Wie auf der Hessenseite angekündigt, eine kurze Betrachtung zur Bemessung der gewährten Netto- und der Mindestalimentation, die die Ausflüchte entsprechend politisch Handelnder erörtert. Hierzu wird zunächst noch einmal die Bedeutung der Mindestalimentation prägnant betrachtet (I.). Im Anschluss erfolgt die Darlegung zur Bemessung von gewährter Netto- und Mindestalimentation (II.). Das Ganze mündet in einem Fazit (IIi.).
I. Die Bedeutung der Mindestalimentation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Bereits seit der im November 2015 erfolgten Präzisierung der Mindestalimentation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, noch mehr allerdings seit dessen Präzisierung im Mai 2020 unterläuft den Besoldungsgesetzgebern beinahe unisono ein Kategorienfehler: Denn die Mindestalimentation ist in der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung kein Mittel zur Herstellung einer amtsangemessenen Alimentation; sie ist vielmehr ein Instrument zur Prüfung des gegebenenfalls nicht amtsangemessenen Gehalts der gewährten Nettoalimentation. Nicht umsonst hebt das Bundesverfassungsgericht in mittlerweile ständiger Rechtsprechung hervor, dass die Parameter der ersten Prüfungsstufe, zu denen ebenso die Mindestalimentation gehört, „weder dazu bestimmt noch geeignet“ seien, „aus ihnen mit mathematischer Exaktheit eine Aussage darüber abzuleiten, welcher Betrag für eine verfassungsmäßige Besoldung erforderlich ist. Ein solches Verständnis würde die methodische Zielrichtung der Besoldungsrechtsprechung des Senats verkennen.“ (vgl. in der aktuellen Entscheidung die Rn. 30). Was bedeutet das?
Die Mindestalimentation hat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Zwitterbedeutung: (a) Sie markiert die vom absoluten Alimentationsschutz umfasste Grenze, die aus dem Alimentationsprinzip abgeleitet wird: Ein Einschnitt in die Alimentation, die zum Unterschreiten der Mindestalimentation führt, ist per se nicht möglich und in allen Fällen verfassungswidrig: deswegen absoluter Alimentationsschutz. In diesem Sinne hebt das Bundesverfassungsgericht – weiterhin auf den Prüfcharakter der Mindestalimentation verweisend – hervor: „Wird bei der zur Prüfung gestellten Besoldungsgruppe der Mindestabstand zur Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht eingehalten, liegt allein hierin eine Verletzung des Alimentationsprinzips.“ (vgl. in der aktuellen Entscheidung die Rn. 48). Darüber hinaus hat sie im Prüfverfahren der ersten Prüfungsstufe neben den weiteren Parametern eine (b) indizielle Bedeutung. Was bedeutet das? Auf der ersten Prüfungsstufe der Prüfmethodik des Bundesverfassungsgerichts wird anhand von fünf Parametern betrachtet, ob die Vermutung einer verfassungswidrigen Alimentation indiziert wird oder nicht. Sofern die Mindestalimentation als einer der beiden vierten Parameter die gewährte Nettoalimentation überschreitet, indiziert das, dass die Alimentation amtsangemessen ist – das bedeutet aber nicht, dass damit bewiesen wäre, dass die gewährte Nettoalimentation oberhalb der Mindestalimentation automatisch amtsangemessen sein muss. Denn zwar sind oberhalb der Mindestalimentation Einschnitte in die Alimentation möglich – oberhalb der Mindestalimentation ist nur der relative Alimentationsschutz gegeben (vgl. in der aktuellen Entscheidung die Rn. 95) –; aber diese Einschnitte sind wie immer eine Sache der Begründetheit. Diese Begründetheit bezieht sich insofern auf alle Einschnitte in die Alimentation: Wenn also beispielsweise die Mindestalimentation die gewährte Nettoalimentation überschreitet – also die Alimentationshöhe, die vom absoluten Alimentationsschutz umschlossen ist, überschritten wird –, können dennoch die weiteren Parameter der ersten Prüfungsstufe die Vermutung einer nicht amtsangemessenen Alimentation indizieren – und das ist im Übrigen derzeit sogar deutlich wahrscheinlicher als noch vor wenigen Monaten.
Denn hinsichtlich der vom Grundsicherungsniveau abhängigen Mindestalimentation sind 2022 kaum größere monetäre Veränderungen feststellbar; aber die exorbitant steigenden Verbraucherpreise dürften im Vergleich zu den 2021 und 2022 nur begrenzt gestiegenen Gehältern bereits für dieses Jahr mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit als dritter Parameter der ersten Prüfungsstufe die Vermutung einer nicht mehr amtsangemessenen Alimentation recht deutlich indizieren, worin sich zweierlei zeigen sollte: Erstens kann, wie schon dargelegt, eine amtsangemessene Alimentation nicht mathematisch exakt berechnet werden: Die Mindestalimentation wird vom absoluten Alimentationsschutz umschlossen, ist aber nicht hinreichend, um eine amtsangemessene Alimentation zu gewähren; zweitens stellen die Parameter der ersten Prüfungsstufe, wie ebenso schon dargelegt, nur Indizien zur Prüfung einer gewährten Alimentation dar: Denn die tatsächlichen Werte eines Jahres liegen erst nach dessen Ende vor, nicht aber bereits im Gesetzgebungsverfahren, das hinsichtlich der Zukunft, für die das im Anschluss zu verabschiedende Besoldungsanpassungsgesetz dann gilt, bestenfalls Prognosen treffen kann: Für 2022 dürften diese 2021 oder früher erstellten Prognosen am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit nur nutzlose Makulatur gewesen sein. Nach 2022 kann die 2022 gewährte Nettoalimentation hingegen anhand der sich dann nicht mehr verändernden gesamtwirtschaftlichen Werte geprüft werden. Auch und gerade das verweist darauf, dass die Mindestalimentation ein Mittel zur Prüfung des amtsangemessenen Gehalts einer gewährten Nettoalimentation ist, aber keines zu dessen Herstellung sein kann.
II. Zur Bemessung der gewährten Netto- und der Mindestalimentation
Die gerade getätigten Darlegungen sind im Blick zu behalten, wenn wir uns nun die Bemessung der gewährten Netto- und der Mindestalimentation anschauen. Denn dabei ist zu beachten, dass beide Bemessungsverfahren – wie dargelegt – Teil der gegebenenfalls vorzunehmenden oder vorgenommenen Prüfung des amtsangemessenen Gehalts, nicht aber Mittel zu dessen Herstellung sein können – und darüber hinaus bedarf es zeitlich jeweils rund zehn Minuten, um beide Bemessungsverfahren zu vollziehen: Das sage ich als jemand, der im Verlauf der letzten eindreiviertel Jahre viele solcher Bemessungen durchgeführt habe und also weiß, wovon ich spreche.
a) Die gewährte Nettoalimentation
Zur Bemessung der gewährten Nettoalimentation muss zunächst die gewährte Bruttobesoldung in der Eingangsstufe der untersten Besoldungsgruppe ermittelt werden: Das Grundgehalt und die Familienzuschläge der anhand eines verheirateten Beamten mit zwei Kindern zu ermittelnden Bruttobesoldung können anhand der jeweiligen Tabellenwerte bemessen werden. Darüber hinaus sind alle weiteren Bezügebestandteile zu beachten und hinzuzuziehen, die allen Beamten der entsprechenden Besoldungsgruppe gewährt werden (vgl. in der aktuellen Entscheidung die Rn. 73): Das sind in der Regel neben den Familienzuschlägen ggf. Sonderzahlungen und das Urlaubsgeld (vgl. ebd., 93). Stellenzulagen sind in der Regel nicht zu berücksichtigen, darüber hinaus ist bei unterjährigen Besoldungsanpassungen eine Spitzausrechnung vorzunehmen (vgl. ebd., Rn. 147 i.V.m. BVerwG, Beschluss vom 22.09.2017 – 2 C 56.16 –, Rn. 175 ff.). Diese Bruttobesoldung ist dem steuerlichen Abzug zuzuführen (vgl. im Folgenden ebd., Rn. 147 f.), wozu der Lohnsteuerrechner des BMF hinreichend ist; dabei sind die aus einer Tabelle mit einem Blick ablesbaren absetzbaren Kosten für die die Beihilfeleistungen ergänzende Kranken- und Pflegeversicherung in Abzug zu bringen (der sog. „BEG-Anteil“). Von der so ermittelten Nettobesoldung sind die von derselben Tabelle wiedergegebenen PKV-Kosten abzuziehen (diese Werte liegen den Ministerien als Mitteilung des PKV-Verbands vor) und am Ende ist noch das gewährte Kindergeld zu addieren. Als Ergebnis liegt die gewährte Nettoalimentation vor: Das ist die ganze Hexerei – eine Ministerialbürokratie, die dafür länger als zehn Minuten benötigte, sollte sich ggf. hinsichtlich des Leistungsprinzips Gedanken machen und ob man nicht in den letzten Jahren wegen der anhaltenden Unteralimentation aller Beamten nicht mehr hinreichend genügend Fachkräfte rekrutieren konnte und kann, die also sicher die Grundrechenarten beherrschen.
b) Die Mindestalimentation
Die Bemessung der Mindestalimentation ist mit einer Ausnahme ebenso rasch zu vollziehen. Zunächst entnimmt man dem Existenzminimumbericht der Bundesregierung die Regelleistung für zwei Erwachsene und für zwei dem Alter nach gewichtete Kinder (vgl. im Folgenden ebd., Rn. 141). Im Anschluss entnimmt man der vorliegenden BfA-Tabelle die beiden Werte des zugrundezulegenden 95 %-Perzentils für die kalten Unterkunftskosten. Danach bemisst man auf Grundlage des vorliegenden Heizspiegels der Beratungsgesellschaft co2online die Heizkosten, indem man den dort vorliegenden Tabellenwert mit der entsprechenden Unterkunftsgröße multipliziert, die von jedem Gesetzgeber i.d.R. in Bezug auf § 10 des Gesetzes über die soziale Wohnraumförderung festgesetzt worden ist. Damit liegen mit Ausnahme der Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie die Sozialtarife alle nötigen Werte vor: Wer zur Bemessung mehr als fünf Minuten benötigt, wird höchstwahrscheinlich einen Umweg über den vorrätigen Kaffeevollautomaten gemacht haben.
Damit bleiben nur noch die gar furchteinflößenden Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe, die nach der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insofern konkretisiert zu beachten sind, als dass sie als sozialhilferechtlicher Grundbedarf über Regelbedarfe hinausreichen können (vgl. im Folgenden ebd., Rn. 64 ff.). Insofern sind hier alle Bedarfe des § 28 SGB II zu berücksichtigen, die über Ausnahmefälle hinausreichen; darüber hinaus gilt dasselbe für die Mehrbedarfe nach § 21 SGB II. Ihre Konkretisierung kann tatsächlich einige Arbeit machen – allerdings zunächst einmal nur, um nachträglich eine gewährte Alimentation auf ihren amtsangemessenen Gehalt hin zu prüfen, nicht aber, um im Gesetzgebungsverfahren eine amtsangemessene Alimentation zu erstellen, für die – wie oben gezeigt – die Mindestalimentation nicht hinreichend wäre. Darüber hinaus sind entsprechende Bemessungen vom Land Berlin bis zum Januar des letzten Jahres (BE-Drs. 18/3285 vom 06.01.2021, Anlage 4b, S. 77) und von Thüringen bis Juni des letzten Jahres vollzogen worden (TH-Drs. 7/3575 vom 23.06.2021, Anlage 8, S. 104). Wenn also andere Besoldungsgesetzgeber sich dazu bislang nicht in der Lage sehen sollten, dann dürfte diese Unfähigkeit irgendwo zu verorten sein – und es ist davon auszugehen, dass sie sich nicht im Bereich der Beamtenschaft identifizieren ließe, dächte ich.
III. Fazit
Zur Bemessung des Grundsicherungsniveaus liegen insofern mit Ausnahme der genannten Kosten der Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie die Sozialtarife alle Werte seit langem vor. Einen realitätsgerechten Überblick über diese Kosten der Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie die Sozialtarife könnte jedes federführende Ministerium innerhalb von vielleicht einen Monat erhalten, indem ein entsprechender Sachbearbeiter an das Thema gesetzt werden würde – und wenn dessen Ergebnis am Ende nicht auf den letzten Cent genau sein sollte, wäre das – anders kann man es nicht sagen – völlig egal: Denn wie dargelegt, muss eine selbst bis in den letzten Cent korrekte Bemessung des Grundsicherungsniveaus und also der sich daraus durch Multiplikation mit dem Faktor 1,15 ergebenden Mindestalimentation nicht hinreichend sein, um eine amtsangemessene Alimentation zu gewährleisten, so wie die Mindestalimentation nicht dazu geeignet ist, eine amtsangemessene Alimentation exakt zu berechnen. Der nicht hinreichende Regelsatz für die entsprechenden Kosten betrug 2021 109,66 €, Berlin ist von 176,55 € ausgegangen, Thüringen von 255,29 €. Da die zu gewährende Nettoalimentation am Ende sowieso recht deutlich über der Mindestalimentation liegen sollte, um nicht in der nachträglichen Prüfung bereits den absoluten Alimentationsschutz zu unterlaufen (s.o.), dürfte eine nach einem Monat erstellte Bemessung sicherlich zu mindestens ausreichenden Ergebnissen führen. Und sofern nun ein Politiker meinte: Das Ergebnis könnte dazu führen, dass aus der Beamtenschaft Klage geführt werden könnte – so könnte man ihn beruhigen: Die fortgesetzte vorsätzlich verfassungsbrüchige Alimentationspraxis dürfte ein deutlich erhöhtes Klageverhalten nach sich ziehen, da in Deutschland die gewährte Nettoalimentation weiterhin ausnahmslos völlig jenseits von Gut und Böse ist.
Das war nun mal wieder länger – aber wer es gelesen hat, wird sich bezüglich des Themas Mindest- und gewährte Nettoalimentation von niemandem mehr Sand in die Augen streuen lassen, sofern das vorher der Fall gewesen sein sollte.