Autor Thema: [Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)  (Read 1487354 times)

micha77

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2925 am: 31.12.2021 10:51 »

Verstehe ich es richtig, dass der VGH Hessen festgestellt hat, dass die Besoldung eines A5 Beamten für das Jahr 2020 9,3 Prozent unter dem Grundsicherungsniveau liegt,  also 90,7 % anstatt mindestens 115 %? Das die Besoldung somit fast 25 Prozent zu niedrig ist, um die 600 Euro netto monatlich?
Selbst mit A10 Stufe 1 erreicht man nicht mal die Mindestalimentation, die eigentlich ein A5 Beamter erhalten müsste?

Und in Randnummer 33 des Urteils gibt das Land Hessen ein Zugeständnis, dass man noch nicht abschließend klären konnte, wie man die Mindestalimentation feststellt?

Oha.

Jep, A5er ca. 8000,-€ zu wenig und A9er ca. 4000,-€ (Eingangsamt in 2020) zu wenig, selbst beim A10er bleiben immernoch 2400,-€ zu wenig hängen. Wenn man folgend davon ausgeht: "Es sei nicht die Absicht des Beklagten, die Besoldung nur so zu gestalten, dass sie gerade einmal den verfassungsrechtlichen Mindestanforderungen genüge." dann lege nochmal 1000,-€ drauf...
Ich bin gespannt, wie sie diese Kuh vom Eis kriegen wollen...die Zahlen sind eindeutig - wenn auch hier und da nicht abschließend - aber daran werden sie (Parlament und Finanzministerium) sich im Groben und Ganzen orientieren müssen.

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2926 am: 31.12.2021 11:22 »
@ shimanu

Das verstehtst Du jeweils richtig - zugleich sollten auch 2020 die vom VGH betrachteten Unterkunftskosten weiterhin eher zu gering bemessen worden sein, wenn auch der Unterschied ist nicht allzu groß sein sollte. Allerdings dürften die vom VGH nur pauschalisiert zu Grunde gelegten Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie die Sozialtarife deutlich zu gering ausfallen, da der VGH keine Handhabe hat, die nötigen realitätsgerechten Kosten zu ermitteln. Das Land hat sich in der aktuellen Gesetzgebung vorsätzlich darum herumgedrückt, die Mindestalimentation zu bemessen und dafür dann auch entsprechend realitätsgerechte Kosten zu ermitteln (vgl. die in vielfacher Hinsicht ungenügende HE-Drs. 20/6690 v. 09.11.2021, S. 10), wozu es verfassungsrechtlich verpflichtet gewesen wäre. Das am 08.12.2021 verabschiedete Gesetz hätte in dieser Form weder zur Abstimmung gestellt noch verabschiedet worden dürfen, da es sowohl materiell als auch prozedural nicht mit der Verfassungs in Einklang zu bringen ist. Als Folge lässt sich heute nichts zu realitätsgerechten Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie die Sozialtarife in Hessen sagen.

Der VGH hat für 2020 pauschalisierten Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie für die Sozialtarife in Höhe von 1.080,- € angesetzt, eben weil ihm hier keine realitätsgerechten Werte zur Verfügung standen (vgl. die Rn. 77 in der Entscheidung; vgl. zum grundsätzlich nicht realitätsgerechten Charakter der Pauschalisierungen in Rn. 64-71 sowie 142 f. der aktuellen BVerfG-Entscheidung). Thüringen hat unlängst diesbezüglich realitätsgerechtere Werte ausgeworfen (die Werte dürften mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ebenfalls noch zu gering sein, wenn auch nicht mehr in der deutlichen Höhe der hessischen Verhältnisse), die allerdings nicht so ohne Weiteres auf Hessen zu übertragen wären, jedoch die Dimensionen zeigen, in denen die pauschalisierten Werte zu gering sind. Für das Jahr 2020 liegen die Thüringer Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe sowie für die Sozialtarife bei rund 3.100,- € (vgl. TH-Drs. 7/3575 v. 23.06.2021, Anlage 8, S. 104; https://beteiligtentransparenzdokumentation.thueringer-landtag.de/7-3575/), also um rund 2.000,- höher als die pauschalisierten Werte. Auch deshalb wäre es verfassungsrechtlich wenig sinnvoll, sich mathematisierend an der Mindestalimentation zur Bemessung der zu gewährenden Nettoalimentation zu orientieren. Die gewährte Nettoalimentation sollte am Ende um einiges oberhalb der Mindestalimentation liegen, um die Gewähr zu bieten, dass sie am Ende verfassungsrechtlich Bestand haben sollte.

@ micha77

Wie vorhin schon geschrieben, wäre eine entsprechende Regelung nicht mit der Verfassung in Einklang zu bringen:

1. es fehlt ein sachlicher Grund für eine entsprechende gesetzliche Regelung. Der einzige Grund wäre, Personalkosten sparen zu wollen. Diese Motivation ist aber sachlich nicht hinreichend.

2. Hessen hat mit seinem Zweiten Dienstmodernisierunfsgesetz die Besoldungsgruppe A 3 zum 01.03.2014 abgeschafft und die entsprechenden Beamten nach A 4 übergeleitet; entsprechend wurden diese zum 01.07.2016 nach A 5 übergeleitet und die Besoldungsgruppe A 4 abgeschafft. Es ist bereits fraglich, ob diese Regelungen gleichheitsgerecht vollzogen worden sind, da den entsprechenden Beamten ein materiell höherwertiges Gut gewährt wurde als allen anderen Beamten. Es ist darüber hinaus fraglich, ob diese Regelung im Einklang mit dem Leistungsprinzip vollzogen worden ist, da sich die Leistungsfähigkeit der betreffenden Beamten durch die formale Überleitung konkret nicht erhöht hat, sie aber nun in ihrem Amt mit vormals formal leistungsfähigeren Beamten gleichgestellt wurden. Schließlich wäre zu fragen, inwiefern diese Regelung ggf. das systeminterne Abstandsgebot verletzte, da die Besoldungsordnung A durch den Wegfall zweier Besoldungsgruppen gestaucht wurde, wodurch sich das bis dahin geltende Verhältnis der Alimentation der vormals untersten Besoldungsgruppe zu allen anderen Besoldungsgruppen verändert hat.

3. Die also mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht verfassungskonforme Regelung der aktuellen Besoldungsordnung würde durch Deine Vorschläge noch weiter auf die Spitze getrieben werden. Darüber hinaus können Familienzuschläge nicht ohne Weiteres - also willkürlich - angehoben werden, um so die Mindestalimentation zu erfüllen. Vielmehr bedürfte es hier ebenfalls jeweils eines sachlichen Grundes, der aber offensichtlich nicht gegeben ist, da es nur darum ginge, Personalkosten zu sparen. Dieser sachliche Grund müsste aufzeigen, dass es um konkrete Unterhaltsbedarfe konkreter Besoldungsgruppen ginge und müsste dabei ebenfalls gleichheitsgerecht vollzogen werden und den Forderungen des Leistungsprinzips und des systeminternen Abstandsgebots Genüge tun.

Der langen Rede kurzer Sinn: Es geht nicht darum, ob eine zu gewährende Nettoalimentation in Abhängigkeit von der Mindestalimentation irgendwie "reichte" (diese Sichtweise könnten die Gerichte einnehmen, um festzustellen, ob die Alimentation evident unzureichend sei oder nicht). Der Besoldungsgesetzgeber muss im Sinne seines sich aus Art. 33 Abs. 5 GG ergebenden Gestaltungsauftrags eine in der Regel für alle Beamte amtsangemessene Alimentation gewährleisten und muss dazu jede seiner hierfür von ihm vorgenommene Entscheidung prozeduralisieren, also jeweils mit mindestens einem sachlichen Grund rechtssicher machen. In diesem Sinne führt das Bundesverfassungsgericht in seiner aktuellen Entscheidungerneut in aller Deutlichkeit aus: "Die Prozeduralisierung zielt auf die Herstellung von Entscheidungen und nicht auf ihre Darstellung, das heißt nachträgliche Begründung" (Rn. 97). Welches sollten jeweils die sachlichen Gründe für die von Dir genannten Entscheidungen sein, wie sollten sie also sachlich hergestellt werden?

dieblume

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2927 am: 05.01.2022 08:45 »
Hallo,

ich lese jetzt schon eine Weile mit und danke hier für den regen Austausch. Wenn ich das richtig verstehe, geht es im Kern des BverfG-Urteils darum, dass die Besoldung einer „Beamtenfamilie“ das Grundsicherungsniveau nicht unterschreiten darf. In der unteren Besoldungsgruppe soll der Abstand 15% zur Grundsicherung betragen.

Die Berechnung des VGH kommt mir da reichlich ungenügend vor und das völlig unabhängig von den problematischen Unterkunftskosten. Es muss doch darum gehen, dass der Beamte unabhängig vom Status keinen Grundsicherungsanspruch haben kann.

Hier werden Äpfel mit Birnen verglichen. Es sollte doch das gesamte Haushaltsnetto-Einkommen verglichen werden, was einer „Beamtenfamilie“ und einer „Aufstockerfamilie“ zur Verfügung stehen. Während sich das beim Kindergeld noch aufhebt, gilt das für das Erwerbseinkommen nicht. Gemäß § 11b SGB II wird das Erwerbseinkommen beispielsweise um Freibeträge bereinigt (die ersten 100,00€ ganz, >100,00€ bis 1000,00€: 20%, >1000,00 bis 1500,00€: 10%), also monatlich 330,00€. „Es soll sich ja auch lohnen zu arbeiten.“ Von Versicherungspauschalen oder Altersvorsorge möchte hier gar nicht erst anfangen. Gilt dies für Beamte nicht?

Nur die Bedarfsseiten zu vergleichen ist aus meiner Sicht viel zu kurz gegriffen. Davon ausgehend, dass die Unterkunftskosten korrekt wären und die Beamtenfamilie kein Vermögen hätte, liegt der A10 Stufe 1 Beamte aus Rn. 93 (letzte Tabelle) nicht 8,03% über Grundsicherungsniveau, sondern darunter (33.650,67€ + 12 x 330,00€ Freibetrag). Um das nochmal klar zu sagen, dieser Beamte bekäme nur deswegen keine Stütze, weil er verbeamtet ist. Das erscheint mir mit den Grundzügen des Beamtentums nicht vereinbar.


Auf der anderen Seite habe ich auch meine Schwierigkeiten, die 4-köpfige Familie als Maßstab zu nehmen. Als Besoldungsgesetzgeber würde ich mich trotzdem sputen, hier die Wogen zu glätten. Die nächste Sozialreform steht mit dem Bürgergeld an. Egal, wie die konkret aussehen wird, weniger wird es wohl nicht…

VG

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2928 am: 05.01.2022 14:31 »
Der VGH folgt insgesamt - wenn auch im Hinblick auf die Unterkunftskosten wie dargelegt fehlerhaft - den Direktiven des Bundesverfassungsgerichts. Hierbei liegt Deinerseits offensichtlich ein falsches Verständnis der judikativen Bedeutung der Mindestalimentation vor, was aber nicht auf dem ersten Blick zu erkennen ist.

Jene Mindestalimentation hat in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zwei Bedeutungen:

1. Sie markiert verfassungsrechtlich die absolute Untergrenze einer amtsangemessenen Alimentation, jenseits derer keine Einschnitte in diese mehr möglich sind, da das Maß der Untergrenze die 115-prozentige Nettovergleichsschwelle zum Grundsicherungsniveau darstellt. Mit den 115 % ist ein absoluter Normbestandschutz gegeben, der es unmöglich macht, jene Schwelle zu unterschreiten. Oberhalb der 115 % ist nur ein realtiver Normbestandschutz gegeben.

2. Sie dient als indizieller Prüfmaßstab, um eine evident unzureichende Nettoalimentation als solche judikativ bemessen zu können. Überschreitet die Nettoalimentation jene 115 % zum Grundsicherungsniveau, heißt das nicht, dass die Besoldung mit der Verfassung im Einklang steht, sondern nur, dass dieser Parameter indiziell nicht dafür spricht, dass die Besoldung als solche verfassungswidrig sei.

Ihre judikative Bedeutung ermöglicht es dem Besoldungsgesetzgeber legislativ nicht, mit ihr das amtsangemessene Maß einer also noch verfassungskonformen Alimentation exakt zu bemessen. In diesem Sinne - also ihren gerade unter der Nr. 2 betrachteten Charakter betonend - hebt das Bundesverfassungsgericht entsprechend hervor, dass sie wie alle Parameter der ersten Prüfungsstufe im Sinne ihres jeweils rein indiziellen Charakters nur einen Orientierungsrahmen bildet und weiter: "Die Parameter [der ersten Prüfungsstufe] sind weder dazu bestimmt noch geeignet, aus ihnen mit mathematischer Exaktheit eine Aussage darüber abzuleiten, welcher Betrag für eine verfassungsmäßige Besoldung erforderlich ist. Ein solches Verständnis würde die methodische Zielrichtung der Besoldungsrechtsprechung des Senats verkennen." (Rn. 30)

Wenn also die Besoldungsgesetzgeber die Mindestalimentation entsprechend nicht im Sinne der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung verwenden und sie mathematisierend als Mindestmaß verwenden, dürfen sie sich nicht wundern, wenn ein solches Ergebnis zukünftig keinen Bestand vor dem Bundesverfassungsgericht haben könnte. In diesem Sinne hat unlängst unter anderem Battis hervorgehoben,

"dass der gerichtliche Kontrollmaßstab für die Überprüfung einer amtsange-
messenen Alimentation nicht deckungsgleich ist mit dem gesetzgeberischen Maßstab
für  die  Ausgestaltung  derselben.  Das  Bundesverfassungsgericht  beschränkt  sich
auf  die Prüfung  der  evidenten Sachwidrigkeit,  vom Gesetzgeber wird hingegen  von
Verfassungs wegen eine sachgerechte Bestimmung der amtsangemessenen Alimen-
tation  verlangt." (S. 4)

ChRosFw

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2929 am: 05.01.2022 14:40 »
Die Gedanken zur Freistellung bei Aufstockung sind interessant. Anhand der Berechnungen des BVerfG sieht man auch, dass das „tatsächliche“ Existenzminimum, das zur Überprüfung des Mindestabstands ermittelt wird, über dem sächlichen Existenzminimum liegt. Gleichzeitig fordert das BVerG, dass das einkommenssteuerliche Existenzminimum als Ausfluss des subjektiven Nettoprinzips nicht geringer sein darf als das sozialrechtlich definierte sächliche Existenzminimum. Allerdings sind insoweit auch noch weitere Steuerabzüge zu berücksichtigen.

Spannend dürfte der Fall sein, wenn das tatsächlich errechnete Existenzminimum, hierbei dürfte vor allem der Punkt Wohnkosten spannend werden, unter Berücksichtigung der Freistellung von Erwerbseinkommen über dem steuerlichen Existenzminimum liegt. Aber das sind nur Gedanken…

Zur 4-Personen-Familie: Es geht darum, dass der Beamte eine für sich und seine Familie amtsangemessene und ausreichende Alimentation erhält. Ohne die ursprüngliche Herleitung zu kennen, macht dies m.E. Sinn und hieraus ergibt sich auch das Erfordernis von Zuschlägen für weitere Kinder. Der Beamte ist nämlich sowohl für seinen Ehepartner als auch seine Kinder unterhaltspflichtig. Diese Pflicht besteht unabhängig davon, ob der Ehepartner für seinen eigenen Unterhalt sorgen kann. Grundsicherung kann er aufgrund seines Status nicht beantragen. Hier liegt eben der Unterschied zwischen Lohn und Alimentation. Die Konsequenz wäre übrigens bei einem Nichtbeamten die Gleiche: Kann ein Nichtbeamter seiner Unterhaltspflicht nicht nachkommen, so müsste aufgrund der Unterhaltspflicht Grundsicherung beantragt werden. In beiden Fällen, hätte der Staat einzustehen.

Führt man sich das vor Augen, so stellt man leider traurigerweise fest, dass es in unserem Land eine große Zahl an Menschen gibt, die von ihrer täglichen Arbeit nicht leben können.

WasDennNun

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2930 am: 05.01.2022 15:07 »
Führt man sich das vor Augen, so stellt man leider traurigerweise fest, dass es in unserem Land eine große Zahl an Menschen gibt, die von ihrer täglichen Arbeit nicht leben können.
Warum sollte man nicht von ~ 2100€ Brutto (Mindestlohn) leben können.
Du meinst eher, dass es eine große Zahl an Menschen gibt, die von ihrer täglichen Arbeit sich ihre familiäre Situation nicht leisten können.
Und das der Staat die jungen Beamten mit Familie absolut ins Aus drückt, ohne sich zu schämen.

ChRosFw

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2931 am: 05.01.2022 16:37 »
Na ja.

Gehen wir mal von einer Großstadt aus:

2100 brutto entsprechen ca. 1480 netto.

446 Regelbedarf
500 Kaltmiete für angemessene 50qm Wohnung
100 Nebenkosten
70 Heizkosten

Sind auch schon 1136. Nebenbei noch ein 450 Euro-Job zur Aufstockung,
macht zusätzlich 170. Insgesamt 1306 Euro bei 37,5 Stunden im Monat.

Falls man eine Familie gründen möchte, gibt es den Rest on top plus weitere
Möglichkeit der Aufstockung.

In Anbetracht dessen, dass derjenige, der für 2100 brutto arbeitet später auch
nur die Grundrente beziehen wird, sind meine Erwägungen ja wohl nicht abwegig.
Sie zeigen nämlich, das man als Alleinlebender mit dem von Ihnen zugrunde gelegten
Gehalt nur unwesentlich mehr zum „Leben“ hat, als ein Grundleistungsempfänger.
Je nachdem wie sich die Wohnkosten gestalten, steht einem bei 2100 Euro brutto rein
tatsächlich kein einziger Euro mehr zur Verfügung. Insoweit bewegt man sich bereits je
nach Wohnlage bei einer Vollzeittätigkeit auf Grundsicherungsniveau.

Das der Staat unabhängig davon ob man Beamter, Arbeitnehmer etc. ist, solche Zustände toleriert,
ist schon höchst diskussionswürdig. Je nach PKV ist es da mit dem Abstand für einen Beamten im Einstiegsamt auch nicht weit her.

Nun zur familiären Situation:

Es steht allen Menschen frei, eine Familie zu gründen, obwohl sie es sich nicht leisten können. Sie können dann nämlich Grundsicherung beantragen, soweit sie den Unterhalt  ihrer Familie nicht decken können. Und weniger arbeiten. Ob das zum Selbstbildnis passt, muss jeder für sich entscheiden.

Das der Staat für Grundsicherungsempfänger und Beamte einstandspflichtig ist, ergibt sich für die einen daraus, dass wir in einem Sozialstaat leben und für die anderen daraus, das ein besonderes Treueverhältnis besteht. Gründe für eine Ungleichbehandlung erschließen sich mir dabei nicht. Da der Beamte sich verpflichtet, sich mit seiner ganzen Kraft seiner Tätigkeit zu widmen, erschließt sich mir allerdings auch kein Grund für eine Gleichbehandlung. Dass der Staat seine Bediensteten in Relation zu Menschen setzt, die keiner Tätigkeit nachgehen, offenbart Einiges.

Anhand der Wohnkosten usw. zeigt sich aber auch, dass die steuerliche Freistellung des Existenzminimums für Familien anscheinend nicht ausreicht, um hier eine „Gleichbehandlung“ zwischen denjenigen die ihre Familie selbst unterhalten und denen, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen, zu gewährleisten.

Man liest hier immer etwas von Fertilitätsprinzip… Als ob man mehr Kinder bekommt, weil es dann mehr Geld gibt. Als jemand aus einem Vielkinderhaushalt kann ich sagen, die Grenzen werden den meisten bereits an ganz anderen Punkten aufgezeigt.




LizzyB

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2932 am: 06.01.2022 17:10 »
Wie kommt man denn auf die Illustren 2100 Euro brutto Mindestlohn? 2021 lag der bei 9,32 € und 2022 derzeit bei 10,45 €. Sprich bei einer 40 Stunden Woche 1810 € brutto. Wann die Erhöhung auf 12 € kommt ist noch nicht beschlossen.

LizzyB

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2933 am: 06.01.2022 19:27 »
Und btw. auch für die Berechnung interessant: "In Haushalten an der Armutsgrenze, die maximal 60 Prozent des mittleren (Median-) Einkommens aller Großstädter zur Verfügung haben, beträgt die Mietbelastung im Mittel rund 46 Prozent."
500€ für 50 qm sind in Großstädten eher unrealistisch. Um die 830 € warm passt da eher zur Realität und zur o.g. Statistik der Böcklerstiftung.
https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-33590.htm
Um die Frage zu beantworten, warum man von Mindestlohn nicht leben kann oder sogar schlechter lebt als von der Grundsicherung.

Und Danke an SwenTanortsch, der das Thema hier sehr sehr lesenswert aufbereitet!

WasDennNun

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2934 am: 07.01.2022 08:54 »
Wie kommt man denn auf die Illustren 2100 Euro brutto Mindestlohn? 2021 lag der bei 9,32 € und 2022 derzeit bei 10,45 €. Sprich bei einer 40 Stunden Woche 1810 € brutto. Wann die Erhöhung auf 12 € kommt ist noch nicht beschlossen.
soso 40 Stunden, Teilzeit oder was?
Ich gehe natürlich von der maximal erlaubten wöchentlichen Arbeitszeit von 48 h aus. Genaugenommen also 2172€ Brutto

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2935 am: 07.01.2022 09:32 »
Danke für die Worte, LizzyB. Wie im Hinblick auf den Inhalt meiner Beiträge zu erwarten, erachte ich ähnlich wie verschiedene der hier in den letzten Tagen geschriebenen Beiträge die vielfach tatsächlich erfolgende Entlohnung im Niedriglohnsektor als für den Einzelnen und die ggf. vorhandenen Familien unwürdig und wiederkehrend auch als sittenwidrig. Andererseits spielt das Thema im Hinblick auf die Beamtenalimentation keine Rolle, der formal nicht Teil der (vergleichenden) gerichtlichen Betrachtung ist, da, wie die hier in den letzten Tagen angestellten Berechnungen überblickmäßig zeigen, der Niedriglohnsektor auf der zweiten Prüfungsstufe der vom Bundesverfassungsgericht vorgegebenen Prüfmethodik nicht Teil des methodischen Vergleichsverfahrens ist. Nicht umsonst liegt der Grundgehaltssatz beispielsweise in Mecklenburg-Vorpommern in der ersten Erfahrungsstufe der untersten Besoldungsgruppe - Mecklenburg-Vorpommern kennt als einziges Land noch die Besoldungsgruppe A 2 - bei 2.119,85 €. Er überschreitet dabei den Niedriglohnsektor deutlich, sodass dieser auf der zweiten Prüfungsstufe zur Gegenüberstellungen mit Vergleichsgruppen außerhalb des öffentlichen Dienstes nicht taugt.

Umso paradoxer erscheint es dann auf dem ersten Blick, dass allerdings dennoch vielfach von einer Alimentation der unteren Besoldungsgruppen unterhalb des Grundsicherungsniveaus auszugehen ist. Dabei ist jedoch unter anderem zu beachten, dass sowohl die monetäre als auch die rechtliche Lage im Hinblick auf das Grundsicherungsniveau insgesamt zu komplex ist, als dass sie hier - denke ich - präzise diskutiert werden könnte. Denn dabei wäre sozialrechtlich unter anderem zu beachten, dass der der staatlichen Grundsicherung Unterworfene ein Recht auf die Beachtung seiner bedarfsgerechten Kosten hat, was unter anderem zur Komplexität der entsprechenden Rechtsprechung beiträgt. Die staatlichen Grundsicherungsleistungen haben sich nach dem Grundsatz der Individualisierung nach der Besonderheit des Einzelfalls zu richten, was die Sozialgerichte in ihrer Rechtsprechung zu beachten haben. Dahingegen prüfen die Verwaltungsgerichte grundsätzlich nur, ob die vom Dienstherr gewährte Nettoalimentation am Ende evident unzureichend ist. Es kommt also in der Regel nicht zu einer Betrachtung des jeweiligen Einzelfalls im Besonderen. Das ist einer der Gründe, weshalb das Bundesverfassungsgericht in seiner diesbezüglich mittlerweile gefestigen Rechtsprechung im Hinblick auf das Mindestabstandsgebot hervorhebt, dass bei der Bemessung der Besoldung der qualitative Unterschied zwischen der Grundsicherung, die als staatliche Sozialleistung den Lebensunterhalt von Arbeitsuchenden und ihren Familien sicherstellt, und dem Unterhalt, der erwerbstätigen Beamten und Richtern geschuldet ist, hinreichend deutlich werden muss (vgl. in der aktuellen Entscheidung die Rn. 47). Und weiter: "Mangels gegenteiliger Anhaltspunkte ist nach wie vor davon auszugehen, dass die Besoldungsgesetzgeber das Grundgehalt von vornherein so bemessen, dass – zusammen mit den Familienzuschlägen für den Ehepartner und die ersten beiden Kinder – eine bis zu vierköpfige Familie amtsangemessen unterhalten werden kann, so dass es einer gesonderten Prüfung der Besoldung mit Blick auf die Kinderzahl erst ab dem dritten Kind bedarf" (ebd.).

Die gewährte Nettoalimentation kann also sowohl unterhalb der anhand einer vierköpfigen Familie bemessenen Mindestalimentation und sogar unterhalb des der Mindestalimentation zu Grunde liegenden individualisierten Grundsicherungsniveaus liegen - in beiden Fällen ist von einer evident unzureichenden Alimentation auszugehen -, obgleich die einzelnen Besoldungsbestandteile in Summe so hoch sind, dass der Vergleichsgegenstand auf der zweiten Prüfungsstufe nicht der Niedriglohnsektor sein kann. Hier zeigt sich eine der Konsequenzen, die sich aus dem qualitativen Unterschied zwischen beiden Rechtsgebieten - dem Sozialrecht auf der einen Seite und dem Besoldungsrecht als Spezialfall des Beamtenrechts auf der anderen - ergibt.

Eine bald zu stellende Frage wird dahingegen eventuell eher sein, ob die bislang tradierte Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts, dass gegenteilige Anhaltspunkte nach wie vor ohne Weiteres als nicht gegeben vorausgesetzt werden könnten, noch als realitätsgerecht aufrechterhalten werden kann. Denn spätestens nach der aktuellen Entscheidung kommen die Gerichte nun zu Ergebnissen - bislang für Hamburg, Schleswig-Holstein und Hessen, wo seit dem letzten Sommer die neuen bundesverfasssungsgerichtlichen Direktiven durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit angewendet worden sind -, die offensichtlich flächendeckend gegenteilige Anhaltspunkte über zugleich lange Zeiträume aufzeigen. Sofern also diese bislang in ständiger Besoldungsrechtsprechung zu Grunde gelegte Ansicht vom Bundesverfassungsgericht nicht mehr aufrechterhalten werden würde, dürfte das eventuell einschneidende Auswirkungen für ebenjene Rechtsprechung nach sich ziehen müssen.

ChRosFw

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2936 am: 07.01.2022 12:22 »
Isoliert auf die Rechtsprechung des BVerG bezogen sind die Ausführungen zu den maßgeblichen Vergleichsgrössen im Rahmen der Stufenprüfung vollkommen richtig.

Mir ging es darum, dass einige Kommentatoren hier - salopp gesagt - anscheinend eine Debatte darüber führen möchten, welche Form von Familie sich ein Beamter leisten kann und darf, oder ob eine Versorgung der Familie allein über die Familienzuschläge erfolgen kann und deshalb der alleinlebende Beamte ggf. doch näher an die Mindestalimentation rücken dürfte.

Unabhängig davon, dass dies rein besoldungsrechtlich bereits problematisch ist, würde sich dann die Frage stellen, wie der Staat dann noch Personal gewinnen will.

Unabhängig von der Rechtsprechung des BVerfG und der Komplexität der von Swen genannten weiteren Rechtsfelder halte ich einen Versuch der Systematisierung nicht für vollkommen verkehrt. Schließlich erschleicht einem immer wieder das Gefühl, dass hier Gruppen gegeneinander ausgespielt werden. Dies ist vor allem immer auch dann möglich, wenn eine isolierte Betrachtungsweise zugrunde gelegt wird.

Bezogen auf die Rechtsmaterie kommt es hier nämlich  zur Überschneidung verschiedener Rechtsgebiete. Auch,  wenn es aus Beamtensicht hier hauptsächlich um die verfassungsrechtlichen Grundlagen des Berufsbeamtentums geht, so ist die Verfassung doch stets in ihrer Gesamtheit zu betrachten.

Deshalb habe ich z.B. auch auf die Rechtsprechung des BVerG Bezug genommen, nach der das steuerliche Existenzminimum nicht unter dem sächlichen Existenzminimum liegen darf. Allein hieran kann man erkennen, dass eine isolierte Betrachtungsweise eines Rechtsgebietes verkürzt, und dass es Anlass gibt, das Thema durchaus z.B.  aus dem Blickpunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes zu betrachten.

Wie Swen zutreffend ausführt, geht es im Sozialrecht um die bedarfsgerechte Deckung der Kosten. Insoweit stellt sich die Frage, ob es hinsichtlich oben genannter Rechtsprechung mittlerweile nicht zur erheblichen Verwerfungen in der Praxis kommt. In vielen Fällen dürfte das sächliche Existenzminimum nicht mehr dem tatsächlichen Existenzminimum entsprechen.

Unabhängig der Frage, welche Besoldung letztlich amtsangemessen ist, geht es auch darum, dass diese verfassungsrechtliche Besoldung wünschenswerterweise auch auf Akzeptanz stoßen sollte. Schließlich ist es Sinn einer Verfassung die unterschiedlichen Interessen miteinander abzuwägen und in Einklang zu bringen.

Kongruenz würde hier Abhilfe schaffen:

Der Grundsicherungsempfänger arbeitet nicht und erhält Deckung seines „tatsächlichen“ Bedarfs.
Der Arbeitnehmer arbeitet und wird steuerlich aber nicht in Höhe des „tatsächlichen“, sondern nur des steuerlichen Existenzminimums freigestellt.
Der Beamte dient, erhält möglicherweise eine Besoldung im Mindestabstand irgendwo zwischen sächlichem und „tatsächlichem“ Existenzminimum, wird steuerlich in Höhe des steuerlichen Existenzminimums freigestellt.

Ohne die Materie in ihrer Tiefe zu kennen, da passt etwas nicht. Und das spiegelt sich auch stimmungsmässig in der gesellschaftlichen Diskussion wieder.




 
« Last Edit: 07.01.2022 12:40 von ChRosFw »

SwenTanortsch

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« Antwort #2937 am: 07.01.2022 14:00 »
Ich denke, das sind kluge Gedanken, die sicherlich einen Teil des leidenden Vertrauens in politische Entscheidungsträger - sei es im Hinblick auf Institutionen, sei es in personeller Hinsicht - mit erklären. Die deutsche Sozialdemokratie wird nun, da sie erneut den Kanzler stellt und das Leitmotto des Wahlkampfs wie auch des eigenen Regierungsauftrags und des gemeinsam mit den weiteren Teilen der Regierung beschlossenen Koaltionsvertrags dem "Respekt" gewidmet hat, liefern müssen - dass dieser "Respekt" in nächster Zeit seinen Niederschlag in der Besoldung der Bundesbeamten finden wird, da habe ich weiterhin starken Zweifel. Und wenn der angekündigte "Respekt" in vielen anderen Bereichen gleichfalls fehlen wird - die Artikulation also weiterhin nur ideologisch gefärbte Sprechblasen und Abziehbilder zur Verkleisterung des Diskurses produzierte, aus denen kein wirkliches politisches Handeln resultierte -, dann dürfte sich die Sozialdemokratie irgendwann tatsächlich selbst abschaffen.

HansGeorg

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #2938 am: 07.01.2022 16:04 »
Ich möchte einen kurzen Hinweis geben. Das Forum war ja in der letzten Woche knapp eine Woche ausgefallen. Sollte dieses Forum einmal ganz offline gehen ist alles wertvolle von Swen verloren. Ich empfehle jedem sich die Druckansicht dieses Forums aufzurufen und diese als PDF zu speichern. Sollte es einmal zur individuellen Klage kommen hat man somit wenigstens ein bisschen Goldstaub mit dem man den Anwalt seiner Wahl füttern kann.

SwenTanortsch

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« Antwort #2939 am: 07.01.2022 17:44 »
Na, ich befürchte, das jegliche Anwälte schreiend weglaufen, wenn man ihnen meine nicht selten kilometerlangen Texte mit der Bitte unter die Nase riebe, daraus mal eine ordentliche Klageschrift zu formulieren. Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass die Gewerkschaften und Verbände beizeiten weitgehend standardisierte Vorlagen für eine jeweilige Klageschrift in den entsprechenden Ländern vollzögen. Das dürfte zugleich auch im Sinne der Gerichte sein, die dann die Entscheidungsbegründungen über weite Strecken standardisieren könnten. Anders werden sie in nicht wenigen Ländern der Sache kaum Herr werden, wenn wie jetzt in Thüringen anstehend die Widersprüche nicht mehr ruhend gestellt werden.