Autor Thema: [Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)  (Read 3968878 times)

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7425 am: 15.04.2025 14:29 »
@lotsch:
Ich verstehe deinen Ärger auch nur zu gut. Irgendwo muss man aber auch mal die Kirche im Dorf lassen:

Ich treffe immer wieder einen Freund, der zur Rüstungsindustrie gewechselt ist. Der lacht alle Beamten aus. Er war A 11er und ordnet sein Gehalt mittlerweile der B-Besoldung zu, und arbeitet wirklich nicht viel.

Dieser Freund lacht dann auch über 99% aller anderen Berufsgruppen, denn er dürfte damit zu den Top 3-5%-Verdienern in Deutschland gehören. Dass sowas mit wenig Arbeit möglich ist, ist dann eher kein Problem des Beamtentums, sondern sollte seinem Arbeitgeber zu denken geben.

Auch als A11 wäre er wohl in den Top-15% was den bundesweiten Verdienst angeht.

Wie gesagt, ich verstehe die Wut darüber wie das alles abläuft und ich verstehe auch, dass wir bei verfassungsgemäßer Besoldung alle mehr im Geldbeutel hätten. Bei A11 (ohne jetzt deine Besoldungsgruppe zu kennen) aufgrund der Höhe des Gehalts zu jammern halte ich aber für den falschen Weg.....bzw. verkennt die Realität. Der Ärger sollte dann doch eher an anderen Stellen ansetzen.

Wenn ich den Ärger, die Wut oder Enttäuschung nicht weniger der hier regelmäßig Schreibenden richtig verstehe, Zugroaster (das Folgende muss nicht richtig sein, ich halte es aber für wahrscheinlich), dann entzünden sie sich vor allem an der Unaufrichtigkeit, mit der sie von ihrem Dienstherrn behandelt werden, wobei die monetäre Ebene davon sicherlich nicht zu trennen ist. Sie beziehen sich ebenfalls bei nicht wenigen darauf, dass der Zweite Senat seit mittlerweile fünf Jahren ebenfalls keine weitere Entscheidungen gefällt hat. Und sie dürften sich auch darauf beziehen, dass sich nicht wenige in ihren grundrechtgleichen Individualrechten alleingelassen fühlen - diese Entwertungserfahrungen sind nach dem, was ich wahrnehme (hier und auch an anderen Stellen), eine starke Triebfeder dafür, dass wir gesamtgesellschaftlich in einer nicht geringen Krise sind.

Dass dabei das reale Besoldungsniveau der bundesdeutschen Bediensteten seit Jahr und Tag immer weiter gegenüber der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse abgesenkt wird, kann zugleich nicht ausgeklammert werden, da die von Dir genannten Zahlen sich vor allem auf das Einkommen aus Lohnarbeit bezieht. Nicht geringe Teile der Bevölkerung beziehen ihr Einkommen aber nicht mehr überwiegend aus Lohnarbeit bzw. verfügen über weitere Einkünfte, die nicht aus Lohnarbeit resultieren, sodass Verdienststatistiken die tatsächliche Realität der Einkünfte nur noch bedingt so wiedergeben dürften, dass daraus ein sachgerechter Überblick über die Vermögensverhältnisse in Deutschland möglich ist, vermute ich, ohne dass ich diese Vermutung hinreichend begründen oder gar beweisen könnte.

Dann verstehen wir die Wut der Leute hier richtig - und die Art und Weise wie man behandelt wird macht mich auch fassungslos. Hier überhaupt kein Widerspruch von mir, im Gegenteil.

Es bringt einen nur auch nicht weiter, die A11-Besoldung in der Form abzutun, dass man hier für Spitzenarbeit am Hungertuch nagen muss. Und natürlich kann ich Lohnarbeit nur mit Lohnarbeit vergleichen - hätte aber natürlich anhand des Bezugs auf Arbeitnehmer präziser formulieren müssen, solltest du das damit angeprangert haben.

Worauf ich letztlich hinaus will ist, dass es ab einer gewissen Besoldungsgruppe (die Grenze möchte ich hier nicht ziehen) zwar immer noch richtig ist, sich komplett vera**** und hintergangen zu fühlen. Die Karte des wahnsinnig schlecht bezahlten Beamten sollte man dann aber vielleicht nicht mehr ziehen. Das fühlt sich in meinen Augen dann schon irgendwann leicht pervers an. Ich würde mich zum Beispiel hüten zu behaupten, ich wäre schlecht bezahlt. Allerdings habe ich kein Problem damit anzuprangern, wie unfair die ganze Besoldungsgeschichte (von ganz unten bis ganz oben) praktiziert wird.

Ich finde das, was Du schreibst - wie ich auch das, was Du zuvor geschrieben hast - schlüssig und nachvollziehbar und wollte auch nichts, was Du schreibst, anprangern. Ich finde es aber ebenfalls schlüssig und nachvollziehbar, dass bspw. Bastel nun den von ihm gemachten Vergleich mit Frisören macht, auch wenn ich diesen Vergleich ebenfalls nicht teile und Bastel ihn ja auch in seinem gerade erfolgten Beitrag dahingehend klargestellt hat, wie er ihn meint: nämlich dass - wie das auch das Bundesverfassungsgericht auf der zweiten Prüfungsstufe vollzieht - gleiche Leistungsgruppen miteinander verglichen werden. Aber - wenn ich es richtig sehe - darum geht es vielfach hier bei uns im Forum nicht, da wir alle ob unserer unterschiedlichen Werte und Normen unterschiedliche Vergleichsmaßstäbe anwenden und das ist auch gut so.

Würde man den Vergleich zwischen dem Verdienst eines Frisörs, der nach seiner Ausbildungszeit als Geselle im Angestelltenverhältnis arbeitet, und einem nach einem akademischen Abschluss im höheren Dienst in der Besoldungsgruppe A 11 besoldeten Bediensteten vor - sagen wir - fünfzig Jahren anstellen, dann würden wir feststellen, dass der betreffende (alterslose) Frisörgeselle, was seinen realen Verdienst betrifft, offensichtlich nicht wenig aufgeholt hat, während das - um es so auszudrücken - für den (alterlos) in der Besoldungsgruppe A 11 besoldeten Bediensteten nicht gilt, d.h. die Schere zwischen den beiden Einkünften ist deutlich geringer geworden, s. die Beispiele, die BVerfGBeliever gerade genannt hat. Entsprechend kann sich der Bedienstete fragen, ob sich sein Dienst im Sinne der Losung, wonach sich "Arbeit wieder lohnen" müsse (und ich subsummiere jetzt hier mal Dienst unter diesem Slogan, auch wenn er nichts mit Arbeit zu tun hat), wirklich hinreichend lohne. Entsprechend nützt es ihm wenig, ihm zu sagen dass er doch wirklich weit überdurchschnittlich besoldet werde, das unabhängig von der damit verbundenen Entwertungserfahrung.

Würde man hingegen den heutigen Frisörgesellen die These, ein nach A 11 besoldeter Bediensteter würde eigentlich kaum besser besoldet werden, als er entlohnt, hinstellen, dann würde er das höchstwahrscheinlich als dreist wahrnehmen, da er - obgleich sein Berufsstand gegenüber den Bediensteten wie gesagt offensichtlich monetär gehörig wird aufgeholt haben - den weiterhin bestehenden Unterschied zwischen seinem und den Einkünften des Bediensteten sieht.

Ergo: Wir sehen alles durch unsere Brille, weshalb wir hier - also in unseren moralischen Grundeinstellungen - keine Einigung erzielen werden. Es wird - nicht nur bei den Beamten, wobei ich hier, was das Folgende anbelangt, eher mehr als skeptisch bin - in der Arbeit der neuen Bundesregeierung maßgeblich darauf ankommen, Entwertungserfahrungen zu verringern, da nur so der gesellschaftliche Kitt wieder größer werden dürfte. Und das dürfte schwer genug werden, vermute ich.

@ lumer

Da ich in einigen besoldungsrechtlichen Verfahren, die bereits die Ebene der Verwaltungsgerichtsbarkeit verlassen haben, und in anderen, die sich dort noch befinden, recht tiefen Einblick habe, kann ich nur darstellen, was Sache ist. Aus Gründen der Effektivität wird genau das regelmäßig so vollzogen: Denn am Anfang des Verfahrens kann keine Kammer und kein Richter wissen, wohin die Sache sich entwickelt (denn wüssten sie es, könnte umgehend Recht gesprochen werden, da die Arbeit zur Entscheidung bereits weitgehend getan wäre), auch wenn jeder Kammer und jedem Richter klar ist oder zumeist bereits klar sein dürfte, wohin in etwa sie sich entwickelt. An diesem Punkt erfolgt dann die von mir dargelegte Entscheidung, die formal zulässig ist und deshalb mit dem Zweck des Effizienzgewinns so gewählt wird.

Das Vorgehen mag ggf. in einer rechtlichen Grauzone geschehen, aber ist offensichtlich nicht angreifbar; denn sonst würde es nicht recht regelmäßig vollzogen werden. Der Einzelrichter wird dann nach Rückübertragung Berichterstatter, nachdem er zuvor längere Zeit als Einzelrichter tätig gewesen ist.

A9A10A11A12A13

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7426 am: 15.04.2025 14:32 »
Ich finde durchaus, dass es einen "kleinen" Unterschied macht, ob man 413% oder 231% des jeweiligen Durchschnittseinkommens erhält..

Und der Binnenabstand ist von A5 zu A16 von 1957 413% zu 267% in 2024 geschrumpft. Also nicht evident widrig, wenn man in den vergangenen 67 Jahren nur fünf Jahre "zu schnell" einebnet.
Die Binnenabstandsnivellierung ist also erst bei dieser Ämterspannweite in 130 Jahren erreicht?

Der Binnenabstandsangleichung von A5 zu A10 war hingegen mit 35 Jahren doppelt so schnell wie "neuerdings" erlaubt? Die Binnenabstandsnivellierung ist nun immerhin verlangsamt erst bei dieser Ämterspannweite in 73 Jahren erreicht?

Was sagt "Dr. med Evi Dent" dazu? Du solltest deine Kauleiste besohlen lassen, damit du nicht auf'm Zahnfleisch gehst?

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7427 am: 15.04.2025 14:48 »
Mal schauen, was daraus nun ggf. für unser Thema wird: Der schleswig-holsteinische Haushalt ist ja so oder so schon in starkem Maße belastet, weshalb genau die Notkredite aufgenommen worden sind:

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/schleswig-holstein-haushalt-2024-war-laut-landesverfassungsgericht-verfassungswidrig-a-96ad80e2-7aa1-4a5f-87df-1168b1a485f6

lumer

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7428 am: 15.04.2025 15:38 »
Da ich in einigen besoldungsrechtlichen Verfahren, die bereits die Ebene der Verwaltungsgerichtsbarkeit verlassen haben, und in anderen, die sich dort noch befinden, recht tiefen Einblick habe, kann ich nur darstellen, was Sache ist. Aus Gründen der Effektivität wird genau das regelmäßig so vollzogen: Denn am Anfang des Verfahrens kann keine Kammer und kein Richter wissen, wohin die Sache sich entwickelt (denn wüssten sie es, könnte umgehend Recht gesprochen werden, da die Arbeit zur Entscheidung bereits weitgehend getan wäre), auch wenn jeder Kammer und jedem Richter klar ist oder zumeist bereits klar sein dürfte, wohin in etwa sie sich entwickelt. An diesem Punkt erfolgt dann die von mir dargelegte Entscheidung, die formal zulässig ist und deshalb mit dem Zweck des Effizienzgewinns so gewählt wird.

Das Vorgehen mag ggf. in einer rechtlichen Grauzone geschehen, aber ist offensichtlich nicht angreifbar; denn sonst würde es nicht recht regelmäßig vollzogen werden. Der Einzelrichter wird dann nach Rückübertragung Berichterstatter, nachdem er zuvor längere Zeit als Einzelrichter tätig gewesen ist.
M.E. ist es keine rechtliche Grauzone, sondern entspricht klar nicht der VwGO. Effizienzgründe können nicht angeführt werden, da der Berichterstatter dem Vorsitzenden weitgehend gleichgestellt ist. Es ist deshalb – im Gegenteil – ineffizient, wenn eine Streitsache, bei der schon aus dem Antrag ersichtlich ist, dass die Verfassungsmäßigkeit des Besoldungsgesetzes angezweifelt wird, zunächst auf den Einzelrichter übertragen wird. Die Kammer müsste dann der Meinung sein, dass die Sach- und Rechtslage geklärt ist und eine Vorlage an das BVerfG oder ein LVerfG nicht in Betracht kommt.
Fälle, die du begleitest, mögen das so gehandhabt haben, was es jedoch nicht richtig macht. In meinem Verfahren wurde jedenfalls nichts auf den Einzelrichter übertragen.

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7429 am: 15.04.2025 15:53 »
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/vg-karlsruhe-12k431823-besoldung-olg-richter-r2-ausreichend

Hier was aus BW: Klage auf höhere Richterbesoldung in Baden-Württemberg für die Jahre 2012 bis 2022 hat keinen Erfolg

https://www.rechtundpolitik.com/justiz/vg-karlsruhe/klage-auf-hoehere-richterbesoldung-in-baden-wuerttemberg-fuer-die-jahre-2012-bis-2022-hat-keinen-erfolg/

EU-konform Richter in Polen, das 3fache, Richter liegt Deutschlandkonform mind. 1,15? aber ganz sicher 1,79!

Unknown

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7430 am: 15.04.2025 16:33 »
Mir ist immer noch schleierhaft was passiert, wenn es beispielsweise dieses Jahr eine Vollstreckungsanordnung gegen Berlin geben sollte.
Was passiert dann genau? Grundsätzlich ist es doch mit der Auflage verbunden innerhalb einer bestimmten Frist, nehmen wir mal an, diese beträgt ein Jahr, die Besoldung verfassungskonform zugestalten. Sollte dieses innerhalb eines Jahres nicht geschehen, so kann man vor dem VG die Besoldung einklagen.
Jetzt nehmen wir mal an, Berlin bessert mal wieder nur ein wenig nach und verkauft dieses erneut als verfassungsmässig. Die nehmen ihre niedrigen Zahlen und passen es auf ihre Bedürfnisse innerhalb des vorgegeben Zeitraumes, wie in der Vergangenheit an.
Welche Auswirkung hat dann überhaupt die Vollstreckungsanordnung? Verliert diese nicht ihre Wirkung bei Ausfertigung des neuen Besoldungsgesetzes?
Wie lässt sich das "neue" Gesetz kurzfristig auf verfassungsmässig überprüfen? Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass das genauso stümperhaft zusammengeflickt wird, damit es so billig wie nur eben möglich ist.
Folglich kommt es mir so vor, dass das Katz und Maus Spiel von vorne losgeht.


Fragen über Fragen, aber diese Zusammenhänge sind für mich noch unverständlich.

Ozymandias

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7431 am: 15.04.2025 17:01 »
Bei einem stümperhaften Gesetz empfiehlt sich das Vorgehen wie in S-H:
https://www.dbb-sh.de/aktuelles/news/verfassungsbeschwerde-gegen-das-land-eingelegt/

Direkt Verfassungsbeschwerde einlegen.
Vermutlich wird die Geschichte mit dem Partnereinkommen weiter verschärft werden, da dort noch kein Riegel in Sich ist und vermutlich auch bei neuen Direktiven/der Einhegung noch nicht geben wird, da es bei den ganzen alten Verfahren noch kein Streitgegenstand war.

PolareuD

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7432 am: 15.04.2025 17:31 »
Mir ist immer noch schleierhaft was passiert, wenn es beispielsweise dieses Jahr eine Vollstreckungsanordnung gegen Berlin geben sollte.
Was passiert dann genau? Grundsätzlich ist es doch mit der Auflage verbunden innerhalb einer bestimmten Frist, nehmen wir mal an, diese beträgt ein Jahr, die Besoldung verfassungskonform zugestalten. Sollte dieses innerhalb eines Jahres nicht geschehen, so kann man vor dem VG die Besoldung einklagen.
Jetzt nehmen wir mal an, Berlin bessert mal wieder nur ein wenig nach und verkauft dieses erneut als verfassungsmässig. Die nehmen ihre niedrigen Zahlen und passen es auf ihre Bedürfnisse innerhalb des vorgegeben Zeitraumes, wie in der Vergangenheit an.
Welche Auswirkung hat dann überhaupt die Vollstreckungsanordnung? Verliert diese nicht ihre Wirkung bei Ausfertigung des neuen Besoldungsgesetzes?
Wie lässt sich das "neue" Gesetz kurzfristig auf verfassungsmässig überprüfen? Ich bin mir zu 100 Prozent sicher, dass das genauso stümperhaft zusammengeflickt wird, damit es so billig wie nur eben möglich ist.
Folglich kommt es mir so vor, dass das Katz und Maus Spiel von vorne losgeht.


Fragen über Fragen, aber diese Zusammenhänge sind für mich noch unverständlich.

https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/bundesverfassungsgericht-resilienz-vollstreckung-bundeszwang-rechtsstaat-politik


SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7434 am: 16.04.2025 06:03 »
Da ich in einigen besoldungsrechtlichen Verfahren, die bereits die Ebene der Verwaltungsgerichtsbarkeit verlassen haben, und in anderen, die sich dort noch befinden, recht tiefen Einblick habe, kann ich nur darstellen, was Sache ist. Aus Gründen der Effektivität wird genau das regelmäßig so vollzogen: Denn am Anfang des Verfahrens kann keine Kammer und kein Richter wissen, wohin die Sache sich entwickelt (denn wüssten sie es, könnte umgehend Recht gesprochen werden, da die Arbeit zur Entscheidung bereits weitgehend getan wäre), auch wenn jeder Kammer und jedem Richter klar ist oder zumeist bereits klar sein dürfte, wohin in etwa sie sich entwickelt. An diesem Punkt erfolgt dann die von mir dargelegte Entscheidung, die formal zulässig ist und deshalb mit dem Zweck des Effizienzgewinns so gewählt wird.

Das Vorgehen mag ggf. in einer rechtlichen Grauzone geschehen, aber ist offensichtlich nicht angreifbar; denn sonst würde es nicht recht regelmäßig vollzogen werden. Der Einzelrichter wird dann nach Rückübertragung Berichterstatter, nachdem er zuvor längere Zeit als Einzelrichter tätig gewesen ist.
M.E. ist es keine rechtliche Grauzone, sondern entspricht klar nicht der VwGO. Effizienzgründe können nicht angeführt werden, da der Berichterstatter dem Vorsitzenden weitgehend gleichgestellt ist. Es ist deshalb – im Gegenteil – ineffizient, wenn eine Streitsache, bei der schon aus dem Antrag ersichtlich ist, dass die Verfassungsmäßigkeit des Besoldungsgesetzes angezweifelt wird, zunächst auf den Einzelrichter übertragen wird. Die Kammer müsste dann der Meinung sein, dass die Sach- und Rechtslage geklärt ist und eine Vorlage an das BVerfG oder ein LVerfG nicht in Betracht kommt.
Fälle, die du begleitest, mögen das so gehandhabt haben, was es jedoch nicht richtig macht. In meinem Verfahren wurde jedenfalls nichts auf den Einzelrichter übertragen.

Ich kann das nicht beurteilen, weil wir uns hier in den Tiefen formellen Rechts befinden und es so ist, wie ich es regelmäßig schreibe, nämlich dass die Tiefen formellen Rechts so komplex sind, dass ich mir hier als juristischer Laie vielfach kein hinreichendes Urteil erlauben kann. Ich weiß nur das, was ich weiß:

1. Es gibt Verfahren, über die ich Kenntnis habe, in denen Kammern so verfahren.
2. Ich habe mich vor längerer Zeit damit anhand der VwGO beschäftigt, weil Kammern so verfahren, um für mich nachzuvollziehen, wieso und auf welcher Grundlage sie so verfahren.
3. Ich habe darüber auch schon mindestens einmal länger irgendwo geschrieben, entweder hier im Forum oder in einer Korrespondenz oder in einem anderen Zusammenhang, ohne dass ich mich noch erinnerte, wo das der Fall war.
4. Ich habe auch ansonsten diesbezüglich weitgehend alles vergessen, weil ich in der Beschäftigung zu dem Schluss gekommen bin, dass das eine gerichtsinterne Angelegenheit ist, die für meine Beschäftigung mit dem Thema keine Relevanz hat. Womit sich der Mensch nicht regelmäßig beschäftigt, vergisst er; da ich nicht jünger werde, gehe ich davon aus, dass das auch bei mir der Fall ist, und zwar höchstwahrscheinlich mittlerweile stärker, als mir das bewusst ist und lieb wäre, wenn es mir hinreichend bewusst wäre.
5. Am Ende sieht sich das Gericht veranlasst - wenn es das bundesverfassungsgerichtliche Pflichtenheft abarbeiten will; will es das nicht, wird es das ggf. nicht tun (diese Fälle habe ich noch nicht selbst erlebt, interessant dürfte es sein, wie sich die Gerichtsakte im aktuellen Fall des VG Karlsruhe darstellt, insbesondere also, wie umfangreich sie ist) -, eine Vielzahl an Daten diverser Behörden einzuholen und das beinhaltet ein stetiges Klinkenputzen vonseiten des Gerichts, da es nicht in allen Fällen offene Türen einrennt und i.d.R. nicht schon nach ein paar Tagen eine Antwort mitsamt der notwendigen Unterlagen erhält.
6. Dieses stetige Klinkenputzen ist zumeist mit einem gehörigen Zeit- und Kraftaufwand verbunden, der besoldungsrechtliche Klageverfahren aus der Sicht einer Kammer sicherlich nicht unendlich attraktiv machen dürfte und der sich ggf. nicht immer an der schriftlichen Entscheidungsbegründung ablesen lässt, sich aber in der Gerichtsakte dokumentiert findet.

Der langen Rede kurzer Sinn (vor allem wegen dieser Quintessen schreibe ich diese Zeilen): Ich halte es für wahrscheinlich, dass sich jenes Klinkenputzen in dem Verfahren vor dem VG Karlsruhe - d.h. in der Gerichtsakte - nicht wiederfindet, da die Kammer auf entsprechende Unterlagen nach dem von mir bislang nur überblicksmäßigen Lesen der Entscheidungsbegründung nicht zurückgreift, was Kammern hingegen ansonsten regelmäßig tun, wenn sie entsprechend Klinken geputzt haben, denn dann dokumentieren sie wiederkehrend (wenn auch nicht ausnahmslos und immer) ihr Handeln auch in der Entscheidungsbegründung.

Damit kann man aus Klägersicht ggf. Anhaltspunkte bilden, wo die Prüfung hätte vertieft stattfinden können, wo also ggf. indirekte Mängel von der Kammer in der Klagebegründung gerügt werden, sodass sich hier in der Berufung mit genau jenen Mängeln beschäftigt werden sollte, also bspw. (und damit wären wir wieder beim Grundsatz, dass es klägerseitig zu begründen, zu begründen, zu begründen gelte, um das Gericht so in der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand in die gewünschte Richtung zu lenken; zugleich gebe ich damit Hinweise für weitere Kläger in anderen Verfahren, die hier mitlesen):

- Rn. 34: Der erste Parameter der ersten Stufe des "Pflichtenhefts" ist vom Gericht nicht noch einmal selbst geprüft worden, entsprechend weist die Kammer darauf hin, dass den Berechnungen des Gesetzgebers, die in der Gesetzesbegründung vorgenommen worden und die sich auf die Entwicklung der Besoldung und der Tarifergebnisse im öffentlichen Dienst beziehen, gefolgt wird, da diese klägerseitig im Verfahren unwidersprochen geblieben sind.
- Ab der Rn. 35 dürften klägerseitig auch hier keine eigenen Berechnungen durchgeführt worden seien, was sicherlich wie auch bezogen auf meine weiteren Anmerkungen nicht dem Kläger, sondern dem Prozessvertreter angekreidet werden muss und was es in der Berufung sicherlich dringend zu präzisieren gilt, nicht zuletzt sicherlich auch mittels sachgerechter "Spitzausrechnungen" (ich habe mir den Fall noch nicht hinreichend angeschaut, insofern ist das, was ich hier schreibe, zunächst einmal nur eine Vermutung): also ebenso hinsichtlich des Nominallohn- und Verbraucherpreisindex in der Betrachtung des zweiten und dritten Parameters. Auch hier folgt die Kammer der Gesetzesbegründung, da sie klägerseitig nicht in Zweifel gezogen worden ist, vgl. die Rn. 37 und 40, wo jeweils erneut - so würde ich das lesen - bemängelt wird, dass sie klägerseitig im Verlauf des Verfahrens unwidersprochen geblieben sind.
- In der Rn. 48 wird eine nicht hinreichende Bemessungsmethodik klägerseitig bemängelt.
- Sofern nun in der Betrachtung der ersten drei Parameter eine deutlichere Indizierung der Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation gegeben sein dürfte (wovon im Zuge einer sachgerechten "Spitzausrechnung" auszugehen sein dürfte), könnte auch den Bemessungen aus der Rn. 53 ein größeres Gewicht beigemessen werden können, um so zu begründen, dass die zweifellos gegebene Einschmelzung von Abständen im Kontext der weiteren Parameter ggf. doch ebenfalls Relevanz haben, jedenfalls dann ggf. nicht unberücksichtigt bleiben könnte, wobei in der Rn. 56 ein weiteres Mal ein deutlicher Mangel in der Argumentation des Prozessvertreters gerügt wird.
- Hinsichtlich des Mindestabstandsgebot wird bereits einleitend mehr oder minder deutlich hervorgehoben, dass klägerseitig keine eigene Erschütterung des Gesetzesbegründung vorgenommen worden ist (Rn. 60).
- Zu den Wohnkosten ab der Rn. 63 habe ich bereits geschrieben.
- In der Rn. 67 kommt die Kammer hinsichtlich der Kosten für die Bedarfe für Bildung und Teilhabe auf das "Evidenzerlebnis" zurück und sieht keine evident unangemessene Kostenaufstellung, was in Anbetracht des vom baden-württembergischen Gesetzgebers herangezogenen geringen Betrags in Höhe von 110,84 € bezweifelt werden kann. Auch hier wird in den weiteren Randnummern - die Kammer referiert nur Faktoren aus der Gesetzesbegründung und folgt ihr also - deutlich, dass die Kammer keine Klinken geputzt hat und also nicht den mit zweifllos zumeist hohen Aufwand verbundenen Weg gegangen ist, selbst ggf. andere Beträge mittels Abfragen zu ermitteln. Entsprechend wird ab der Rn. 67 wiederkehrend darauf verwiesen, dass keine evident sachwidrigen Vorgehensweisen der Gesetzesbegründung zu entnehmen sind, wobei hier nun deutliche - und berechtigte! - Kritik an der Gesetzesbegründung formuliert wird: "Diesen [bundesverfassungsgerichtlichen; ST.] Anforderungen genügen die Darstellungen zu den Aufwendungen für Schulausflüge und Klassenfahrten in der Gesetzesbegründung gerade noch." (Rn. 74)
- Ab der Rn. 80 vollzieht sich das gerade dargelegte Vorgehen ebenso hinsichtlich der "Sozialtarife", auch hier kommt die Kammer zu keinem "Evidenzerlebnis", wobei hier hinsichtlich der von erheblicher praktischer Bedeutung seienden Kinderbetreuungskosten ggf. eine Betrachtung des Faktors Zeit in der Betreuung eine Rolle spielen könnte, dazu müsste sich aber sicherlich noch einmal die Gesetzesbegründung tiefer angeschaut werden. Denn ggf. geht der Gesetzgeber hier von kürzeren Betreuungszeiten aus - zugleich dürfte es interessant werden, ob Karlsruhe sich in den angekündigten Entscheidungen mit diesem komplexen Feld nun  umfangreicher auseinandersetzen wird.
- Ebenso dürfte sich die Betrachtung der Bemessung der Nettoalimentation ab der Rn. 85 ggf. hinterfragen lassen, so bspw. dahingehend, dass der ab dem 01.12.2022 in die Besoldungsgruppe A 7 eingruppierte Musterbeamte bis dahin niedriger eingruppiert und entsprechend besoldet worden ist, was sich begründet in die Bemessung der niedrigsten Besoldung im Jahr 2022 so betrachten lässt. Dabei dürfte es m.E. hier unerheblich sein, ob die Ämterneubewertung sachgerecht oder nicht sachgerecht erfolgt. Die Frage muss sein, ob im Gesamtjahr 2022 dem in der niedrigsten Erfahrungsstufe der untersten Besoldungsgruppe eingruppierten Musterbeamten eine Nettoalimentation gewährt worden ist, die 15 % oberhalb des realitätsgerecht ermittelten Grundsicherungsniveaus gelegen hat. Dazu können in der Ermittlung nur Besoldungsbestandteile herangezogen werden, die dem Musterbeamten auch tatsächlich gewährt worden sind, da es um sein Gehalt als Ganzes geht. Das aber gilt es zu hinterfragen und also die tatsächlich gewährte Nettoalimentation hier als evident unzureichend nachzuweisen, um daraus Indizien auch für höhere Besoldungsgruppen abzuleiten. Die Zusammenfassung der Rn. 95 ist dabei gänzlich unerheblich.
- Ebenso zeigt die Rn. 96, dass die Kammer keine eigenen Daten vom PKV-Verband abgefragt hat; auch hier kann die Argumentation - denke ich - erschüttert werden, da offensichtlich ein nicht geringer Fehlbetrag durch die Methodik, die der Gesetzgeber verwendet hat, und der, die das Bundesverfassungsgericht darstellt, gegeben ist.
- Entsprechend sollte sich auf Grundlage dessen, was ich hier und in der Vergangenheit bereits dargelegt habe, zeigen lassen, dass die Rn. 98 zu keinem hinreichenden Schluss kommt. Im Anschluss wären dann bspw. Äquivalenzberechnungen durchzuführen, um zu indizieren, bis wohin die Besoldungssystematik der Besoldungsordnung A vor dem 01.12.2022 nicht konsistent war, sodass daraus Ableitungen auch für die höheren Besoldungsgruppen vollzogen werden können.
- Entsprechend muss dann das Oberverwaltungsgericht dazu veranlasst werden, sich im Zuge des Untersuchungsgrundsatzes tiefgehender mit der zweiten Prüfungsstufe zu beschäftigen (vgl. für die Kammer ab der Rn. 102), wozu es sich veranlasst sehen muss, sobald auf der ersten Prüfungsstufe hinreichende Indizien für die Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation gebildet worden sind. Nicht umsonst hat die Verwaltungsgerichtsbarkeit - jedenfalls mindestens, wenn eine Vorlage gefasst werden soll - immer einer Gesamtabwägung durchzuführen.
- Ob es dann noch notwendig wäre, sich mit dem Prozeduralisierungsgebot als zweite Säule des Alimentationsprinzips auseinanderzusetzen, sollte sich zeigen; ggf. auch nach den angekündigten Entscheidungen aus Karlsruhe. Darüber hinaus habe ich die weiteren unionsrechtlichen Ausführung nur überflogen, was der Uhrzeit des heutigen Lesens geschuldet ist.

Damit liegen m.E. Mängel auf dem Tisch, sodass weitere Kläger für sich betrachten können, wie es um ihre Klagebegründung bestellt ist. Ich gehe insbesondere davon aus, dass neben der Betrachtung des Mindestabstandsgebots vor allem den ersten drei Parametern eine überbordene Rolle in der Indizierung der Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation zukommt.

emdy

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7435 am: 16.04.2025 07:57 »
Damit liegen m.E. Mängel auf dem Tisch, sodass weitere Kläger für sich betrachten können, wie es um ihre Klagebegründung bestellt ist. Ich gehe insbesondere davon aus, dass neben der Betrachtung des Mindestabstandsgebots vor allem den ersten drei Parametern eine überbordene Rolle in der Indizierung der Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation zukommt.

Danke für die Aufbereitung, der Fall wird durch das Agieren des baden-württembergischen Besoldungsgesetzgebers ja nicht unbedingt überschaubarer. Ich muss das Verfahren selbst erst noch vollständig betrachten.

Unabhängig von Auffassungen des jeweiligen VG und etwaiger Schwächen der durch den Kläger vorgebrachten Berechnungen möchte ich folgendes Sachargument betonen - nicht zuletzt, weil sich das Bundesverfassungsgericht m.E. nie zu einer abgestuften Wertigkeit oder Wichtigkeit der einzelnen Parameter der ersten Prüfungsstufe geäußert hat: Die Alimentation soll die Amtsausführung aus gesicherter wirtschaftlicher und finanzieller Lage ermöglichen, sie soll einen amtsangemessenen Lebensstandard sichern. Hierzu haben aber die Prüfparameter 1, 2 und 5 in unserer gegenwärtigen "cost-of-living und Verfassungskrise" nur sehr begrenzte Aussagekraft. Es sind zwar leicht Fälle denkbar, in denen diesen Parametern mehr Bedeutung zukommt (etwa wenn über Jahre überhaupt keine Übertragung der Tarifergebnisse mehr geschieht - Parameter 1), aber bezogen auf die Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Lebenshaltungskosten und der Entlohnung von Arbeit in Deutschland, sind die Parameter 1, 2 und 5 eben alle von gleicher überschaubarer Aussagekraft. 

Was ggf. etwas Hoffnung macht: Wir müssen wohl (trotz des faden Beigeschmacks) davon ausgehen, dass Richter Klageschriften zur R-Besoldung besonders kritisch betrachten um sich nicht angreifbar zu machen. Im Ursprungsverfahren zum Beschluss 2 BvL 4/18 sind die Kläger ja auch durch die Instanzen geschickt worden.
« Last Edit: 16.04.2025 08:06 von emdy »

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7436 am: 16.04.2025 10:32 »
Damit liegen m.E. Mängel auf dem Tisch, sodass weitere Kläger für sich betrachten können, wie es um ihre Klagebegründung bestellt ist. Ich gehe insbesondere davon aus, dass neben der Betrachtung des Mindestabstandsgebots vor allem den ersten drei Parametern eine überbordene Rolle in der Indizierung der Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentation zukommt.

Danke für die Aufbereitung, der Fall wird durch das Agieren des baden-württembergischen Besoldungsgesetzgebers ja nicht unbedingt überschaubarer. Ich muss das Verfahren selbst erst noch vollständig betrachten.

Unabhängig von Auffassungen des jeweiligen VG und etwaiger Schwächen der durch den Kläger vorgebrachten Berechnungen möchte ich folgendes Sachargument betonen - nicht zuletzt, weil sich das Bundesverfassungsgericht m.E. nie zu einer abgestuften Wertigkeit oder Wichtigkeit der einzelnen Parameter der ersten Prüfungsstufe geäußert hat: Die Alimentation soll die Amtsausführung aus gesicherter wirtschaftlicher und finanzieller Lage ermöglichen, sie soll einen amtsangemessenen Lebensstandard sichern. Hierzu haben aber die Prüfparameter 1, 2 und 5 in unserer gegenwärtigen "cost-of-living und Verfassungskrise" nur sehr begrenzte Aussagekraft. Es sind zwar leicht Fälle denkbar, in denen diesen Parametern mehr Bedeutung zukommt (etwa wenn über Jahre überhaupt keine Übertragung der Tarifergebnisse mehr geschieht - Parameter 1), aber bezogen auf die Diskrepanz zwischen der Entwicklung der Lebenshaltungskosten und der Entlohnung von Arbeit in Deutschland, sind die Parameter 1, 2 und 5 eben alle von gleicher überschaubarer Aussagekraft. 

Was ggf. etwas Hoffnung macht: Wir müssen wohl (trotz des faden Beigeschmacks) davon ausgehen, dass Richter Klageschriften zur R-Besoldung besonders kritisch betrachten um sich nicht angreifbar zu machen. Im Ursprungsverfahren zum Beschluss 2 BvL 4/18 sind die Kläger ja auch durch die Instanzen geschickt worden.

Der zentrale hinführende Satz für die Parameter der ersten Prüfungsstufe findet sich - er ist Teil ständiger Rechtsprechung - in der aktuellen Entscheidung (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/05/ls20200504_2bvl000418.html) in der Rn. 23; ich hebe die für die ersten fünf Parameter zentrale Aussage hervor:

"Das Alimentationsprinzip wird von verschiedenen Determinanten geprägt. Es verpflichtet den Dienstherrn, Richter und Staatsanwälte sowie ihre Familien lebenslang angemessen zu alimentieren und ihnen nach ihrem Dienstrang, nach der mit ihrem Amt verbundenen Verantwortung und nach der Bedeutung der rechtsprechenden Gewalt und des Berufsbeamtentums für die Allgemeinheit entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards einen angemessenen Lebensunterhalt zu gewähren. Damit wird der Bezug der Besoldung sowohl zu der Einkommens- und Ausgabensituation der Gesamtbevölkerung als auch zur Lage der Staatsfinanzen, das heißt zu der sich in der Situation der öffentlichen Haushalte ausdrückenden Leistungsfähigkeit des Dienstherrn, hergestellt (vgl. BVerfGE 8, 1 <14>; 107, 218 <238>; 117, 330 <351>; 119, 247 <269>; 130, 263 <292>; 139, 64 <111 f. Rn. 93>; 140, 240 <278 Rn. 72>; 149, 382 <391 f. Rn. 16>; 150, 169 <180 Rn. 28>)."

Die ersten fünf Parameter dienen also zunächst einmal dazu, eine Vermutung anhand von Indizien (die Parameter bilden die Indizien) zu bilden, ob dem klagende Beamte entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards einen angemessenen Lebensunterhalt gewährt wird (vgl. insbesondere die Rn. 29 f.). Dabei kommt insbesondere der Vergleichsgröße der Tarifentwicklung im öffentlichen Dienst (erster Parameter) dem Maßstab eines ein gewichtigen Indizes zu; er wird entsprechend, da hier das regelmäßige Dienstverhältnis mit einem weiteren maßgeblichen Beschäftigungsverhältnis verglichen wird, wenn jenes letztere auch etwas qualitativ anderes ist (vgl. Rn. 35). Die beiden weiteren der drei ersten Parameter haben darüber hinaus ebenfalls eine wichtige Steuerungsfunktion hinsichtlich der Prüfungsrichtung und -tiefe (wie sie alle fünf Parameter der ersten Prüfungsstufe haben).

Zwar ist seit der aktuellen Rechtsprechung die von Anfang an fragwürdige, weil vom Bundesverfassungsgericht nicht explizierte "Drei-Parameter-Regel" vom Tisch - bis 2020 haben die allermeisten Verwaltungsgerichte Klagen nicht weiter über die erste Prüfungsstufe hinaus betrachtet, sofern nicht mindestens drei Parameter der ersten Prüfungsstufe eindeutig die Vermutung der Verletzung einer verfassungswidrigen Unteralimentation indiziert haben; u.a. das OVG Lüneburg und dann insbesondere das Bundesverwaltungsgericht haben einiges vor 2020 dafür getan, diese zu starre Sicht auf die Dinge zu hinterfragen -; dennoch kommt den fünf Parametern und damit insbesondere den drei ersten eine überbordende Bedeutung für den weiteren Gang der gerichtlichen Prüfung zu (denn der fünfte Parameter kann de facto kaum verletzt sein, da ja die Besoldung de facto wohl in mindestens zwölf Rechtskreisen mindestens zwischenzeitlich als verletzt zu betrachten ist - er hat heute letztlich keinen indizellen Wert mehr, auch wenn das so nicht in einer Klageschrift formuliert werden sollte), wie auch die Entscheidung des VG Karlsruhe zeigt.

Denn da es davon ausgeht, dass kein Parameter der ersten Prüfungsstufe die Vermutung der Verletzung des Alimentationsprinzips indiziert, betritt es faktisch die zweite Prüfungsstufe gar nicht erst oder genauer: es betritt sie in nur minimaler Form. Es geht weitgehend unausgesprochen davon aus, dass es ohne die Verletzung mindestens eines Parameters der ersten Prüfungsstufe bereits zu wenig Indizienlast geben kann, die dafür sprechen könnte, dass dem Kläger nicht entsprechend der Entwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des allgemeinen Lebensstandards einen angemessenen Lebensunterhalt gewährt worden wäre. Da also alle fünf Parameter der ersten Prüfungsstufe nach Ansicht des VG Karlsruhe keine Vermutung einer verfassungswidrigen Unteralimentartion indizieren, kann die zweite Prüfungsstufe - sie dient der Erhärtung oder Widerlegung der Vermutung - weiterhin nach Ansicht des VG Karlsruhe die nicht vorhandene Vermutung nicht erhärten, also ist die Klage nach Auffassung der Kammer unbegründet.

Der zentrale Grundsatz, dem die Kammer folgt, findet sich in der aktuellen Entscheidung des Bundesverfassungsgericht in der Rn. 85; Hervorhebungen weiterhin durch ST.:

"Dafür sind zunächst die Feststellungen der ersten Prüfungsstufe, insbesondere das Ausmaß der Über- oder Unterschreitung der Schwellenwerte, im Wege einer Gesamtbetrachtung zu würdigen und etwaige Verzerrungen – insbesondere durch genauere Berechnungen (vgl. oben C. I. 2. a), Rn. 30 ff.) – zu kompensieren. Den fünf Parametern der ersten Prüfungsstufe kommt für die Gesamtabwägung eine Steuerungsfunktion hinsichtlich der Prüfungsrichtung und -tiefe zu: Sind mindestens drei Parameter der ersten Prüfungsstufe erfüllt, besteht die Vermutung einer der angemessenen Beteiligung an der allgemeinen Entwicklung der wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse und des Lebensstandards nicht genügenden und damit verfassungswidrigen Unteralimentation. Diese kann im Rahmen der Gesamtabwägung sowohl widerlegt als auch erhärtet werden (vgl. BVerfGE 139, 64 <120 f. Rn. 116>; 140, 240 <289 Rn. 99>). Werden umgekehrt bei allen Parametern die Schwellenwerte unterschritten, wird eine angemessene Alimentation vermutet. Sind ein oder zwei Parameter erfüllt, müssen die Ergebnisse der ersten Stufe, insbesondere das Maß der Über- beziehungsweise Unterschreitung der Parameter, zusammen mit den auf der zweiten Stufe ausgewerteten alimentationsrelevanten Kriterien im Rahmen der Gesamtabwägung eingehend gewürdigt werden. "

Wer klagt, sollte alles dafür tun - sofern sich für seine Besoldung nicht die unmittelbare Verletzung des Mindestabstandsgebot zeigen lässt -, insbesondere die ersten drei Parameter hinreichend umfassend in den Blick zu nehmen. Denn ansonsten droht ihm, was jetzt das VG Karlsruhe und vor 2020 die allermeisten Verwaltungsgerichte entschieden haben, nämlich dass mangels hinreichender Vermutung auf der ersten Prüfungsstufe die zweite letztlich kaum mehr zum Ergebnis einer evident verfassungswidrigen Unteralimentation führen kann. Das VG Karlsruhe betritt nun - als Folge der aktuellen Rechtsprechung - diese zweite Prüfungsstufe noch, allerdings nur noch mit einem Hauch des kleines Zehs - vor 2020 haben bei der beschriebenen Sachlage die meisten Verwaltungsgerichts formuliert, dass, da sich keine drei Parameter verletzt zeigten, die zweite Prüfungsstufe nicht betreten werden könne/müsse/solle/dürfe. Das VG Karlsruhe stellt sich unausgesprochen genau in diese Tradition, weil es sich hinsichtlich des Untersuchungsgrundsatzes auf den Standpunkt stellt, die Prüfung der von beiden Seiten vorgebrachten Argumente würde ausreichen, um zu einer sachgerechten Entscheidung zu gelangen, was formal nicht zurückgewiesen werden kann.

Auch deshalb ist zu begründen, zu begründen, zu begründen.

Bastel

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7437 am: 16.04.2025 14:23 »
"Auch deshalb ist zu begründen, zu begründen, zu begründen."

Jeder weis das die Alimentation nicht passt. Aber wenn der Kläger nur einen kleinen formalen Fehler macht, ist alles für die Katz... Das ist Deutschland.

HansGeorg

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7438 am: 16.04.2025 17:16 »
Leider hinter Paywall: https://www.kn-online.de/schleswig-holstein/reaktionen-notkredite-verfassungswidrig-in-der-cdu-spricht-man-erstmals-von-demut-X5N5MI57LZCEJDN45E6IDPRTWI.html?utm_medium=Social&utm_source=Facebook&fbclid=IwY2xjawJsqA9leHRuA2FlbQIxMQABHm5VvIIVLIyAW-3Eu0YLlsJ_MuU6vvAmrR3T-9JxNomlAOY6ijGKE2BsZIo7_aem_pcNomtUK5opTqL8FtDR44A#Echobox=1744730009

Einige Aussagen lassen einen aber in Bezug auf unser Thema schmunzeln.

„Für ihre Überheblichkeit haben Landtag und Landesregierung jetzt die berechtigte Quittung erhalten“, sagt Aloys Altmann, Präsident beim Steuerzahlerbund. „Der politische Wille einer großen Mehrheit allein kann die Verfassung nicht aushebeln.“

Midyatli (SPD (Vorgängerregierung)) sagt „Alle Bürgerinnen und Bürger haben sich an Recht und Gesetz zu halten“, sagt sie an diesem Dienstag. „Das hat die Günther-Regierung nicht getan.“

"Praktische Auswirkungen auf den abgeschlossenen Haushalt sehe man allerdings nicht."

Also alles in allem, Verfassung gebrochen, aber egal, hat ja Geld gespart.

SwenTanortsch

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Antw:[Allg] Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (2 BvL 4/18)
« Antwort #7439 am: 16.04.2025 17:25 »
"Auch deshalb ist zu begründen, zu begründen, zu begründen."

Jeder weis das die Alimentation nicht passt. Aber wenn der Kläger nur einen kleinen formalen Fehler macht, ist alles für die Katz... Das ist Deutschland.

Das, was ich jetzt schreibe, wirst Du und werden auch viele anderen eventuell nicht gerne hören, Bastel; aber es ist zum Glück genauso, da unsere Verfassung, wie sie das Bundesverfassungsgericht in den letzten über 70 Jahren ausgelegt hat, den weiten Entscheidungsspielraum, über den der Gesetzgeber (und damit auch der Besoldungsgesetzgeber) verfügt, als tatsächlich weit begreift. Deshalb kann eine gesetzliche Regelung vom Bundesverfassungsgericht nur dann als verfassungswidrig betrachtet werden, wenn sie evident - also eindeutig - sachwidrig ist.

Und wieso soll das jetzt richtig und gut so sein?

Richtig ist es, weil ansonsten das Bundesverfassungsgericht entweder fast zwangsläufig zu einem Kampfplatz der Politik werden müsste: Denn wenn nicht Evidenz das Richtmaß wäre, sondern Gusto, dann würde der wiederholt gemachte Vorwurf, Verfassungsrechtsprechung sei nichts anderes als verkappte Politik, die mit juristischen Argumenten kaschiert werde, sachlich deutlich mehr Nahrung erhalten; oder aber das Bundesverfassungsgericht müsste alsbald als Verfassungsorgan von der Bildfläche getilgt werden, da ihm ggf. eine Macht zukäme, die ihm verfassungsrechtlich nicht zustehen kann.

Das Beispiel USA zeigt schlagend, wie gefährlich - und damit nicht gut - eine Politisierung der Verfassungsrechtsprechung ist, deren zentrale juristische Wurzel (die der möglichen und fast zwangsläufigen Politisierung) die Methode des Originalismus ist, also der Anspruch, die Verfassung so auszulegen, wie sie von einem Verfassungsvater heute ausgelegt werden würde, bzw. wie der Wortlaut des Verfassungstext heute auf Basis seiner Entstehungszeit zu interpetieren wäre. Von dieser genügend ideologische Einfallstore bietenden Methode setzt sich das Bundesverfassungsgericht gezielt ab und respektiert darüber hinaus den weiten Entscheidungsspielraum, über den der Gesetzgeber und also auch der Besoldungsgesetzgeber verfügt. Genau deshalb auch das "Pflichtenheft", durch das die besoldungsrechtliche Verfassungsrechtsprechung rationalisiert werden soll und das entsprechend den Kläger wie den Beklagten und nicht zuletzt auch die Verwaltungsgerichtsbarkeit selbst - spätestens, sobald es um die Begründung einer Richtervorlage geht, also um Verfassungsrecht - in die Pflicht nimmt.