Der Richterbund ist der Richterbund und verfügt sicherlich über deutlich mehr juristische Expertise als jeder von uns – und dennoch halte ich die von ihm angestellte Argumentation, insbesondere was die Bemessung der Unterkunftskosten anbelangt, für sachlich fragwürdig.
Die Mietstufen des Wohngeldgesetzes als Grundlage zur Bemessung der Unterkunftskosten zu Grunde zu legen, hat aktuell das Niedersächsische OVG wieder eingebracht, und zwar sowohl in seinem Vorlagebeschluss zum Jahr 2013, über den das BVerfG in Zukunft entscheiden muss (Beschluss vom 25.04.2017 – 5 LC 75/17 –, Rn. 250-254), als auch in seinen weiteren Beschlüssen (vgl. beispielsweise Beschluss vom 25.04.2017 – 5 LC 229/15 –, Rn. 285-290). Das BVerwG hat sich in der Revision mit jener Argumentation beschäftigt und die Ansichten des Niedersächsischen OVG grundsätzlich geteilt, sie jedoch insbesondere, was die Höhe der Mietstufe anbelangt, inhaltlich zurückgewiesen, da deren Anwendung der Mietstufen seiner Meinung nach nicht sachgerecht vollzogen worden war (Beschluss vom 30.10.2018 - 2 C 32.17 -, Rn. 104-109). Es hat damit auf seine Argumentation zurückgegriffen, die es im Revisionsverfahren zur Berliner Besoldung entwickelt hat (Beschluss vom 22.09.2017 – 2 C 56.16 u.a. –, Rn. 166-169).
Das BVerfG hat die Mietstufen inklusive eines 10 %igen Sicherheitszuschlag im letzten Jahr dann nur als als sinnvoll qualifiziert, um mittels ihrer die Familienzuschläge kinderreicher Familien zu bemessen (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 6/17 –, Rn. 50-53), um zugleich recht deutlich durchscheinen zu lassen, dass dieses Verfahren nicht hinreichend sein dürfte, um die Bemessung der Mindestalimentation vorzunehmen, die anhand jeweils einer vierköpfigen Familie erfolgt. In diesem Sinne hebt es hervor:
„Die von der Bundesagentur für Arbeit im Verfahren 2 BvL 4/18 vorgelegte statistische Auswertung ermöglicht eine realitätsgerechte Erfassung der absoluten Höhe der grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft für eine Familie (vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 4. Mai 2020 - 2 BvL 4/18 -, Rn. 59). Im vorliegenden Verfahren geht es jedoch darum, den Mehrbetrag zu ermitteln, der einer Familie mit drei Kindern im Vergleich zu einer Familie mit zwei Kindern zugestanden wird. Es kommt also auf den relativen Unterschied der Kosten der Unterkunft an. Dieser kann mit Hilfe der von der Bundesagentur vorgelegten Daten, denen eine Auflösung in 50-Euro-Schritten zugrunde liegt, nicht hinreichend genau bestimmt werden.“ (ebd., Rn. 49; Hervorhebung wie im Original)
Denn die sachliche Differenzierung zwischen der Erfassung der absoluten Höhe der grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft auf der einen Seite sowie dem entsprechenden Mehrbetrag für kinderreiche Familien auf der anderen und damit einhergehend die Differenzierung beider unterschiedlichen Bemessungsmethodiken wird deutlich formuliert. Wenn das BVerfG die Methodik zur Bestimmung des Mehrbetrags kinderreicher Familien ebenfalls als als realitätsgerecht zur Bemessung der Mindestalimenation ansehen würde, dann hätte es die Mietstufen inklusive eines 10 %igen Sicherheitszuschlags im Verfahren 2 BvL 4/18 entsprechend angewendet und also im letzten Zitat nicht auf die Rn. 59 verwiesen. Es hätte dann das 95 %-Perzentil gar nicht erst entwickeln müssen. In diesem Sinne heißt es in der Rn. 59, auf die das BVerfG gezielt hinweist:
„Die Höhe der grundsicherungsrechtlichen Kosten der Unterkunft wird realitätsgerecht erfasst, wenn die von der Bundesagentur für Arbeit länderspezifisch erhobenen und in ihrer Auskunft übermittelten Daten über die tatsächlich anerkannten Bedarfe (95 %-Perzentil) zugrunde gelegt werden. Hierbei handelt es sich um den Betrag, mit dem im jeweiligen Jahr bei rund 95 % der Partner-Bedarfsgemeinschaften mit zwei Kindern der anerkannte monatliche Bedarf für laufende Kosten der Unterkunft abgedeckt worden ist. Der Anteil der Haushalte, bei denen ein noch höherer monatlicher Bedarf für die laufenden Kosten der Unterkunft anerkannt worden ist, liegt bei unter 5 %. Auf diese Weise werden die tatsächlich als angemessen anerkannten Kosten der Unterkunft erfasst, während zugleich die statistischen Ausreißer, die auf besonderen Ausnahmefällen beruhen mögen, außer Betracht bleiben. Damit wird sichergestellt, dass die auf dieser Basis ermittelte Mindestbesoldung unabhängig vom Wohnort des Beamten ausreicht, um eine angemessene Wohnung bezahlen zu können.“ (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 4/18 -, Rn. 59; Hervorhebungen durch mich).
Das 95 %-Perzentil wird insofern als realitätsgerecht betrachtet; zugleich wird zuvor der „Wohngeldbezug“ als nicht sinnvoll gekennzeichnet, nämlich dass die Auffassung, „diese Methodik sei auch für die Bestimmung der Mindestalimentation heranzuziehen, nicht zutreffen kann, folgt schon daraus, dass sie in ihrer Stellungnahme die Beamten ausdrücklich auf den Wohngeldbezug verweist. Der Besoldungsgesetzgeber kann sich seiner aus dem Alimentationsprinzip ergebenden Verpflichtung aber nicht mit Blick auf Sozialleistungsansprüche entledigen; die angemessene Alimentation muss durch das Beamtengehalt selbst gewahrt werden“ (ebd., Rn. 56).
So verstanden hat das BVerfG deshalb im zur Bemessung der Mindestalimentation grundlegenden Verfahren gezielt das 95 %-Perzentil entwickelt, um so zu realitätsgerechten Beträgen zu gelangen (ebd., Rn. 59, 141). Hätte es die Bemessung der Unterkunftskosten anhand der Mietstufen sowie eines 10 %igen Sicherheitsaufschlag für sinnvoll, also realitätsgerecht, erachtet, dann wäre es dem BVerwG offensichtlich argumentativ gefolgt und hätte dessen entwickelte Methodik ebenfalls angewandt. Stattdessen hat es aber im Sinne seiner ständigen Rechtsprechung betont, dass auch in der Bemessung der Unterkunftskosten die unterschiedliche Qualität von Grundsicherung und Alimentation zu beachten ist: „Beim Mindestabstandsgebot handelt es sich – wie beim Abstandsgebot – um einen eigenständigen, aus dem Alimentationsprinzip abgeleiteten Grundsatz. Es besagt, dass bei der Bemessung der Besoldung der qualitative Unterschied zwischen der Grundsicherung, die als staatliche Sozialleistung den Lebensunterhalt von Arbeitsuchenden und ihren Familien sicherstellt, und dem Unterhalt, der erwerbstätigen Beamten und Richtern geschuldet ist, hinreichend deutlich werden muss“ (ebd., Rn. 47).
Als Ergebnis – also in der Wahrung des vom BVerfG direktiv betonten qualitativen Unterschieds – kommt deshalb das 95 %-Perzentil zu deutlich höheren Unterkunftskosten, die als realitätsgerecht zu beachten sind, als die Mietstufen. Denn das BVerwG hatte beispielsweise die Unterkunftskosten anhand der Mietstufen des WoGG für Berlin im Jahr 2015 auf monatlich 600,- € festgelegt; inklusive des 10 %igen Sicherheitsaufschlags hätten die zu Grunde zu legenden Unterkunftskosten also 660,- € betragen (vgl. seinen Beschluss vom 22.09.2017 – 2 C 56.16 u.a. –, Rn. 212). Das BVerfG hat allerdings letztes Jahr festgelegt, dass die Unterkunftskosten in Berlin 2015 realitätsgerecht 950 € betragen haben (BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 04. Mai 2020 – 2 BvL 4/18 -, Rn. 146; hier werden die Wohnkosten insgesamt mit 1.116,46 € bemessen, von jenen sind 166,46 € an Heizkosten abzuziehen). Die realitätsgerechte Bemessung lag so verstanden um knapp 44 % höher als eine Bemessung anhand der Mietstufen inklusive eines 10 %igen Sicherheitsaufschlags.
Insofern sollte das, was der Bund vollzieht, sachlich nicht zu rechtfertigen sein, da er explizit nicht die entsprechende Judikatur des BVerfG zu Grunde legt, sondern eine Bemessungsmethodik, die das BVerfG argumentativ als augenscheinlich sachlich unbegründet zurückgewiesen hat, weil es zu keinen realitätsgerechten Ergebnissen führt. Die Methodik, die der Richterbund nun als „tragfähig“ bezeichnet, dürfte insofern den weiten Gestaltungsspielraum, über den der Gesetzgeber bei der Festsetzung der Bezüge verfügt, sachlich überdehnen. Nicht umsonst hebt das BVerfG für von seiner Judikatur abweichende Bemessungsmethoden hervor: „Die nachfolgenden Ausführungen stellen keine für den Besoldungsgesetzgeber in jeder Einzelheit verbindliche Berechnungsgrundlage dar. Ihm stünde es insbesondere frei, die Höhe des Grundsicherungsniveaus mit Hilfe einer anderen plausiblen und realitätsgerechten Methodik zu bestimmen“ (ebd., Rn. 53; Hervorhebung durch mich).
Sofern also eine Methodik zu keinen realitätsgerechten Ergebnissen gelangt, kann sie nicht verwendet werden – und ein Bemessungsverfahren, das zu Abweichungen wie dem im vorletzten Absatz dargelegten gelangt, dürfte kaum realitätsgerecht sein, denke ich. Nicht umsonst hebt der Richterbund selbst mit Blick auf die Mietstufen hervor: „Die tatsächlichen Mietkosten können dadurch zwar nicht abgebildet werden“, womit er – denke ich – den Kern der neuen Direktiven des BVerfG verfehlt, eben das konsequente Abstellen auf realitätsgerechte und nicht – mit Ausnahme der Regelbedarfe – auf pauschalisierte Beträge im Sinne des Sozialrechts.