Eine Frage, welche ebenfalls im weitesten unter Kritik am BVerfG verortet werden kann: Inwiefern unterliegt das BVerfG einem wie auch immer gearteten Zeitgeist?
Ich kann mir beispielsweise gut vorstellen, dass auch der unparteiischste Richter irgendwann mal von den Schreien der klammen Kassen hypnotisiert werden könnte.
@Swen
Ich quote mich jetzt mal selbst. Kannst du hierzu bitte mal Stellung nehmen. Auch wenn es nur theoretischer Natur ist, wie wahrscheinlich ist es, dass ein Gefälligkeitsurteil gefällt werden könnte (vgl. damals Homosexualität oder Corona-Urteile)?
@Thread
Ich bin hundertprozentig kein Zweitaccount von Swen. Admin möge das gerne abgleichen, falls nötig.
Zunächst Danke für eure Worte, Kolleginnen und Kollegen, und auch für Deine Hustler - zugleich ist Deine Frage wichtig, wenn auch eine Antwort auf sie komplex ist. Dabei liegt es zunächst einmal auf der Hand, dass die Richterinnen und Richter auch am Bundesverfassungsgericht zunächst einmal Menschen sind und damit nicht im luftleeren Raum handeln, sondern von der zeithistorischen Entwicklung geprägt sind und sich ihr also ebenfalls nicht entziehen können. Betrachtet man bspw. die Entscheidungen des Zweiten Senats ab der zweiten Hälfte der 1990er bis in die zweite Hälfte der 2000er Jahre, dann stellt man fest, dass sich die Entscheidungen nicht zuletzt zum Alimentationsprinzips und damit also insbesondere deren Begründungen streckenweise wohl wirtschaftliberaler lesen, als das dann seitdem vollzogen worden ist - auch noch in der Entscheidung vom 12. Februar 2012 über das hessische Gesetz zur Reform der Professorenbesoldung, mit der der Rechtsprechungswandel im Besoldungrecht offenbar wurde, klingt in meinen Ohren manches die vormalige Dogmatik eher aufweichend und also "reformoffener", als sich mir das ab 2015 darstellt (was zugleich auch der besonderen Thematik der Professorenbesoldung geschuldet sein kann, da hier das Leistungprinzip noch einmal eine besondere Bedeutung entfaltet, nicht umsonst ist hier vom Senat offensichtlich deutlich miteinander gerungen worden, inwieweit hinsichtlich der Professorenbesoldung das Alimentationsprinzip greifen würde oder solle; s. das Sondervotum am Ende der Entscheidung).
Allerdings sieht sich der entscheidende Senat regelmäßig in der Tradition einer nicht selten lange fortgeführten Dogmatik, aus der er nicht so einfach ausbrechen kann, da ja auch die mit Gesetzeskraft ergehenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Einheit der Rechtsordnung erfolgen müssen. Eine Erweiterung oder gar der Umsturz einer Dogmatik geht von daher zumeist behutsam vonstatten, was sich auch an der seit spätestens 1977 - mit der ersten Rechtsprechung zum alimentationsrechtlichen Mehrbedarf kinderreicher Beamtenfamilien - im Fluss befindlichen Dogmatik zum Besoldungsrecht zeigen lassen könnte. Denn auch die weiteren beiden diesbezüglichen Entscheidungen von 1990 und 1998 haben über kurz lang starken Einfluss auf die bis heute fortgeführte Dogmatik zum Besoldungsrecht ausgeübt. So wäre bspw. ein Mindestabstandsgebot ohne jene drei Entscheidungen kaum möglich gewesen. Man kann sie - etwas vergröbernd gesprochen - als eine Art wiederkehrenden Prototyp begreifen.
Dabei kommt es nicht von Ungefähr, dass die erste dieser drei Entscheidungen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre ergangen ist, da auch hier die Rechtsprechung zum Besoldungsrecht auf einen grundlegenden Wandel im Besoldungsrecht reagiert hat und sich damit auch hier gezeigt hat, dass eben die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts nicht im luftleeren Raum ergehen. Denn mit der 1971 vollzogenen Grundgesetzänderung finden wir mit dem ersten Bundesbesoldungsgesetz von 1975, das den Anspruch erhoben hat, eine bundeseinheitliche Besoldung zu regeln, grundlegende Wandlungen im Besoldungsrecht, die zugleich im Kontext der Reformvorstellungen der 1971 noch recht jungen und ab Ende der 1970er Jahre zunehmend alt aussehenden sozialliberalen Koalition zu verstehen sein sollten. Die spätestens ab 1973 zunehmend durchschlagende Wirtschaftskrise hat da gleichfalls ihr Übriges getan.
Gegen die Vorstellung von "Gefälligkeitsurteilen" spricht zugleich aber ebenfalls - unabhängig davon, dass sich auch Richter am Bundesverfassungsgericht nicht vom Zeitgeist freimachen können -, dass das Bundesverfassungsgericht im Verlauf der 1950er Jahre eindeutig mit dem klassischen Rechtspositivismus gebrochen hat und seitdem also die Verfassung als "living constitution" begreift, um so einen methodischen Dreiklang in der Auslegung der Grundgesetzes zu betreiben: Das Grundgesetz wird erstens als eine Einheit begriffen, also als Ganzes betrachtet, Grundrechte werden zweitens als juristischer Ausdruck von Werten begriffen und drittens in die gegebene soziale Wirklichkeit eingebettet. Während also das erste Moment tendenziell eher beharrend wirkt - die Einheit des Grundgesetzes kann nicht mal eben so über den Haufen geworfen werden -, das zweite Moment durch den stetig voranschreitenden gesellschaftlichen Wertewandel jeweils beharrend wie verändernd wirken kann, bewirkt die Einbettung der Grundrechte in die je gegebene soziale Wirklichkeit einen stetigen Wandel auch der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung, muss sich also der jeweilige Senat fragen, ob das, was man in der Vergangenheit und seiner jeweiligen sozialen Wirklichkeit entschieden hat, heute noch zeitgemäß ist. Die tiefe systematische Verortung von Entscheidungen in die grundlegende Vorstellung einer "living constitution" ist also offen für Neues, aber gleichzeitig auch deutlich von beharrenden Kräften getragen. Dass das während der Coronazeit ggf. nicht immer glücklich funktioniert hat - das sieht man, wenn ich das richtig sehe, mittlerweile mindestens in Teilen des Bundesverfassungsgericht selbst so -, dürfte insbesondere daran liegen, dass hier mit der Pandemie ein sozial gänzlich neues Phänomen in Erscheinung getreten ist, sodass die Beharrungskräfte einer in langer Tradition stehenden Dogmatik hier nicht gegeben waren. Zeitgeistdenken dürfte entsprechend stärkere Wirkung entfaltet haben, als das ansonsten zumeist regelmäßig der Fall war und/oder ist.
Darüber hinaus greift noch ein weiteres Momentum, das gegen "Gefälligkeiturteile" spricht und sich im personalen Moment zeigt, nämlich dass die von verschiedenen Parteien vorgeschlagenen Richter ein durchaus unterschiedliches Spektrum von Lebenseinstellungen sowie mit der Auswahl von Richtern aus Obergerichten, Rechtswissenschaftlern, ggf. auch Anwälten und regelmäßig von Juristen mit Erfahrungen als Berufspolitiker ein breites Feld unterschiedlicher (Berufs-)Praxis mitbringen. Das sollte in der Regel schon einmal in nicht geringem Maße gegen "Gefälligkeiten" immunisieren.
Zugleich ist dieses wichtige personale Moment eng mit der Art der Entscheidungsfindung verbunden, die ausnahmslos alle ehemaligen Bundesverfassungsrichter als Signum des Bundesverfassungsgerichts hervorheben und das aktuell Susanne Baer als ehemalige Richterin im Ersten Senat in ihrer aktuellen Monographie wie folgt beschreibt (S. 38 - nebenbei: Auch hier finden wir eine Ursachen von wiederkehrend langen Verfahrensdauern):
"Das Bundesverfassungsgericht ist nicht polarisiert, sondern lebt vom Konsens. Es ist die Tradition, die Arbeitskultur, die Haltung: Entscheidungen fallen möglichst mit 8:0 Stimmen. Ich hatte sicher auch Glück in meiner Amtszeit, denn da gab es kein Vertun: Im Senat wurde so lange miteinander gerungen, bis ein gemeinsamer Weg gefunden war. Das hieß manchmal auch, weiter zu beraten, wenn schon fünf von einer Lösung überzeugt waren; wir wollten alle mit ins Boot nehmen, und das war mühsam. Da sind alle manchmal entnervt, aber klar war auch, wie wichtig das ist, genauso wie der Aufwand, um alles auf den Tisch zu bringen. Auch deshalb gilt diese deutsche Variante praktischen Verfassungsrechts als wegweisend."
Ergo: Ich habe ja vor ein paar Tagen dargestellt, dass sich m.E. dem Senat im Verlauf seiner Beratung und zuvor dem Berichterstatter in der Erarbeitung des Votums einige komplexe methodische wie auch - damit verbunden - aus den tatsächlichen Verhältnissen entspringende Probleme offenbart haben dürften. Auch ist nicht von der Hand zu weisen, dass insbesondere die 2015 bis 2020 von einem personell überwiegend anders (und in diesen Jahren personell weitgehend einheitlich) besetzten Senat ergangenen Entscheidungen in einer Zeit weitgehender wirtschaftlicher Prosperität und zunehmend gesundender öffentlicher Haushalte gefällt worden sind. Heute stellen sich diese tatsächlichen Verhältnisse gänzlich anders dar. Allerdings lässt sich gleichfalls beweisen, dass insbesondere die im Verlauf der 2010er Jahre zunehmend gesunder werdenden öffentlichen Haushalte zu einem nicht geringen Teil den "Sonderopfern" geschuldet waren, die den Beamten im Rahmen der bislang entwickelten bundesverfassungsgerichtlichen Besoldungsdogmatik weitgehend regelmäßig abverlangt worden sind. Die über 70 Richtervorlagen aus 13 Bundesländern, die überwiegend Zeiträume der 2010er Jahre betrachten, sprechend auch hier eine deutliche Sprache.
Ergo: Sollte sich die neuere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht als zahnloser Tiger entpuppen, dann wird das Alimentationsprinzip nun zubeißen müssen. Wird das nun nicht geschehen, dürfte der öffentliche Dienst, der schon seit spätestens 2006 im starken Maß abgewickelt worden ist, alsbald entgültig beiseitegeräumt werden. Wenn man sieht, welch gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformstau wir vor uns finden, wird jeder, der die staatliche Gestaltungsfähigkeit noch stärker beschädigen möchte, sich irgendwann die Frage gefallen lassen müssen, ob er oder sie da wüsste, was er täte, denke ich. Das war - so darf man die neuere Rechtsprechung zum Besoldungsrecht interpretieren - bislang allen Senatsmitgliedern hinlänglich klar.