 1995 (BTDrucks 13/2210, S. 22) wird ausgeführt, daß 'die im Hinblick auf den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1990 - 2 BvL 1/86 - zur amtsangemessenen Alimentation von Beamten mit drei und mehr Kindern gebotene Erhöhung des Ortszuschlags ab dem dritten Kind (...) noch nicht umgesetzt werden' konnte." (Rn. 62 ff.; Hervorhebungen durch mich)

Und damit waren wir 1998 - 21 Jahre nach der Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 1977 und acht Jahre nach dem ersten konkreten Normenkontrollverfahren - hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs weitgehend dort angekommen, wo wir uns heute hinsichtlich des Alimentationsprinzips ebenfalls befinden, indem der Senat dort das fortgesetzt aufrechterhaltene verfassungswidrige Handeln des Besoldungsgesetzgebers feststellte und den Sachverhalt entsprechend wie folgt zusammenfasste:

"In seinem Beschluß vom 22. März 1990 (vgl. BVerfGE 81, 363 <383 ff.>) hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, der Gesetzgeber sei - nachdem die Entscheidung vom 30. März 1977 (BVerfGE 44, 249) im Juli desselben Jahres bekannt geworden war - verpflichtet gewesen, die in jener Entscheidung als seit dem 1. Januar 1975 verfassungswidrig beanstandete Rechtslage mit Wirkung vom 1. Januar 1977 mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Allerdings sei eine allgemeine rückwirkende Behebung dieses Verfassungsverstoßes nicht (mehr) geboten gewesen. Die rückwirkende Korrektur habe sich auf solche Beamte beschränken können, die ihren Anspruch auf amtsangemessene Alimentation zeitnah, also während des laufenden Haushaltsjahres, gerichtlich oder durch Widerspruch geltend gemacht hätten (vgl. BVerfGE 81, 363 <385>). Das Bundesverfassungsgericht hat dies aus den Besonderheiten des Beamtenverhältnisses gefolgert (vgl. BVerfGE 81, 363 <384 ff.>). Hieran wird festgehalten." (Rn. 67)

Denn das Ergebnis war hier offensichtlich dasselbe, wie es sich aktuell für uns heute darstellt, nämlich dass nun alsbald mindestens Niedersachsen, Berlin, Sachsen und Baden-Württemberg die Vollstreckungsanordnung drohen dürfte, die nicht umsonst seit 2015 nach und nach dazu verpflichtet worden sind, eine amtsangemessene und also verfassungskonforme Alimentation ihrer Richter, Staatsanwälte und Beamte zu gewährleisten und das in ihren Gesetzgebungsmaterialien hinreichend zu dokumentieren. Entsprechend hob der Senat 1998 hinsichtlichdes alimentativen Mehrbedarfs hervor:

"Für die hier zu entscheidenden Verfahren folgt daraus:

1. Soweit Besoldungsansprüche der Jahre 1988 und 1989 in Rede stehen (Verfahren 2 BvL 26/91), war der Gesetzgeber aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1990 (BVerfGE 81, 363) gegenüber solchen Beamten, die ihre Ansprüche zeitnah geltend gemacht hatten, verpflichtet, eine der Verfassung entsprechende Besoldungsrechtslage herzustellen. Dieser Verpflichtung ist er nicht nachgekommen. Der mittlerweile in Art. 14 § 3 Abs. 1 des am 1. Juli 1997 in Kraft getretenen Reformgesetzes vorgesehene Erhöhungsbetrag von 50,-- DM je Kind und Monat ist hierzu nicht geeignet.

2. Für Besoldungsansprüche ab 1990 gilt: Der Gesetzgeber war - nachdem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. März 1990 im Juli 1990 bekannt geworden war - verpflichtet, die in dieser Entscheidung als verfassungswidrig beanstandete Rechtslage mit Wirkung zum 1. Januar 1990 mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Dies ist nicht geschehen.

3. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die in dieser Entscheidung als verfassungswidrig beanstandete Rechtslage mit der Verfassung in Übereinstimmung zu bringen. Eine allgemeine rückwirkende Behebung des Verfassungsverstoßes ist mit Blick auf die bereits im Beschluß vom 22. März 1990 näher erläuterten Besonderheiten des Beamtenverhältnisses nicht geboten. Eine rückwirkende Behebung ist jedoch - jeweils soweit der Anspruch auf amtsangemessene Alimentation zeitnah gerichtlich geltend gemacht worden ist - sowohl hinsichtlich der Kläger der Ausgangsverfahren als auch solcher Kläger, über deren Anspruch noch nicht abschließend entschieden worden ist, erforderlich. Eine später eintretende Rechtshängigkeit ist unschädlich, wenn die Klage wegen der für ein erforderliches Vorverfahren benötigten Zeit nicht rechtzeitig erhoben werden konnte." (Rn. 69 ff.; Hervorhebungen durch mich)

Dabei hat sich im Zuge der bis heute ausgeformten neuen Besoldungsdogmatik ebenfalls seit 2018 herauskristallisiert - anders, als es noch 1998 ersichtlich war -, dass sich die rückwirkende Behebung nicht allein auf Kläger, sondern dass sie sich ausnahmslos auch auf Widerspruchsführer erstreckt, die mit den statthaften Rechtsbehelfen entsprechend tätig geworden sind. Das war zwar auch zuvor bereits vorauszusetzen, ist mittlerweile allerdings eindeutig geklärt.

Im Ergebnis wurde nun als Folge der wiederholten Missachtung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung der Gesetzgeber mit der Entscheidung aus dem Jahr 1998 erneut verpflichtet, vergangenheitsbezogen ab 1990 hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs binnen Jahresfrist bis zum 31.12.1999 eine verfassungskonforme Regelung herzustellen. Darüber hinaus wurde die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf Grundlage von § 35 BVerfGG zur Vollstreckung der Entscheidung befugt, also in Anwendung des in der Entscheidung klargestellten Bemessungsverfahrens dazu ermächtigt, Klägern für den Klagezeitraum 1988 bis 1996 entsprechende Beträge zuzusprechen, mit denen der alimentative Mehrbedarf ab dem dritten Kind gesichert werden konnte:

"Die Entscheidungsformel zu 2. beruht auf § 35 BVerfGG. Die Maßnahme ist geboten, weil der Gesetzgeber trotz der ihm in den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 1977 und vom 22. März 1990 gegebenen Handlungsaufträge die kinderbezogenen Gehaltsbestandteile von Beamten mit mehr als zwei unterhaltsberechtigten Kindern bis zum Jahre 1996 (und möglicherweise auch danach) nicht in einer mit dem Grundsatz der Alimentation vereinbaren Höhe festgesetzt hat. Erfüllt der Gesetzgeber seine durch diese Entscheidung erneut festgestellte Verpflichtung nicht bis zum 31. Dezember 1999, so sind die Dienstherren verpflichtet, für das dritte und jedes weitere unterhaltsberechtigte Kind familienbezogene Gehaltsbestandteile in Höhe von 115 v.H. des durchschnittlichen sozialhilferechtlichen Gesamtbedarfs eines Kindes zu gewähren (vgl. oben C. III. 3.). Die Fachgerichte sind befugt, familienbezogene Gehaltsbestandteile nach diesem Maßstab zuzusprechen." (Rn. 72; Hervorhebungen durch mich)

In Folge dessen hat der Gesetzgeber dann den alimentativen Mehrbedarf über längere Zeit offensichtlich amtsangemessen abgegolten, wobei auch hier mit der 2006 erfolgten Reföderalisierung des Besoldungsrechts in Länderhand nach und nach ein weiteres Mal das "alte Lied" zu erklingen begann, das dann die genannte Parellelentscheidung vom Mai 2020 - 2 BvL 6/17 - notwendig machte.

Ergo: Das alte Lied klingt immer wieder neu, jedoch weitgehend auf derselben Rille (das hat auch Spotify nicht ändern können). Wie 1998 dürften wir auch jetzt weitgehend am Ausgangspunkt zentraler Änderungen stehen, die verfassungsrechtlich nur als Folge einer wiederholt nachgewiesenen Untätigkeit (bzw. eines Handelns, das ihm gleichkommt) möglich sind. Der § 35 BVerfGG dürfte jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht zur Anwendung kommen - jedoch wenn nach den angekündigten Entscheidungen mindestens Sachsen, Berlin, Niedersachsen und Baden-Württemberg auf die Ankündigungsliste gesetzt werden, werden sie damit rechnen dürfen, dass sie die Vollstreckungsanordnung trifft, wenn sie nicht zuvor selbst anfangen wollten, hinsichtlich der von ihnen gewährten Besoldung und Alimentation wieder in den Rahmen der Verfassung zurückzukehren. Dafür gibt es allerdings weder bei diesen vier noch bei allen weiteren Besoldungsgesetzgeber irgendein Anzeichen.
« Last Edit: 06.03.2024 10:44 von SwenTanortsch »

Lichtstifter

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10893 am: 06.03.2024 11:18 »
Zitat
Allerdings sei eine allgemeine rückwirkende Behebung dieses Verfassungsverstoßes nicht (mehr) geboten gewesen. Die rückwirkende Korrektur habe sich auf solche Beamte beschränken können, die ihren Anspruch auf amtsangemessene Alimentation zeitnah, also während des laufenden Haushaltsjahres, gerichtlich oder durch Widerspruch geltend gemacht hätten (vgl. BVerfGE 81, 363 <385>).



Zitat
Dabei hat sich im Zuge der bis heute ausgeformten neuen Besoldungsdogmatik ebenfalls seit 2018 herauskristallisiert - anders, als es noch 1998 ersichtlich war -, dass sich die rückwirkende Behebung nicht allein auf Kläger, sondern dass sie sich ausnahmslos auch auf Widerspruchsführer erstreckt, die mit den statthaften Rechtsbehelfen entsprechend tätig geworden sind. Das war zwar auch zuvor bereits vorauszusetzen, ist mittlerweile allerdings eindeutig geklärt.


Wie elementar auch damals der Widerspruch schon war und es heute nichts mehr sein soll.

Und den anderen Untätigen wird man sagen, sie hätten hinterfragen und juristisch erkennen können, dass da etwas nicht passt.

lotsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10894 am: 06.03.2024 12:19 »
https://www.spiegel.de/politik/der-super-eckmann-a-1f25789c-0002-0001-0000-000013687920

So alt ist das Thema amtsangemessene Alimentation schon, und bei dem 3. Kind hat man es mehr als 40 Jahre nicht auf die Reihe bekommen...

Interessante Recherche. Swen hat die rechtlichen Hintergründe erklärt und Lichtstifter hat auf die Notwendigkeit eines Widerspruchs (zeitnahe Geltendmachung) hingewiesen. Man weiß jetzt auch wie die Presse in etwa reagieren wird, sie zeigt Mitleid mit den Finanzministern, hält die Beamten für überbezahlt, hat wenig Mitleid mit den Beamten, die keinen Widerspruch eingelegt haben, aber letztendlich wird das Urteil des BVerfG anerkannt, wenn auch mit einem kleinen Seitenhieb, dass auch die Verfassungsrichter profitieren werden.

Taigawolf

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10895 am: 06.03.2024 12:24 »
[...]Und damit waren wir 1998 - 21 Jahre nach der Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 1977 und acht Jahre nach dem ersten konkreten Normenkontrollverfahren - hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs weitgehend dort angekommen, wo wir uns heute hinsichtlich des Alimentationsprinzips ebenfalls befinden, [...]

[...] In Folge dessen hat der Gesetzgeber dann den alimentativen Mehrbedarf über längere Zeit offensichtlich amtsangemessen abgegolten, wobei auch hier mit der 2006 erfolgten Reföderalisierung des Besoldungsrechts in Länderhand nach und nach ein weiteres Mal das "alte Lied" zu erklingen begann, das dann die genannte Parellelentscheidung vom Mai 2020 - 2 BvL 6/17 - notwendig machte.[...]

Vielen Dank für den wirklich lesenswerten geschichtlichen Abriss.

Ich habe oben aber zwei für mich zentrale Aussagen von Dir herausgegriffen. Es läuft doch ergo auf Folgendes hinaus:

1998 war man endlich an dem Punkt, an dem nach 21 Jahren wieder verfassungsgemäß alimentiert wurde.
2006 fingen die Spielchen von Neuem an.

Ergo befinden wir uns mindestens seit dem Ausgangspunkt 1977 (wenn man den so festmachen will und kann) insgesamt in zwei Phasen wider:
1) 21 Jahre (1977-1998) + 18 Jahre (2006-2024) = 39 Jahre Verfassungswidrigkeit
2) 8 Jahre (1998-2006) Verfassungskonformität

Ich weiß, dass das sehr vereinfacht dargestellt ist und manche Zeiten nicht eindeutig als verfassungswidrig festgestellt sind. Dennoch verdeutlicht dieser Blickwinkel meiner Meinung nach, in was für einem "Schmierentheater" wir uns inzwischen befinden.

Es braucht 21 Jahre um Verfassungskonformität herzustellen, nur dass diese von den Besoldungsgesetzgebern nach 8 Jahren wieder einkassiert werden?  Und seitdem trudeln wir wieder seit 18 Jahren in Schleife 2 der Verfassungswidrigkeit?

Das ganze Ausmaß wird mir einem erst bewusst, wenn man das mal anhand eines Lebenslaufs verdeutlicht:

Wenn man jetzt z.B. 1977 mit fiktiven 18 Jahren (unrealistisch, aber macht den Punkt deutlich) in den aktiven Dienst eingetreten wäre (47 Dienstjahre bis heute) und mit den durchschnittlich 63 Jahren in den Ruhestand eingetreten wäre, dann wäre man selbst als 1977 18-Jähriger heute schon im Ruhestand.

In dieser Beispielkarriere wäre der Kollege heute 65 Jahre alt. Wenn man sich das Verhältnis so anschaut, dann wäre er grob gerundet 80% seiner gesamten Laufbahn nicht amtsangemessen alimentiert worden.

Das ist doch der Gipfel in einem angeblichen Rechtsstaat.


Bundi

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10896 am: 06.03.2024 14:15 »
Danke Swen

Leide ruft jeder neue Beitrag deienrseits bei mir nur noch tieferen Frust und Wit über die Besoldungsgesetzgeber hervor.
Wenn ich das so lese ist es einfach unfassbar wie der Dienstherr die Beamten behandelt. Es ist wie im Mittelalter, wenn es dem Fürsten beliebt gibt es weas wenn nicht dann eben nicht.
Die Abgründe die sich da auftun sind mittlerweile im Erdkern angekommen.
Bleibt mir als Budnesbeamten nur zu hoffen, dass es diesmal nicht wieder Jahrzehnte dauert.
Da echauffieren sich unsere Politiker das zB in Polen die Richter und die Gerichte unter die Kontrolle der Regierung gezwungen werden, stellen die Rechtstaatlichkeit in anderen Ländern in Frage und im eigenen Land wird die eigene Verfassung und die diesbezügliche Rechtsprechung mit Füssen getreten. Recht wird nur angewendet wenn es gerade genehm ist und passt.
Das ist einfach nur noch erschreckend.
Ich weiss echt nicht ob es für mein Rechtsverständnis und Demokratieverständnis nicht besser ist hier nicht mehr mitzulesen. Jeder neue Beitrag durch Swen und andere lässt einen nur noch sprachloser zurück.

Malkav

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10897 am: 06.03.2024 15:28 »
Leide ruft jeder neue Beitrag deienrseits bei mir nur noch tieferen Frust und Wit über die Besoldungsgesetzgeber hervor.
[...]
Ich weiss echt nicht ob es für mein Rechtsverständnis und Demokratieverständnis nicht besser ist hier nicht mehr mitzulesen. Jeder neue Beitrag durch Swen und andere lässt einen nur noch sprachloser zurück.

Manchmal wirkt es, als hätte man im Stile von Matrix die rote Pille genommen. Das ist im Besoldungsrecht echt eine bittere Pille  ;)

Könnte ich vielleicht doch die blaue Pille des Nichtwissens haben? Kostet mich zwar bestimmt viel Geld, ist aber für meinen Glauben an Justizgewährungsanspruch, Gewaltenteilung, die verfassungsgemäße Ordnung und inbesondere meine dienstliche Motivation bestimmt besser.

SwenTanortsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10898 am: 06.03.2024 16:46 »
[...]Und damit waren wir 1998 - 21 Jahre nach der Verfassungsbeschwerde aus dem Jahr 1977 und acht Jahre nach dem ersten konkreten Normenkontrollverfahren - hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs weitgehend dort angekommen, wo wir uns heute hinsichtlich des Alimentationsprinzips ebenfalls befinden, [...]

[...] In Folge dessen hat der Gesetzgeber dann den alimentativen Mehrbedarf über längere Zeit offensichtlich amtsangemessen abgegolten, wobei auch hier mit der 2006 erfolgten Reföderalisierung des Besoldungsrechts in Länderhand nach und nach ein weiteres Mal das "alte Lied" zu erklingen begann, das dann die genannte Parellelentscheidung vom Mai 2020 - 2 BvL 6/17 - notwendig machte.[...]

Vielen Dank für den wirklich lesenswerten geschichtlichen Abriss.

Ich habe oben aber zwei für mich zentrale Aussagen von Dir herausgegriffen. Es läuft doch ergo auf Folgendes hinaus:

1998 war man endlich an dem Punkt, an dem nach 21 Jahren wieder verfassungsgemäß alimentiert wurde.
2006 fingen die Spielchen von Neuem an.

Ergo befinden wir uns mindestens seit dem Ausgangspunkt 1977 (wenn man den so festmachen will und kann) insgesamt in zwei Phasen wider:
1) 21 Jahre (1977-1998) + 18 Jahre (2006-2024) = 39 Jahre Verfassungswidrigkeit
2) 8 Jahre (1998-2006) Verfassungskonformität

Ich weiß, dass das sehr vereinfacht dargestellt ist und manche Zeiten nicht eindeutig als verfassungswidrig festgestellt sind. Dennoch verdeutlicht dieser Blickwinkel meiner Meinung nach, in was für einem "Schmierentheater" wir uns inzwischen befinden.

Es braucht 21 Jahre um Verfassungskonformität herzustellen, nur dass diese von den Besoldungsgesetzgebern nach 8 Jahren wieder einkassiert werden?  Und seitdem trudeln wir wieder seit 18 Jahren in Schleife 2 der Verfassungswidrigkeit?

Das ganze Ausmaß wird mir einem erst bewusst, wenn man das mal anhand eines Lebenslaufs verdeutlicht:

Wenn man jetzt z.B. 1977 mit fiktiven 18 Jahren (unrealistisch, aber macht den Punkt deutlich) in den aktiven Dienst eingetreten wäre (47 Dienstjahre bis heute) und mit den durchschnittlich 63 Jahren in den Ruhestand eingetreten wäre, dann wäre man selbst als 1977 18-Jähriger heute schon im Ruhestand.

In dieser Beispielkarriere wäre der Kollege heute 65 Jahre alt. Wenn man sich das Verhältnis so anschaut, dann wäre er grob gerundet 80% seiner gesamten Laufbahn nicht amtsangemessen alimentiert worden.

Das ist doch der Gipfel in einem angeblichen Rechtsstaat.

Wenn man die jeweilige zeitliche Verortung und ihre Konsequenzen betrachtet, dann wird man - wie Du es ja auch selbst hervorhebst, im Einzelnen zu anderen Daten kommen, Taigawolf - aber die Grundrichtung stimmt, was einer der weiteren zentralen Gründe ist, wieso ich hier wiederkehrend darauf dringe, dass die Verantwortung ausschließlich bei der exekutiven und legislativen Gewalt liegt. Denn die konkrete Normenkontrolle kann verfassungsrechtlich nur in einem engen Rahmen und zugleich, sofern sie erfolgreich sein sollte, nur im Rahmen evidenter Verfassungswidrigkeit erfolgen und sie bedarf darüber hinaus überhaupt erst einmal eine Richtervorlage, über die dann das Bundesverfassungsgericht zu entscheiden hat - und sie muss zugleich, sofern sie übergreifende Wirkung entfalten sollte, auch noch die weitere Ausformung des Rechts konkret ermöglichen.

Genau deshalb dauert es übrigens - solange nicht durch vormalige Rechtsprechung anhand von Präzedenzfällen eine Dogmatik hinreichend ausgeformt vorliegt - wiederkehrend so lange, bis überhaupt entsprechende Fälle vor dem Bundesverfassungsgericht landen, was sich bspw. an der Entscheidung aus dem Jahr 1990 zeigen lässt:

Der damalige Kläger hatte für das Jahr 1976 - also für das Jahr vor der ersten maßgeblichen Entscheidung über den alimentativen Mehrbedarf - Widerspruch gegen die ihm gewährte Alimentation eingelegt und 1978 als Folge der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde Klage vor dem Verwaltungsgericht eingereicht. Die vormalige Verfassungsbeschwerde hatte dem Senat allerdings 1977 zwangsläufig als Folge dieser Verfahrensart keine hinreichende Möglichkeit gegeben, die Normenkontrolle hinreichend konkret vorzunehmen, wie das ggf. in einem konkreten Normenkontrollverfahren möglich gewesen wäre; auch hatte mit der Verfassungsbeschwerde, über die der Senat 1977 entschieden hat, hier erst die Arbeit am Recht  hinsichtlich familienbezogener Besoldungskomponenten begonnen. Beides bekam der Kläger nun frontal zu spüren.

Denn die Folge war, dass der Kläger zunächst einmal den gesamten Weg durch den Instanzenzug gehen musste. Dabei stellten die Gerichte zunächst einmal unisono keine evident unzureichende Alimentation fest und waren darüber hinaus im Zweifel darüber, ob überhaupt die formellen Voraussetzungen für ein (Normenkontroll-)Verfahren gegegen waren. Dabei verkürze ich jetzt hier die Darstellung der Entwicklung, die sich insbesondere wegen des Fehlens einer Dogmatik tatsächlich deutlich komplexer vollzogen hat. Entsprechend hat zunächst das VG Köln die Klage Anfang 1980 als unbegründet zurückgewiesen, jedoch trotz seiner von mir gerade hervorgehobenen Zweifel wegen der allgemeinen Bedeutung des Falls die Berufung zugelassen (Entscheidung 16.01.1980 - 3 K 1998/78). Das OVG Nordrhein-Westfalen war Ende 1982 zum selben Ergebnis gelangt, konnte also ebenfalls keine evident unzureichende Alimentation feststellen, konnte darüber hinaus ebenfalls keinen sich aus der erfolgreichen Verfassungsbeschwerde des Jahres 1977 ableitbaren Grund feststellen, sah gleichfalls nur die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde als Klagemöglichkeit an, ließ darüber hinaus trotz seiner Ablehnung einen möglichen Beitritt zur Klage(begründung) durchscheinen und hatte schließlich aus dem selben Grund wie vormals das VG die Revision zugelassen (Entscheidung vom 25.11.1982 - 6 A 488/80). Schließlich wies ebenfalls das Bundesverwaltungsgericht mit seiner Entscheidung vom 14.11.1985 - 2 C 14.83 - die Klage sieben Jahre nach der Klageerhebung als solche, also hinsichtlich der vom Kläger verlangten Höhe einer Nachzahlung, im Revisionsverfahren in einem Teilurteil zurück (der gesamte Fall ist sehr interessant und zeigt die formellen Tücken von Normenkontrollverfahren bzw. - genauer - deren von Tücken durchsetzten Vorverfahren, solange keine Dogmatik vorhanden ist, die wiederum nur aus solchen Verfahren hervorgehen kann; wer sich damit beschäftigen möchte - was nur zu empfehlen ist, um sich hinsichtlich der heutigen Verfahrenslängen zu einem realistischeren Bild zu gelangen -, sollte sich die hier zusammengefasst Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts in Ruhe durchlesen, die sich sehr spannend liest: https://research.wolterskluwer-online.de/document/a471f432-8cf0-4425-9bdc-d5e8351525dd).

Es sah also ebenfalls keinen Grund, dem Kläger Nachzahlungen zu gewähren und also die gesetzliche Regelung für verfassungswidrig zu betrachten und aus diesem Grund einen Vorlagebeschluss zu fassen, womit der Fall als solcher hätte mit der Folge als erledigt betrachtet werden können, dass es die Entscheidung des Zweiten Senats aus dem Jahr 1990 nicht gegeben hätte - denn ohne diese Vorlage hätte es kein konkretes Normenkontrolverfahren gegeben. Damit wäre durch das Niederschlagen der Klage spätestens durch das Bundesverwaltungsgericht davon auszugehen gewesen, dass das Bundesverfassungsgericht zwar 1977 einer vergangenheitsbezogenen Verfassungsbeschwerde über den alimentativen Mehrbedarf stattgegeben hatte, dass daraus aber keine unmittelbaren Folgen für die seit 1977 zukünftig Betroffenen gegeben gewesen wären.

Obgleich das Bundesverwaltungsgericht die konkrete Forderung des Klägers nach Feststellung eines konkreten Nachzahlungsanspruchs Ende 1985 zwar sachlich zurückwies (über die formellen Fragen von Feststellungs- und Leistungsklagen will ich hier nichts sagen), setzte es nun aber das Verfahrens bis zur notwendig gewordenen gesetzlichen Neuregelung des Besoldungsrechts und Versorgungsrechts aus, sah also nichtsdestotrotz eine Verletzung von Art. 33 Abs. 5 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 als gegeben an, jedoch ohne das an konkreten Beträgen festzumachen, und zwar weil der Gesetzgeber eine in der erfolgreichen Verfassugsbeschwerde angegriffene gesetzliche Regelung fortbestehen lassen hatte (vgl. dazu das, was ich vorhin für die Zeit nach 1977 geschrieben habe) und legte nun diese Entscheidung mit der nachfolgend vom Bundesverfassungsgericht zusammengefassten Begründung diesem vor (auch trat es ebenfalls weitgehend der Klagebegründung bei, was ich hier nicht zitiere; dieser Teil der Entscheidung konnte formell weitgehend nicht als entscheidungsrelevant betrachtet werden; formelles Recht ist kompliziert):

Die besoldungsrechtlichen Vorschriften, über die zu entscheiden waren, "verletzten Art. 33 Abs. 5 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG und das Rechtsstaatsprinzip dadurch, daß gemäß Art. VIII § 4 Abs. 1 des 7. BBesErhG eine Erhöhung der genannten Ortszuschläge erst ab 1. März 1978 wirksam geworden sei. Die Feststellung der Verfassungswidrigkeit in dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 1977 habe ebenso wie die Nichtigerklärung einer Vorschrift die Wirkung, daß vom Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an die Norm, soweit sich das aus der Entscheidung ergebe, nicht mehr angewendet werden dürfe. Für den Gesetzgeber begründe eine solche Entscheidung mindestens für die Zukunft die Pflicht zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Gesetzeslage. Werde eine Norm wegen eines Verstoßes gegen Art 3 Abs 1 GG für verfassungswidrig erklärt, sei der Gesetzgeber aber weiter gehalten, den Anforderungen dieses Grundrechts auch für die seiner Entscheidung vorangehende Zeit gerecht zu werden und auch insoweit eine den Grundsätzen des allgemeinen Gleichheitssatzes entsprechende Regelung zu erlassen. Das sei hier nicht geschehen. Trotz der Feststellungen im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. März 1977, daß die gegen Art. 33 Abs. 5 GG verstoßende eindeutige Unangemessenheit der Bezüge der Beamten mit drei oder mehr Kindern und ihre erhebliche Benachteiligung im Vergleich zu Kollegen in vergleichbaren Ämtern mit weniger Kindern seit längerer Zeit bestehe, sei für den Zeitraum vor dem 1. März 1978 jegliche zusätzliche Leistung für kinderreiche Beamte zum Ausgleich der ihnen obliegenden Unterhaltslasten unterblieben." (hier Rn. 36 https://openjur.de/u/185266.html).

Nachdem nun ab November 1985 diese Richtevorlage des Bundesverwaltungsgerichts in Karlsruhe anhängig war, dauert es jetzt noch einmal bis zum 22.03.1990, bis der Senat seine in meinem vorherigen Beitrag dargelegte Entscheidung traf. Und nun kann man fragen, wofür brauchte Karlsruhe vereinhalb Jahre? Kann es sein, dass vom Klagebeginn 1978 bis zur Entscheidung des Zweiten Senats zwölf Jahren vergehen mussten? Und in der jeweiligen Antwort finden wir einige derselben Gründe wieder, wieso es auch nun wieder seit 2020 erneut länger dauert, also erneut vier Jahre oder länger.

Dabei sollten wir uns - auch als rückwärtsgekehrte Propheten - vor retrospektiven Fehlschlüssen hütten, also nicht mit unserem heutigen Wissen auf die Vergangenheit schauen. Denn für uns im Nachhinein stellt sich auf Basis der heute bereits (weitgehend) vorliegenden Dogmatik der Fall eindeutig dar - eben weil wir ihn aus der nun vorliegenden Dogmatik als eindeutig betrachten können. Bevor eine solche Dogmatik aber vorliegt, sieht der Fall ganz anders aus, was hier deutlich wird, wenn man nun betrachtet, was der Bundesinnenminister, das Land Nordrhein-Westfalen und dessen Landesamt für Besoldung und Versorgung Ende der 1980er Jahre gegen die Begründung des Bundesverwaltungsgericht ins Feld führten (die konkrete Normenkontrolle betrachtet unmittelbar den Vorlagebeschluss und gibt Betroffenen nur die mittelbare Gelegenheit, sich zu diesem Vorlagebeschluss zu stellen), wobei sich dieser Innenminister - wie jeder Innenminister - einig mit den Sichtweisen seines Vorgängers sah, auch wenn jener 1978 noch eine ganz andere Parteifarbe als seine eigene angesehen hatte:

"1. Der Bundesminister des Innern führt aus, das Bundesverfassungsgericht habe in der Entscheidung vom 30. März 1977 eine Vielzahl unterschiedlich strukturierter Bedarfsmaßstäbe dafür aufgezeigt, wie die wirtschaftliche Belastung aus der Verpflichtung zur Unterhaltsgewährung, Erziehung und Betreuung von Kindern zu veranschlagen sei. Die Besoldungskommission Bund/Länder habe dementsprechend die statistisch ermittelten Ausbildungskosten, die Unterhaltsrichtsätze des Bundesausbildungsförderungsgesetzes, Versorgungsbezüge für Waisen, Sozialhilfesätze, Unterhaltssätze im Familienrecht und den Regelunterhalt für nichteheliche Kinder untersucht. Da es sich um komplizierte Berechnungen handele, habe der Gesetzgeber im Rahmen seines weiten Beurteilungsspielraums zu dem Mittel der Pauschalierung und Typisierung greifen dürfen. Der Gesetzentwurf habe das 'finanziell und politisch zur Zeit Mögliche' vorgesehen (a.a.O., S. 9278 [D] bis 9279 ). Gesetz geworden sei eine einheitliche Bruttolösung mit gestaffelten Beträgen im Ortszuschlag. Die Bundesregierung habe aus beamten- und sozialpolitischen Gründen eine Nettolösung, d.h. die Gewährung von unterschiedlich hohen Bruttobeträgen unter Berücksichtigung der Steuerprogression mit - unter Einbeziehung des steuerfreien Kindergeldes - einheitlichen bedarfsdeckenden Nettobeträgen, für nicht durchführbar und parlamentarisch nicht durchsetzbar angesehen. Die Kindergelderhöhung um 45 DM (von 150 DM) auf ursprünglich 195 DM monatlich durch das Achte Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes vom 14. November 1978 (BGBl. I S. 1757) habe die Reduzierung beim Ortszuschlag für das dritte Kind um brutto 50,55 DM voll ausgeglichen; die weitere Kindergeldanhebung auf 200 DM durch Art. 14 StÄndG 1 979 vom 30. November 1978 (BGBl. I S. 1849) habe zu einem Mehrbetrag geführt. Die Erhöhung des steuerfreien Kindergeldes um 50 DM sei in der Regel günstiger als die bis zum 31. Dezember 1978 getroffene besondere Lösung im Ortszuschlag für Beamte gewesen, da die Verbesserung im Ortszuschlag steuerpflichtig gewesen sei. Bei Familien mit vier und mehr Kindern habe die Erhöhung des Kindergeldes zusätzliche Verbesserungen gewährt, denn sie sei nur teilweise angerechnet worden.

Der Bundesminister des Innern ist aufgrund seiner Berechnungen der Nettobezüge des Klägers im Ausgangsverfahren, die die allgemeinen steuerlichen Be- und Entlastungen, Ausbildungsfreibeträge und Kinderbetreuungskosten berücksichtigen, zu dem Ergebnis gekommen, für den Kläger seien im Vergleich zur Lage Ende 1976 wesentliche Gehaltsverbesserungen im Entscheidungszeitraum festzustellen, nämlich ein Zuwachs von 38,4 v.H. (März 1978) bis 69,0 v.H. (Januar 1981). Die Frage nach der angemessenen Alimentierung des Klägers könne im übrigen nur anhand eines Vergleichs des mutmaßlichen Nettoeinkommens (Steueramtmann in Besoldungsgruppe A 11) mit dem ranggleicher Kollegen, die keine oder nur ein bis zwei Kinder hätten, beurteilt werden. Die Nettomehrbeträge seien insbesondere bei einer auch am politisch und finanziell Möglichen orientierten Würdigung ausreichend gewesen, um dem Kläger ein annähernd gleiches Lebensniveau zu gewährleisten.

2. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung Nordrhein- Westfalen weist ergänzend zu der Stellungnahme des Bundesministers des Innern auf den Gesichtspunkt hin, bei der Prüfung, ob die dem Kläger gewährte Besoldung im Nettovergleich eine angemessene, der Größe seiner Familie gerecht werdende Alimentierung darstelle, seien nicht nur die Bezüge ranggleicher Beamter mit geringerer Kinderzahl sondern auch die Einkommensverhältnisse der außerhalb des öffentlichen Dienstes Erwerbstätigen mit fünf Kindern heranzuziehen."
(hier die Rn. 41 ff.; https://openjur.de/u/185266.html)

Allein diese Ausführungen wiesen auf eine sachliche Spannweite an Argumenten hin, die zu prüfen waren und für deren Prüfung es weder entschiedene Präzedenzfälle noch eine umfangreichere Betrachtung in der fachwissenschaftlichen Literatur gab. Entsprechend war nun eine komplexe Abwägungsentscheidung vom Zweiten Senat zu vollziehen, für die weitgehend eine komplexe neue Begründung zu vollziehen war, die als Folge ihrer Bindungswirkung zukünftig eine gewichtige Grundlage für die aus ihr nun entspringende Dogmatik zum alimentativen Mehrbedarf darstellen würde. Wie geht nun Karlsruhe in diesen Fällen generell vor? Die Antwort mögen viele hier nicht, was für sich genommen nachvollziehbar ist, jedoch sich als juristisch praktikabler erweist als ihr Gegenteil: Das Gegenteil heißt Schnelligkeit - das tatsächlich Vorgehen bedeutet: Langsamkeit.

Denn der Senat bildet sich in Fällen, in denen er weitgehend noch nicht auf eine ausgeformte Dogmatik zurückgreifen kann, nun seine Meinung sowohl auf Grundlage der Begründung weiterer Entscheidungen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die im Gefolge der Rechtsprechung der Revisoninstanz entstehen, mit der sich also die Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte im Gefolge der betreffenden Entscheidung (hier also der aus dem November 1985) auseinandersetzen, als auch auf Basis der Diskussionen in den fachwissenschaftlichen Medien, die nach solchen Entscheidungen der Revisionsinstanz i.d.R. ebenfalls einsetzen. Die Arbeit am Recht erfolgt nicht allein im stillen Karlsruher Kämmerlein des Berichterstatters und seiner Wissenschaftlichen Mitarbeiter, sondern eben in der fachwissenschaftlichen Diskussion, die von den Senaten zunächst abzuwarten ist, da man auch in Karlsruhe nicht die Weisheit mit Löffeln gegessen hat. Dafür aber muss Zeit vergehen, damit solche (verwaltungs-)gerichtlichen Entscheidungen auf Basis der Begründung des vorlegenden Gerichts genauso wie Auseinandersetzungen mit ihr in der Literatur erst einmal erfolgen können: Deren Sachverstand also jeweils zur Wirkung gelangt. Das Bundesverfassungsgericht kommt regelmäßig diskursiv zur Findung seiner Entscheidungen - wenn sich dieser Prozess auch nicht öffentlich zuträgt, da er dem Beratungsgeheimnis unterliegt, der aber die maßgeblichen Argumente mit zur Grundlage für die eigene Entscheidungsfindung macht, wie sie sich in der Gerichtspraxis und Literatur wiederfinden. Erst in der Beratung findet sich das stille Kämmerlein: Die Senate werfen also mit ihren Entscheidungen regelmäßig einen Ball ins Feld, um später das Spielgeschehen aufzugreifen, aus dem sie maßgebliche Schlüsse für den nächsten Ballwurf entnehmen.

Genauso ist das Bundesverfassungsgericht dann auch ab 2012/15 vorgegangen, indem es jenen Prozess zugleich vorantrieb, als es gezielt aus den ab 2016 bei ihm eingehenden Vorlagen auswählte und also im Diskurs mit der Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Literatur 2017 das Abstandsgebot zwischen vergleichbaren Besoldungsgruppen, 2018 die weitere Konkretisierung der den Besoldungsgesetzgeber treffenden Begründungspflichten und 2020 das Mindestabstandsgebot erließ, um so die sich abzeichnende neue Dogmatik zum Besoldungsrecht weiter auszuformen, wobei als weiterer Teil des Diskurses hier die jeweiligen Begründungen der Besoldungsgesetzgeber zu betrachten sind (vor 2006 hat sich die Komplexität der Gesetzgebung durch den de facto nur einen Gesetzgeber noch deutlich einfacher dargestellt) - dieser Prozess vollzieht sich nun seit 2020, nachdem der Senat zwischen 2015 und 2020 fünf maßgebliche Entscheidungen getroffen hat, aus denen niemand mehr Zweifel ziehen konnte und kann, dass mit ihnen nun eine neue Dogmatik zum Besoldungsrecht vorliegt.

Uns mittelbar und unmittelbar Betroffene hat diese Zeit seit dem Sommer 2020 Geduld abverlangt; auch trifft die Länge der Verfahrensdauer nachvollziehbar auf Zweifel, ggf. auch auf Enttäuschung und Empörung.

Fortsetzung folgt ...
« Last Edit: 06.03.2024 17:04 von SwenTanortsch »

SwenTanortsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10899 am: 06.03.2024 16:47 »
... und zwar hier ...

Aber diese neue Dogmatik zeigt ihre Effektivität in der Vielzahl der ab 2016 erfolgten Vorlagebeschlüsse, wobei bis 2020 die sehr viel größere Zahl an Klagen nicht bis nach Karlsruhe gelangt sind, also zuvor abgewiesen wurden, was sich weitgehend erst ab 2020 anders entwickelt, da nun die neue Dogmatik zum Besoldungsrecht weitgehend ausgeformt vorliegt, was bis 2020 nicht der Fall gewesen ist. Die Effektivität ist dabei so verstanden auch eine Art "Selbstverstärker": Durch die hohe Anzahl an seit 2016 erfolgten Richtervorlagen kann der Senat nun gezielt Vorlagen auswählen - also den Ballwurf gezielter vornehmen, als wenn nur eine konkrete Vorlage anhängig wäre, wie das 1990 der Fall gewesen ist -, um daran nun seine konkreten Entscheidungen zu treffen: Das unterscheidet die aktuelle Situation seit 2015 wie gesagt zunehmend von der zum alimentativen Mehrbedarf ab 1977/1990, da seit 2016 eine zunehmende Zahl an Vorlagen anhängig geworden ist. Das Zweite Senat hat also ab 2017 gezielt Vorlagen ausgewählt, an denen er seine Dogmatik präzisieren konnte (wobei es sich bei dem 2017er Verfahren ebenfalls um eine Verfassungsbeschwerde und nicht um ein konkretes Normenkontrollverfahren gehandelt hat) - die Effektivität führt so verstanden zu mehr Vorlagen, deren erhöhtes Eingehen erleichtert wiederum die Auswahl an entscheidungsrelevanten Vorlagen, mit denen nun wiederum die Effektivität der Rechtsprechung erhöht werden kann: Innerhalb dieses Prozesses befinden wir uns seit 2015/17.

Der Senat hat uns und nicht minder die Besoldungsgesetzgeber dabei mit jeder seiner seit 2012 erfolgten Entscheidungen sachlich überrascht - und das wird auch nach der 2020 beendeten "Ära Voßkuhle" 2024 der Fall bleiben; davon ist jedenfalls weiterhin begründet auszugehen. Der Senat hat sich dabei die seit 2021 erfolgte Gesetzgebung in den 17 Rechtskreisen genau angeschaut, er hat darüber hinaus die seitdem bei ihm eingegegangen Vorlagen sortiert und sie also betrachtet und eingeordnet, er hatte zugleich seitdem nur noch wenige - anders als bis 2020 - niedergeschlagene und sich also heute im Instanzenzug befindliche Klagen zur Kenntnis zu nehmen, worin sich ebenfalls die heute weitgehend bereits erreichte Effektivität seiner Rechtsprechung offenbart, und er findet seit 2020 - ausgehend von Martin Stuttmanns umgehend erfolgter Betrachtung der aktuellen Entscheidung - ein Bündel an Literatur vor, die mit wenigen Ausnahmen zu recht deutlichen Ergebnissen gelangt.

Entsprechend verweist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit - insbesondere mit der zum besoldungsrechtlichen alimentativen Mehrbedarf - auf die Gegenwart und kann ich nur das wiederholen, was ich hier regelmäßig wiederhole: Ich möchte aktuell nicht in der Haut von niedersächsischen, hamburgischen und Bremer politischen Verantwortungsträger stecken, die sich alsbald unmittelbar von Entscheidungen getroffen sehen werden, und ebenso wenig möchte ich mindestens in der Haut von Berliner und brandenburgischen Verantwortungsträger stecken, da sich mindestens hier aktuell ebenfalls Vorlagen zur Entscheidung formen.

Das Warten war und ist für nicht wenige auch hier im Forum zermürbend - aber es wird nicht mehr allzu lange dauern: Und anders als 1977, 1990 oder 1998 hinsichtlich des alimentativen Mehrbedarfs bzw. 2012 oder 2015 bzw. 2020 ist nun eine umfassende Dogmatik zum Besoldungsrecht bereits verfassungsrechtliche Realität, die nun ihre grundsätzlichen Feinschliff erlangen dürfte: Und nur sie macht das Warten so schwierig, weil nur durch sie erkennbar ist, in welchem Maße verfassungswidrig die Besoldungsgesetzgeber handeln.

Genau deshalb hat sich bis in den Sommer 2020 kaum jemand - auch hier im Forum - für das Thema interessiert: Denn die bis dahin entwickelte Dogmatik schien zu wenig konkret und sachlich zu unspektakulär, als dass sie viel Interesse geweckt hätte. Das galt bis weit in das Jahr 2021 hinein auch hier im Forum und gilt heute weiterhin - wenn auch lange nicht mehr so stark wie noch 2021 - ähnlich für die Medien, in denen sich - davon dürfen wir mit einiger Wahrscheinlichkeit ausgehen - nach der Veröffentlichung der angekündigten Entscheidungen eine andere Aufmerksamkeit entwickeln wird.

@ Bundi und Malkav

Ich breche jetzt mal eine Lanze für die politische Klasse, weil ich - denke ich - unverdächtig bin, sie aus ihren Pflichten entlassen zu wollen: Eine Parteiendemokratie weist zwangsläufig opportunistisches Handeln als grundlegendes Schmiermittel ihres Handelns auf. Da immer um das immer zu rare Gut Geld gerungen wird, steht faktisch immer die Nützlichkeit im Vordergrund - und Nützlichkeit meint in erster Linie: Nützlichkeit zum eigenen Machterhalt, weil ohne sie de facto keine Entscheidungen mehr getroffen werden können. So verstanden beruht jener Opportunismus weniger auf genereller rechtsstaatliche Selbstvergessenheit - jene zeigt sich allerdings nichtsdestotrotz in erschreckender Form in unserem Thema -, sondern vielmehr auf ein sich selbst stabilisierendes Ausklammern von Gegenmeinungen, die sich im Nützlichkeitsdiskurs also bei jenen Themen gar nicht erst entfalten, in denen innerhalb der politischen Klasse alle vom selben Ergebnis profitieren, wie das leider in der Beamtenbesoldung der Fall ist (und wie es in vielen anderen Themen zum Glück für unsere Demokratie nicht der Fall ist). Was sich also im Besoldungsrecht als politische Entäußerungen entfaltet, sind deshalb zumeist nur Darlegungen, die wissen, dass man morgen an sie erinnert werden kann, wenn man nun selbst aus der Opposition auf die Regierungsbank gewechselt ist.

Es ist so verstanden keine rechtstaatliche Verderbtheit, die sich hier politisch offenbart, sondern "nur" der typische Opportunismus, aus dem in unserem Thema auch zukünftig kaum ein Politiker ausbrechen könnte, ohne damit seine eigenen Gestaltungsmöglichkeiten, die nun einmal vor allem über die Verfügbarkeit von finanziellen Mitteln verläuft, zukünftig einzuschränken: Wer also nun als Politiker in der Opposition oder Regierung ausriefe, "Gebt den Beamten mehr Kohle", der könnte sich gleich auf die politische Streckbank seiner Fraktion legen und darüber hinaus feststellen, dass Daumenschrauben nicht in Dübel greifen. Insofern dürfen wir damit rechnen - das ist seit Mitte der 1950er Jahre wiederkehrend Thema in Karlsruhe, wenn auch bis weit in die 2000er Jahre eher ein Thema, das dort zurückgewiesen worden ist -, dass das auch weiterhin so bleiben wird. Das war leider unser "Berufsrisiko" als Beamte, über das uns leider keine aufgeklärt hat, bevor wir den Mund auftaten zum Schwur. Früher hat man die Leute besoffen gemacht, die sich dann wenig später auf hoher See gemeinsam mit den Kameraden auf der selben Bank wiederfanden, die eher nicht die Regierungsbank war; heute sind die Zeiten zum Glück ehrlicher, wirbt der öffentliche Dienst also regelmäßig mit dem Slogan (in jeweils etwas abgewandelter Form): "Willst Du was Vernünftiges tun, komm' zu uns, hier kannst Du was bewegen und hast das Ruder in der Hand". Und nun haben wir's in der Hand...

Zugleich wird aber der Opportunismus zum Machterhalt - der also kein persönlicher Charakterfehler, sondern eingewoben in die Parteiendemokratie ist - nach den anstehenden Entscheidungen nicht minder seine Wirkung entfalten, da es - ähnlich wie zurzeit in Fragen des Haushaltsrechts - nicht opportun sein wird, also nicht dem Machterhalt diente, sich weiterhin zu verhalten als wie zuvor; das ist zugleich der Vorteil der repräsentativen Demokratie, das sie sich also in der Öffentlichkeit vollzieht. Es ist davon auszugehen, dass Karlsruhe dafür sorgen wird, dass die anstehenden Entscheidungen ebenfalls ein Medienecho entfalten werden, ähnlich wie das im letzten Spätherbst hinsichtlich der Entscheidung über das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 der Fall gewesen ist.

Und danach werden die Spiele erneut beginnen - und je nachdem, wie und in welcher Stärke sich das Medienecho entwickeln wird, wird der Ball rund sein und das nächste Spiel immer das schwerste... Schau'n mer mal, wohin die Reise geht.

Bauernopfer

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« Antwort #10900 am: 06.03.2024 18:59 »
Inzwischen habe ich auch die Hoffnung vollständig aufgegeben.

Wir haben jetzt die ersten Kollegen hier, die nur noch rum sitzen, weil es kein Geld mehr für PCs und Monitore gibt.
Das finde ich richtig krass. Ist das bei euch auch schon so?

Immerhin finde ich dann die Besoldung wieder angemessen.
PCs? Bei uns (in Ba-Wü) gibt's nur noch Notebooks, war insbesondere während Corona in Verbindung mit alternierenden Homeoffice-Zeiten von Vorteil.

Blablublu

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10901 am: 06.03.2024 19:08 »
Danke Swen für deinen historischen Abriss der Ereignisse. Ich wusste das es in den 2000ern schonmal eine Änderung wegen des dritten Kindes gegeben hat, das diese Verfahren praktisch schon so Alt sind war mir neu. Mein Amt war in den 70er Jahren mal das 2,6 fache des Durchschnittsverdienst aller RV Pflichtigen wert, heute ist es nur noch das 1,6 fache. Was im Prinzip schon für die hier veröffentlichte Besoldungstabelle mit Beträgen jenseits der 100.000 in der A 12 spricht. Nur wird es wohl nicht von der Politik zu diesen Anpassungen kommen. Auch das zeigt die Historie der letzten 45 Jahre. Sondern Karlsruhe wird irgendwann eine ganz konkrete vorgabe für eine Besoldungstabelle machen müssen. Z.b. 115 % Mindestbesoldung jedes höhere Amt 10 % mehr in der Anfangsstufe als die Endstufe des vorhergehenden Amtes, maximal 20 % Zuschläge etc...

lotsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10902 am: 06.03.2024 19:17 »
Swen, du bemühst dich wirklich sehr uns Mut zu machen. Wenn man aber berücksichtigt, dass das Besoldungsrecht bis zur Weimarer Republik und noch weiter zurück reicht, dann hat die Judikative und die Legislative 100 Jahre Zeit gehabt ihre Dogmatik zu festigen. Dann schaut das Ganze doch irgendwie nach einer Hinhaltetaktik aus. Die Legislative wird geradezu ermuntert das GG zu brechen und wäre ehrlich gesagt blöd, wenn sie das nicht machen würde. Keine Konsequenzen und sehr viel Geld gespart für eigene Ausgabewünsche. Dann ist das System schlecht und was schlecht ist kann weg. Da gefällt mir das Schweizer System dann doch besser. Da haben die Beamten in irgendeinem Kanton letztens erst wieder gestreikt, für 1,4 % Inflationsausgleich. Das ist einfach ehrlicher und direkter.
Besonders die langen Verfahrensdauern, die Unabwägbarkeiten eines Prozesses über viele Instanzen, der Ausschluss der Verzinsung, es müssen nur die entschädigt werden, die Rechtsmittel eingelegt haben und ein gewisses Fachwissen besitzen, nicht umsonst sind oft Richter die Kläger, die Verabredung zum vorsätzlichen Verfassungsbruch, das alles ist zu viel.
Eine englische Rechtsweisheit besagt: „Justice delayed is justice denied“ (verzögertes Recht ist verweigertes Recht). Und ich denke mittlerweile, dass des sich um systemische Verzögerung handelt und das ist nicht vermittelbar.

SwenTanortsch

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10903 am: 06.03.2024 20:30 »
Ich gebe Dir hinsichtlich dem "verzögerten Recht" völlig Recht, lotsch. Und zugleich zeigt Blablublu die Ursache für die Erstellung einer neuen Besoldungsdogmatik: Denn ab den 1990er Jahre hat der - damals noch eine - Besoldungsgesetzgeber zunehmend begonnen, das Besoldungs- und Versorgungsniveau abzuschmelzen, nicht zuletzt um damit die Folgen der deutschen Einheit mit zu finanzieren (das Einebnen des Besoldungsniveaus seit den 1970er Jahren fand so nun seine Beschleunigung). Das war auch der Hauptgrund, weshalb man 2003 die vordergründig nur eine Formalität darstellenden Verhandlungen zur Übertragung der tariflichen Sonderzahlungsregelungen auf die Beamten, wie es bis dahin lange geübte Praxis gewesen war, vonseiten der TdL platzen ließ, was zur Folge hatte, dass das Sonderzahlungsrecht auf ihrem Landesgebiet in der Folge in die Hände des jeweiligen Landesgesetzgebers überging. Damit wurden weitere deutliche Einschnitte in der Alimentationsniveau vollzogen, eben die weitere Beschleunigung, die ich in der letzten Klammer hervorgehoben habe). Zeitgleich begann man die Föderalismusreform I auszuformen, die dann 2006 die geteilte Gesetzgebungskompentenz hinsichtlich der Landesbeamten wieder vollständig in die Hand des jeweiligen Landes und seines Gesetzgebers legte und zu dem Ergebnis der nun noch einmal weiter verstetigten Einschnitte in die Besoldung führte.

Als Folge sah der Zweite Senat nun - anders als das Bundesverfassungsgericht in den Jahrzehnten zuvor - die ggf. systematische Unteralimentation einzelner Beamtengruppen bis hin zu allen Beamten als möglich an und begann nun mit der Ausformung der neuen Besoldungsdogmatik, was bedeutete, dass er über die seit 2004 gesteigert bei ihm anhängig werdenden Vorlagebeschlüsse entschied. Es hatte hier also ebenfalls eine Auswahl an Vorlagen, wie sich das uns seit 2016 erneut präsentiert (deren Anzahl war allerding ab 2007 deutlich geringer, da viele der Verfahren zunächst von den Fachgerichten ruhend gestellt wurden, als deutlich wurde, dass nun ggf. eine neue Dogmatik zum Besoldungsrecht am Horizont aufzugehen schien).

Dabei muss aber eine der Besonderheiten der konkreten Normenkontrolle beachtet werden: Der Bundesverfassungsgericht entscheidet hier nicht über den konkreten Fall, sondern es entscheidet über die Vorlage. Denn diese behauptet ja - anders kommt es zu keinem konkreten Normenkontrollverfahren -, dass die dem Verfahren zugrunde liegende gesetzliche Norm verfassungswidrig sei. Das wird von der Richtervorlage behauptet und von ihr dann begründet. Die beiden Senate des Bundesverfassuingsgericht prüfen nun also - anders als die vorlegenden Gerichte - nicht den Fall als solchen, sondern die Begründung des vorlegenden Gerichts, dass nach dessen Ansicht, die seiner Entscheidung zugrunde liegende gesetzliche Norm verfassungswidrig sei. Das ist der Zweck der konkreten Normenkontrolle.

Zwischen 2007 und 2012 hat nun keine der nach 2004 beim Bundesverfassungsgericht anhängig gewordene Richtervorlage diesen Nachweis führen können, weil die Begründung der vorlegenden Gerichte die Behauptung nicht hinreichend nachweisen konnte; die Vorlage bleib also jeweils unbegründet (und nicht wenige Vorlagen kamen erst gar nicht bis hierhin, sondern stellten sich zuvor als gar nicht zulässig heraus, wie das ja fast auch der Vorlage aus dem Jahr 1990 ergangen wäre, s. meine letzten Ausführungen). In Zuge dessen wurde nun zunehmend deutlicher, was eigentlich von der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu prüfen war - und zwar in dem vorhin von mir dargelegten Dialog zwischen Senat, Verwaltungsgerichtsbarkeit und der Literatur. Im Ergebnis schälten sich dann 2012 zunächst die vertieften Begründungspflichten heraus und schließlich 2015 das bundesverfassungsgerichtliche "Pflichtenheft" des dreistufigen Prüfungsprogramms anhand von festgelegten Prüfparametern, das weitere Herzstück der neuen Besoldungsdogmatik.

So verstanden ist eben dieser eine Satz sachlich falsch: "Wenn man aber berücksichtigt, dass das Besoldungsrecht bis zur Weimarer Republik und noch weiter zurück reicht, dann hat die Judikative und die Legislative 100 Jahre Zeit gehabt ihre Dogmatik zu festigen."

Denn die judikative Gewalt konnte erst in dem Maße zunehmend handeln, in dem im Zuge der Entwicklung einer neuen Dogmatik deren Gestalt zunehmend deutlich wurde - hier findet sich also das Pingpong, von dem ich vorhin gesprochen habe, das langwierig ist, solange keine an Präzedenzfällen ausgereifte Dogmatik vorliegt. Die vielen zwischen 2007 und 2012 scheiternden Normenkontrollverfahren waren also die Vorausetzung für die sich herauskristallisierende neue Besoldungsdogmatik - denn sie ist ihre Frucht.

Heute sind wir nun weitgehend am vorläufigen Ende jenes Pingpongs angekommen, das also hinsichtlich des Alimentationsprinzips ab 2007 in sich abzeichender neuen Form losging, während es hinsichtlich der alimentativen Mehrbedarfs bereits ab 1977 einsetzte. Diese Rechtsprechung zum alimentativen Mehrbedarf kann insofern als typische Blaupause betrachtet werden, wenn natürlich deren Entwicklung nicht eins zu eins auf die der Entwicklung einer Dogmatik zum Besoldungsrecht insgesamt übertragen werden kann.

Die Hoffnung oder der Mut, von dem Du eingangs spricht, sind insofern berechtigt: Seit 2007 musste der komplexe Weg zurückgelegt werden, der nur in den formell engen Grenzen des konkreten Normenkontrollverfahrens vollzogen werden konnte - mit den anstehenden Entscheidungen wird dieser Weg, davon muss man ausgehen, ansonsten gäbe es keine sachliche Berechtigung für die seit der letzten Entscheidung vom Mai 2020 anhaltende Dauer bis zu jenen Entscheidungen, weitgehend an sein Ende kommen. Und danch wird es (wie ich ja nun schon recht lange hier schreibe) schneller gehen.

Insofern mache ich tatsächlich gar kein Mut - sondern ich stelle Entwicklungen dar, die offen vor uns liegen, wenn man sich nur lang genug und also einigermaßen tiefgehend mit der Materie beschäftigt. Genau deshalb habe ich auch vorhin das wiederholt, was ich nicht anders sehen kann: In der Haut der jeweiligen politischen Verantwortungsträger möchte ich nicht stecken. Und wer jetzt noch, da die Blase platzt, als politischer Verantwortungsträger, der noch eine politische Zukunft vor sich sieht, so weitermachte als wie bisher - dem ist heute nicht mehr zu helfen, weil er die Zeichen der Zeit nicht mehr versteht. Dem Finanzminister des Jahres 2007 oder 2011 kann heute nicht mehr viel passieren, weil sein Hut nicht mehr im politischen Ring geworfen ist. Für die heutigen Fianzminister und Regierungschefs sieht die Lage allerdings ein bisschen anders aus...

BuBea

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Antw:Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #10904 am: 07.03.2024 09:19 »
Auch wenn Swen kein Mut machen will  ;)  so habe ich nach dem Studium des Beschlusses vom 04.12.2023 des VG Berlin (VG 5 K 77/21) doch den Eindruck, dass die Verfahren jetzt schneller das BVerfG erreichen und auch strategisch vorbereitet sind. Nach meiner laienhaften Einschätzung werden hier Aspekte angesprochen, die das BVerfG aufgreifen kann, um sich auch zur Ausgestaltung des AEZ zu äußern. Wenn das BVerfG dieses Verfahren auswählt, um seine Dogmatik fortzuschreiben, so würde dies den im letzten Absatz von Swen angesprochenen Druck m.E. schon erheblich erhöhen...